# taz.de -- Langzeitfiktionen im Kino: Wenn aus Interrailern Eltern werden
       
       > In „Boyhood“ wird das Aufwachsen eines Jungen über Jahre begleitet. Der
       > Film hat viele Vorläufer. Dabei ist Altern im Hollywoodkino verpönt.
       
 (IMG) Bild: Julie Delpy und Ethan Hawke 1995 jung und verliebt in „Before Sunrise“ …
       
       Manche Filme lassen etwas wie neu erfunden erscheinen, obwohl es schon
       lange da war. Richard Linklaters „Boyhood“ ist nicht das erste Filmprojekt,
       das das reale Altern seiner Darsteller mit dem fiktiven Altern seiner
       Figuren zusammenbringt. Linklater selbst hat mit seiner „Before …“-Reihe
       schon einmal in Langzeitperspektive den Zahn der Zeit beim nagenden
       Tagewerk begleitet. Von „Before Sunrise“ (1995) über „Before Sunset“ (2004)
       bis „Before Midnight“ (2013) konnte man Julie Delpy und Ethan Hawke
       insgesamt 18 Jahre älter werden sehen.
       
       Dabei ging es nie um das wirkliche Alter der Schauspieler, sondern um das
       ihrer Figuren und vor allem ihrer Beziehung. Aus den 20-jährigen
       Interrailern wurden 30-Jährige mit ersten Knicken in der Biografie und dann
       40-Jährige, die bei allen Neurosen ganz passable, verantwortungsvolle
       Eltern abgeben.
       
       Dass in „Boyhood“ auf ähnliche Weise die Geschichte eines Aufwachsens,
       mithin ein Prozess, und eben nicht das bloße Vergehen der Zeit im
       Vordergrund steht, trägt zur Intensität bei, die den Film, der nun gerade
       in die Kinos gekommen ist, zu einem besonderen Erlebnis machen. So
       besonders, dass seit seiner Premiere auf der Berlinale eine neue
       Genre-Bezeichnung die Runde macht: die Langzeitfiktion.
       
       Der Begriff lehnt sich an den der Langzeitdokumentation an, deren wohl
       berühmtestes Beispiel genau wie „Boyhood“ mit Kindern im
       Einschulungsprozess begann. Michael Apteds „Up“-Serie setzte 1964 mit der
       Beobachtung von 14 Siebenjährigen ein. In Sieben-Jahres-Abständen liefert
       der britische Regisseur seither neue Folgen, die jeweils frisch gedrehtes
       Material mit Archivaufnahmen zusammenbringen.
       
       ## Kann man seiner Herkunft entkommen?
       
       Als Inspiration gab Apted einst das Jesuiten-Motto an: „Give me a child
       until he is seven and I will give you the man“. Die innere Spannung der
       Behauptung, dass im Siebenjährigen schon der Mann erkennbar sei, wirkt wie
       die Quizfrage, die jeder für sich ein Leben lang zu beantworten versucht
       (und die im klassenbewussten Großbritannien noch besondere Schärfe
       besitzt): Kann man seiner Herkunft, seinen frühen Prägungen entkommen?
       Entscheidet die Umwelt oder der eigene Wille?
       
       Wer die „Up“-Serie, eine ihrer weltweiten Nachahmer oder auch den deutschen
       Vorläufer „Die Kinder von Golzow“ (die 1961 im Oderbruch begann) kennt,
       weiß, dass die Frage noch nach 50 Jahren Langzeitbeobachtung erstaunlich
       offen bleibt.
       
       So ähnlich die Prämisse, so völlig unterschiedlich ist die Wirkung von
       einerseits den Langzeitdokus wie den „Up“-Filmen und andererseits einer
       Langzeitfiktion wie „Boyhood“. Sicher, in beiden Projekten erlebt der
       Zuschauer eine wohl reflexhaft mütterliche/väterliche Rührung angesichts
       der Heranwachsenden: wie die Glieder lang werden, wie Persönlichkeit und
       Bartstoppeln in einst zarte Kindchenschema-Gesichter einziehen.
       
       Doch Linklater errichtet in „Boyhood“ gleichsam einen geschützten Raum um
       seine fiktive Figur herum, etwas was den Machern der „Up“-Serie nicht
       möglich ist. Auch wenn das Altern der Figuren in beiden Fällen gleich
       „real“ ist, läuft es bei Linklater in „Boyhood“ genauso wie in der „Before
       …“-Trilogie doch auf ein Mittel der Darstellung hinaus.
       
       ## Das Vergehen der Zeit im geschützten Raum
       
       Das Alter und das Vergehen der Zeit lassen sich im geschützten Raum der
       Fiktion wie „pur“ betrachten. Zugleich sind es Elemente, durch die von
       etwas anderem erzählt wird: vom Gang durch die Institution Schule, vom
       modernen Familiendasein mit Scheidungen und geteilten Sorgerechten, vom
       allmählichen Wandel von Ritualen und Einstellungen. Was die Dokus dem
       Betrachter in aufgeschnappten Häppchen vorsetzen, präsentiert die Fiktion
       in formvollendeter, wohl getimter Dichte.
       
       Mit dem Augenmerk auf dem Prozess der Reifung im Unterschied zum schnöden
       „Erwachsenwerden“ steht Linklater in der Tradition auch von François
       Truffaut und dessen Antoine-Doinel-Reihe. Im ersten Film, „Sie küssten und
       sie schlugen ihn“, verkörperte der 15-jährige Jean-Pierre Léaud diesen
       Antoine als schwieriges Kind mit einprägsam-eigenwilliger Ausstrahlung. Man
       kann verstehen, dass Truffaut die Figur dieses Jungen (die
       autobiografischen Züge trug) nicht gleich wieder aufgeben wollte. In einem
       Kurz- und vier weiteren Spielfilmen ließ er ihn den Zyklus von
       Verliebtsein, Ehe, Scheidung und etlichen Jobs durchlaufen.
       
       Zwar entwickelte keiner der folgenden Filme mehr ganz die emotionale
       Sogkraft von „Sie küssten und sie schlugen ihn“, aber dafür trat etwas
       anderes in den Vordergrund: das Heranreifen des Schauspielers Jean-Pierre
       Léaud. Der machte sich die Doinel-Rolle so sehr zu eigen, dass sein Name
       heute den seiner fiktionalen Figur überragt. Ein Erfolg, der etwa für
       Daniel Radcliffe, den die Welt als „Harry Potter“ vom zarten Elfjährigen
       zum schüchternen 20-Jährigen hat heranwachsen sehen, nicht vorstellbar
       scheint.
       
       ## Alltagstrott langweilt als Monotomie auf der Leinwand
       
       Nicht nur einer Figur, sondern einer ganze Gruppe beim Altern und Reifen
       zusehen kann man in Cédric Klapischs Trilogie um den einstigen
       Erasmus-Studenten Xavier Rousseau, der in Frankreich als Neuversion des
       Antoine Doinel gehandelte wurde. Nach „Barcelona für ein Jahr“ (2001) gab
       es das „Wiedersehen in St. Petersburg“ (2004), in dem zwar weiterhin Xavier
       im Zentrum stand, aber dennoch fast die ganze einstige WG in Kurzauftritten
       zu sehen war.
       
       Für den dritten Teil, „Beziehungsweise New York“ (2013), brachte Klapisch
       immerhin noch die drei für Xaviers Leben wichtigsten Frauen zusammen. Der
       Film illustriert allerdings auch die Tücken einer Langzeitfiktion. So groß
       die Wiedersehensfreude mit einer vertrauten Figur auch ist: Was man im
       wahren Leben als Alltagstrott hinnimmt, langweilt als Monotonie auf der
       Leinwand. Manches, was als aufregende neue Situation im Film begann – das
       Jahr in Barcelona – wächst sich in der x-ten Variation (St. Petersburg, New
       York) zur Marotte aus: in welche Stadt stolpert unser Held als Nächstes?
       Berlin oder Peking?
       
       Als Mutter aller Langzeitfiktionen wird oft die sogenannte „Andy
       Hardy“-Reihe angegeben, deren Hauptdarsteller Mickey Rooney kürzlich mit 93
       Jahren verstarb. Gedreht von 1937 bis 1946 (mit einem Nachzügler aus dem
       Jahr 1958), alterte Rooney als ordinary American in 16 Langfilmen vom
       Teenager zum 26-Jährigen. Dem Plot dieser heute in ihrer süßlichen
       Biederkeit kaum mehr erträglichen „sentimental comedies“ nach aber blieb er
       über alle Filme und Jahre hinweg der ewige Teenager. Das Bestehen auf dem
       Immergleichen unterläuft die vorgebliche Intention der lebenserzählenden
       Langzeitfiktion.
       
       ## Graue Haare
       
       Worin sich vor allem eines zeigt: Hollywoods sehr zwiespältiges Verhältnis
       zum Altern. Ein Kind aufwachsen sehen, das geht gerade noch. So durfte in
       den Tarzan-Filmen mit Johnny Weissmüller von 1939 bis 1947 dessen
       Adoptivsohn „Boy“ vom Sieben- zum 16-Jährigen reifen, aber dann war
       Schluss. Erwachsenwerden war für die Figur „Boy“ keine Option, genauso
       wenig wie graue Haare für Tarzan.
       
       Das Altern zu zeigen ist im Hollywoodkino überall dort verpönt, wo es kein
       Maskentrick ist. In all den Sequels, die über Jahre hinweg ein festes
       Figurenarsenal versammeln, wird das Älterwerden der Darsteller nämlich
       stets eher ausgeblendet als für die Erzählung genutzt. Seit über 50 Jahren,
       völlig unabhängig vom biografischen Alter des jeweiligen Schauspielers,
       verkörpert James Bond den „Mann in den besten Jahren“.
       
       Kino, das sei dem Tod bei der Arbeit zuschauen, lautet eines dieser
       herrenlos herumstreunenden Zitate, das auftaucht, sobald die Rede auf Film
       und Alter kommt. Einen seiner Ursprünge hat der Satz in Jean Cocteaus
       „Orphée“, wo es heißt, man müsse nur das ganze Leben über in den Spiegel
       schauen, um den Tod wie einen fleißigen Bienenschwarm im Stock arbeiten zu
       sehen.
       
       ## Klammheimliche Schadenfreude
       
       Es mutet wie eine Zuschauerverwechslung an, das Kino zum Spiegel zu
       erklären. Schließlich sehen wir nicht uns, sondern die „andern“ auf der
       Leinwand. Und von wegen dem Tod bei der Arbeit zusehen: ist das Altern doch
       eher der Feind des Kinos, zumindest der persönliche aller Schauspieler.
       
       Aber vielleicht liegt auch das im beliebten Zitat verborgen: die
       klammheimliche Schadenfreude, mit der der langjährige Kinogänger im Grunde
       jede Schauspieler-Karriere zur Langzeitfiktion erklären kann. Daniel
       Radcliffe von elf bis zwanzig ist da nichts im Vergleich zu Jeff Bridges
       mit 25 in „Thunderbolt and Lightfoot“ und mit 61 in „True Grit“. Oder James
       Spader mit 29 in „Sex, Lies and Videotapes“ und mit 54 heute in
       „Blacklist“.
       
       Was zuletzt noch einmal den Blick zurück auf „Boyhood“ lenkt, wo
       schließlich auch die erwachsenen Darsteller Ethan Hawke und Patricia
       Arquette um zwölf ganz reale Jahre altern. Obwohl im Hintergrund gehalten,
       schlägt durch, wie unterschiedlich sich dieser Übergang von 30-Something zu
       Ü 40 für Männer und Frauen gestaltet. Patricia Arquette von 34 bis 46 – das
       ist ein Erlebnis für sich. Und wäre noch mal ein ganz anderes Thema.
       
       6 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Schweizerhof
       
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