# taz.de -- Pikettys Buch über Kapitalismus: Dem Teufel ein Schnippchen schlagen
       
       > Die Reichen werden reicher und die anderen nicht: Thomas Piketty hat mit
       > „Capital in the Twenty-First Century“ einen Bestseller gelandet.
       
 (IMG) Bild: Thomas Piketty mit seinem „Buch des Jahrzehnts“.
       
       Wenn ein Buch ein solches Ereignis geworden ist wie „Capital in the
       Twenty-First Century“ von Thomas Piketty, dann haben Rezensionen beinahe
       etwas Unangemessenes. Dann ist die Aufnahme, die das Buch erfährt, selbst
       schon mindestens so spannend wie das Buch selbst.
       
       Als „außerordentlich wichtig“ preist es Martin Wolf, der Starkommentator
       der Financial Times, eine „intellektuelle Sensation“, ruft die New York
       Times aus, Paul Krugman spricht schon vom „Buch des Jahrzehnts“ und der
       „Piketty-Revolution“. Ein Buch, das solche hymnische Resonanz erfährt,
       bestimmt dann die Richtung mit, in die die Debatte in den kommenden Jahren
       gehen wird.
       
       Die kürzestmögliche Inhaltsangabe des Buchs lautet: Im Kapitalismus werden
       die Reichen reicher und die anderen werden es nicht. Diese Entwicklung hat
       sich in den vergangenen Jahrzehnten noch radikalisiert und wird es weiter
       tun. Es sei denn, man ändert ein paar entscheidende Dinge.
       
       Aber was ist das überhaupt für ein Buch? Ein ökonomisches Theorie-Fachbuch
       ist es nicht. Dazu liegt sein Ton viel zu sehr auf der Empirie. Es ist eine
       monumentale wirtschaftshistorische Studie über Reichtum, Einkommen, die
       Entwicklung der Ungleichheit und das Wirtschaftswachstum, die sich auf
       zentnerschwere Datensätze aus mehr als zwei Jahrhunderten stützt.
       
       ## In zwei Phasen zur Ungleichheit
       
       Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts führte der Kapitalismus in zwei Phasen
       zu einer immer ungleicheren Verteilung von Kapital und Vermögenswerten. Am
       Ende des 19. Jahrhunderts konzentrierten die obersten 10 Prozent in
       praktisch allen reichen Ländern 90 Prozent des Reichtums. Nur in der Phase
       zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit bis Ende
       der 1950er Jahre wurde diese Verteilung signifikant korrigiert, und zwar
       durch eine unsystematische Kombination von Zerstörung des Reichtums, Chaos,
       Inflation, progressiver Besteuerung und einer Lohn- und Sozialpolitik, die
       egalitär wirkte.
       
       Nach dieser Phase war der Reichtum der Top 10 auf etwas weniger als 60
       Prozent geschrumpft, die restlichen 40 Prozent besaß eine Mittelschicht.
       Immerhin war eine Mittelklasse entstanden, die auch etwas besaß. Für
       Piketty die Revolution des 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren
       beschleunigt sich der Konzentrationsprozess wieder, sodass heute praktisch
       in allen Gesellschaften des Westens die Verteilung etwa so aussieht: Die
       Top 10 besitzen rund 60 Prozent, wobei in dieser Gruppe das oberste
       reichste Prozent seinerseits die Hälfte aller Vermögen konzentriert. Den
       schrumpfenden Rest hält die Mittelklasse. Der Rest hat, wie eh und je,
       nichts.
       
       Piketty hat eine Fülle von spannenden Detaildaten, etwa über die
       Vermögensstände des allerobersten Top 0,1 Prozent, einer Gruppe der
       Superreichen, die zwar klein, aber auch nicht extrem klein ist: In einer
       Gesellschaft mit 50 Millionen Einwohner zählt sie immerhin rund 50.000
       Leute, die Einkommen aus einer Kombination von Kapitalerträgen und
       Spitzengehältern von 3 Millionen Euro oder mehr lukriert. Genug, um täglich
       einem von ihnen auf der Straße zu begegnen.
       
       Piketty unterlegt seine Empirie mit einer Theorie, einer Art Modell, das
       keine mathematische Ableitung ist, sondern eher eine Generalisierung der
       Empirie. Es verdichtet sich in einer Formel: r > g. Die Rendite aus Kapital
       ist höher als das Wachstum. Daraus ergibt sich eine Reihe von
       Folgeableitungen. Der Kapitalstock einer Gesellschaft wächst im Vergleich
       zum Nationaleinkommen stetig. Je höher das kumulierte Vermögen, desto höher
       der Anteil von Kapitaleinkommen an allen Einkommensarten. Kapitaleinkommen
       übertrumpfen Arbeitseinkommen. Anders gesagt: „Der Teufel scheißt auf den
       größten Haufen.“
       
       ## Zwingende Konzentration von Reichtum
       
       Wenn politisch nicht massiv gegengesteuert und das Wachstum auch noch
       gering ist (was in Zukunft der Fall sein wird), dann ist
       Reichtumskonzentration praktisch zwingend – eine „Gesetzmäßigkeit“ im
       Kapitalismus. Je größer die Ungleichheit einmal geworden ist, umso größer
       das Gewicht von Rentiers und Erben.
       
       All das ist grandios und mit eine Fülle an Beweisen dargelegt. Wenn man
       unbedingt ein Haar in der Suppe würde suchen wollen, könnte man kritisch
       zwei Dinge anmerken. Erstens: Ein wenig hat das die Schlagseite eines
       antiutopischen Determinismus oder, simpler gesagt, etwas Deprimierendes. Es
       kann, unter normalen Umständen, gar nicht anders sein, als dass es im
       Kapitalismus zu einer „relativen Verelendung“ der großen Mehrheit im
       Vergleich zu den Kapitalbesitzern kommt.
       
       Zweitens: Jene Phase des sozialreformerischen Gegenwirkens der 20er bis
       50er Jahre wird von Piketty wie ein Unfall der Geschichte beschrieben, der
       zufällig aufgrund von Kriegschaos eine Gegenbewegung bewirkte. Dass es eine
       bewusste, planmäßige Politik von engagierten Männern und Frauen war –
       Präsident Roosevelt, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, progressiver
       Ökonomen und vieler anderer – und nicht bloß ein „Unfall“ der Geschichte,
       kommt etwas kurz.
       
       In den vergangenen Jahrzehnten entstanden überall „politische Regimes, die
       objektiv privates Kapital begünstigen“. Durch den Wettlauf nach unten –
       Stichwort: Standortwettbewerb – wurde Kapital gegenüber Arbeitseinkommen
       sogar noch privilegiert. Pikettys Plädoyer ist, das wieder umzudrehen.
       Durch Erbschaftsteuern, global konzertierte Steuerharmonisierung, eine
       progressive globale Kapitalsteuer (global im Sinn von international
       akkordiert, aber von den Nationalstaaten bzw. der EU eingehoben), die flach
       beginnt und bei den höchsten Vermögen konfiskatorisch wirkt. Das hat dem
       Autor schon den Vorwurf eingehandelt, seine Vorschläge seien absolut
       unrealistisch.
       
       Aber natürlich könnte man das Schritt für Schritt beginnen. Etwa, indem man
       fürs Erste den „Steuerwettbewerb“ in den EU beendet, Arbeitseinkommen
       entlastet und etwa mit Erbschaftsteuern gegenfinanziert. Das ist nicht
       unmöglich, sondern hängt von der demokratischen Willensbildung ab. Selbst
       die diversen Reichenverteidigungsligen in der Politik werden nicht
       umhinkommen, Folgendes zu begreifen: Die hohen Schuldenstände der Staaten
       können anders gar nicht abgebaut werden. „Europa hat das höchste Niveau
       privater Vermögen der Welt und gleichzeitig die größten Schwierigkeiten,
       seine Krise der öffentlichen Verschuldung zu lösen – ein absurdes
       Paradoxon“, schreibt Piketty.
       
       Unmöglich? Gar nicht. Müssen nur wollen.
       
       16 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Misik
       
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