# taz.de -- Mit Interrail durch Europa: Die Freiheit, sich zu bewegen
       
       > Gibt es überhaupt Europäer in Europa? Oder gibt es nur Deutsche,
       > Franzosen, Italiener, Ungarn und Schotten? Eine Identitätssuche mit
       > Interrail-Ticket.
       
 (IMG) Bild: Ein gemeinsamer europäischer Wert, den alle zu schätzen wissen? Reisefreiheit!
       
       So sagten sie: „Engländer sehen sich selbst nicht als Europäer. Wir sagen
       immer noch, dass wir nach Europa gehen, wenn wir England verlassen.“ –
       „Ehrlich gesagt, ich habe den Zweck der Europäischen Union nie verstanden.“
       – „Ich glaube, dass es schön ist, seine eigene nationale Identität zu
       haben.“ Gehört in Großbritannien, Rumänien, Polen. Drei Länder, drei
       Meinungen zu Europa. Meinungen, die zweifeln lassen, ob die Europäer sich
       überhaupt Europa wünschen.
       
       Einen Monat lang bin ich mit der Eisenbahn durch Europa gereist, um eine
       Antwort auf diese Frage zu finden. Übernachtet habe ich in Zügen, Hostels
       und bei Couchsurfern. Menschen, die ihre Sofas kostenlos für Reisende zum
       Übernachten anbieten, weil sie neugierig auf andere Kulturen sind.
       
       Die Zahlen sprechen gegen die Europäische Union. 1979 lag die
       Wahlbeteiligung zum EU-Parlament noch bei 63 Prozent. 2009 eben noch bei 43
       Prozent. Das Interesse an Europa scheint gering. Was verbindet die Europäer
       überhaupt miteinander? Und: Gibt es so etwas wie gemeinsame europäische
       Werte?
       
       Der Londoner Couchsurfer Tom findet: „Europäer haben die Demokratie
       erfunden, wir haben eine Kultur, die zwei-, dreitausend Jahre zurückgeht.
       Wir Engländer glauben gerne, dass wir nicht wirklich zu Europa gehören.
       Aber wir ignorieren die Tatsache, dass wir Normannen sind und auch
       Wikinger. Unsere Geschichte ist schon immer mit Europa verbunden, wir sind
       im Herzen Europas.“
       
       ## Kein typischer Brite
       
       Der 34-Jährige ist allerdings kein typischer Brite. Die meiste Zeit lebt er
       nicht in London, sondern bereist mit seinem Fahrrad die Welt. Ob die
       Mehrzahl seiner Landsleute seine Meinung teilt, wird sich zeigen.
       Großbritanniens Premier David Cameron will nach seiner möglichen Wiederwahl
       2015 über den Verbleib in der EU abstimmen lassen.
       
       Doch nicht nur auf dieser Insel ist die Skepsis gegenüber der Europäischen
       Union groß. In Bukarest unterhalte ich mich mit einem anderen Couchsurfer,
       dem 26-jährigen Web-Developer Radu. Er sieht kaum Vorteile für sein Land
       durch die EU-Mitgliedschaft. Die Reisefreiheit, ja. Aber abgesehen davon?
       „In der Schule wurde uns erzählt, dass die Europäische Union so etwas wie
       ein Big Brother ist, weil sie mehr Einfluss, mehr Geld und mehr Autorität
       hat.“
       
       Die EU, glaubt er, sei ein Mittel größerer europäischer Länder, um Einfluss
       auf die kleineren Mitgliedstaaten auszuüben. Und doch habe sie keine
       funktionierenden Sanktionsmechanismen. Viele Rumänen und Bulgaren hatten
       sich von der EU-Mitgliedschaft erhofft, die Korruption in ihren Ländern
       einzudämmen. Aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, erzählt die
       31-jährige Bulgarin Mariya, die ich in einem Park in Sofia treffe: „Die EU
       bietet uns Fonds, Subventionen, Gelder, die uns helfen, aber wegen der
       Korruption können sie nicht dort ankommen, wo sie landen sollen.“
       
       Ähnlich enttäuscht von der EU ist auch Andrea, mein Couchsurfer in
       Ligurien. Der 27-jährige Ingenieurstudent bietet Quartier bei seinen
       Eltern, bei denen lebt er. Eine eigene Wohnung wäre zu teuer. Ernüchtert
       sagt er: „Italien hat keine Vorteile davon, in der EU zu sein, stattdessen
       hat es mit dem Euro und der Wirtschaftskrise viele Probleme durchlaufen.
       Positiv ist nur der Tourismus.“ Wie viele Italiener glaubt er, dass
       Deutschland inzwischen die Politik in Italien bestimme.
       
       ## „Ich würde einen europäischen Pass wählen“
       
       Und während die Deutschen sich darüber aufregen, dass sie angeblich die
       faulen Südländer retten müssen, hat man in den betroffenen Ländern nicht
       das Gefühl, Hilfe von reichen EU-Ländern zu erfahren. Im Gegenteil. In
       Barcelona treffe ich den 27-jährigen Denis, als er mit seinem Hund
       spazieren geht. „Wir werden lange warten müssen, bevor wir erleben, dass
       ein Land einem Nachbarland hilft. Das ist Europas Problem“, meint der
       Manager eines Zara-Shops.
       
       Irgendwo noch Hoffnung für das europäische Projekt? Ein Hostel in Budapest.
       Hier lerne ich die überzeugteste Europäerin kennen, die mir auf meiner
       Reise begegnen wird. Sie ist Französin, 26, und spricht Englisch mit
       britischem Akzent. „Ich bin Europäerin, bevor ich Französin bin. Wenn ich
       mich zwischen einem französischen und einem europäischen Pass entscheiden
       müsste, würde ich den europäischen wählen.“
       
       Clementine ist gerade erst aus Aserbaidschan zurückgekommen, wo sie zwei
       Jahre lang im Management eines Unternehmens für Molkereiprodukte gearbeitet
       hat. „Europäer sind weltoffene, tolerante und freundliche Leute“, meint
       sie. „Und für mich ist ein Europäer jemand, der weiß, was es bedeutet, wenn
       Länder Krieg führen.“
       
       Zwar ist Clementine, die französische Europäerin, der Meinung, dass die EU
       weitere Länder aufnehmen sollte, aber „es gibt einen Fall, mit dem ich nie
       einverstanden wäre: Das ist die Türkei.“ Europa sei ja auch ein
       geografischer Raum, findet sie: „Wir sind alle verschiedene Länder, wir
       haben verschiedene Religionen, aber wir haben etwas gemeinsam. Die
       türkische Denkweise unterscheidet sich meiner Meinung nach stark von der
       europäischen.“
       
       ## Das Misstrauen ist groß
       
       Wie europäisch sind also die Türken? Das frage ich Sedat, meinen
       Couchsurfer in Istanbul, ein paar Tage später beim Abendessen. „Wenn man an
       die Türkei als Ganzes denkt, gibt es viele Unterschiede zwischen ihr und
       europäischen Ländern, aber wenn man die großen Städte wie Istanbul, Izmir
       und Eskisehir betrachtet, gibt es kaum Differenzen.“
       
       Der 30-jährige Elektroingenieur wünscht sich, dass die Türkei Mitglied der
       EU wird – damit er sich auch auf Jobs in der Europäischen Union bewerben
       kann. Am Ende meiner Reise weiß ich: Die Bewegungsfreiheit ist das, was
       alle, denen ich auf meiner Reise begegnete, am meisten an Europa schätzen.
       Das Misstrauen gegenüber der Europäischen Union ist jedoch groß. Was die
       Politiker in Brüssel genau machen, außer Glühbirnen zu verbieten und
       Vorschriften für die Größe von Karotten zu erlassen, ist vielen ein
       Mysterium.
       
       Haben sie alle, die ich traf, eine Haltung zu diesem Thema? Sie ließe sich
       so formulieren: Man muss die EU ja nicht toll finden, um Europäer zu sein.
       Die Menschen, denen ich auf meiner Reise durch zehn Länder begegnet bin,
       leben Europa, indem sie Leute aus anderen Ländern bei sich aufnehmen, im
       Ausland studieren und Freunde in ganz Europa haben. Diese
       Selbstverständlichkeit, sich in Europa zu bewegen, ist es, die die Europäer
       von heute uneingeschränkt gut und selbstverständlich finden.
       
       25 May 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annika Waymann
       
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