# taz.de -- taz-Serie Jüdisches Leben: „Es entsteht eine neue Gesellschaft“
       
       > Warum sich junge Israelis von Berlin stark angezogen fühlen, erklärt
       > Cilly Kugelmann, die stellvertretende Leiterin des Jüdischen Museums.
       
 (IMG) Bild: Berlins jüdische Party- und Kulturszene boomt, und eine neue Generation Juden in Deutschland gibt ihr ein attraktives Gesicht. Hier DJ Aviv Netter bei einer "Meschugge"-Party 2010.
       
       taz: Frau Kugelmann, das Jüdische Museum widmet seine Sommer-Kulturreihe
       dem Thema „Israelis in Berlin“. Warum dieser Schwerpunkt? 
       
       Cilly Kugelmann: Weil diese Gruppe in Berlin immer größer wird. 15.000 sind
       es laut der israelischen Botschaft, Schätzungen gehen von bis zu 30.000
       aus. Wie viele es tatsächlich sind, weiß keiner genau. Klar ist aber: Es
       ist keine Handvoll, es ist ein Phänomen. Und zwar ein außerordentliches
       interessantes.
       
       Warum? 
       
       Zum einen, weil Berlin früher nicht zu den Städten gehörte, in die viele
       Israelis hingefahren sind. Und zum Zweiten, weil wir es zum ersten Mal in
       Deutschland mit einer Gruppe jüdischer Zuwanderer zu tun haben, die nicht
       Mitglied einer Jüdischen Gemeinde werden. Das tun normalerweise die, die
       nicht als Juden in Erscheinung treten, von ihrem Judentum keinen Gebrauch
       machen wollen.
       
       Wer kommt denn genau? 
       
       Vor allem gut ausgebildete jüngere Leute. Durchaus auch solche, die konkret
       auf Jobsuche sind. Es sind eher selten Familien mit Kindern, die hierher
       übersiedeln, auch wenn es das vereinzelt geben mag. Und es sind sehr viele
       darunter, die deutsche oder europäische Großeltern haben. Die können ja die
       deutsche oder entsprechend andere europäische Staatsbürgerschaften bekommen
       – und damit auch die Freizügigkeit innerhalb der EU.
       
       Warum ist Berlin denn plötzlich für sie attraktiv geworden? 
       
       Berlin ist aus vielen Gründen interessant. Junge Israelis zieht einerseits
       genau das an, was junge Menschen aus der ganzen Welt derzeit nach Berlin
       zieht: Es ist eine Stadt, die noch nicht ganz fertig, noch nicht festgelegt
       ist – eigentlich eine riesige hässliche Großstadtbrache, in der es noch
       sehr viele Nischen für Kunst, für Musik gibt und die noch bezahlbare Mieten
       hat. Zum anderen haben wir es heute mit der Generation der Enkel oder gar
       Urenkel derjenigen zu tun, die das mitgemacht haben, was wir Holocaust
       nennen. Natürlich ist die Erinnerung an die Massenvernichtung der Juden
       durch die Nationalsozialisten in der israelischen Gesellschaft immer noch
       sehr präsent – aber für die jungen Leute auch sehr weit weg. Berlin ist
       deshalb für eine Generation, die das alles nur noch vom Hörensagen kennt,
       faszinierend wegen seiner Geschichte.
       
       Wie ist denn die Reaktion auf diese Wanderungsbewegung in Israel? 
       
       Für Israel ist das wirklich ein Braindrain, ein Auszug gut ausgebildeter
       junger Leute. Das ist ein Problem für das Land. Israel bildet viele
       Menschen gut aus, die dann keine entsprechenden Jobs finden. Diese jungen
       Leute ziehen weg, und zwar nicht nur nach Deutschland. Es gehen aber gerade
       die Menschen, die Distanz zur israelischen Politik haben. Und es bleiben
       die zurück, die eher dem politischen Lager zuzurechnen sind, das die
       derzeitige Regierungspolitik unterstützt. Es sind vorwiegend die Kritiker
       und Liberalen, die das Land verlassen.
       
       Woher kommt die Distanz gegenüber der Jüdischen Gemeinde hier? 
       
       Da bin ich mir nicht sicher, aber ich kann mir vorstellen, dass es die
       Israelis überhaupt nicht interessiert, was eine Jüdische Gemeinde hier
       macht. Weil sie sich nicht in erster Linie als Juden empfinden, sondern als
       Israelis, wozu das Jüdischsein in gewisser Weise dazu gehört – aber eben
       nicht wie hier. Hier ist die jüdische Identität das, was die Juden vom Rest
       der Bevölkerung unterscheidet. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ist eine
       Kultusgemeinde, deren Aufgabe in erster Linie darin besteht, dafür zu
       sorgen, dass religiöse Einrichtungen wie Friedhöfe oder Synagogen vorhanden
       sind. Und zur Berliner Gemeinde gehören in erster Linie russische Juden,
       die sehr säkular aufgewachsen und hier gerade damit befasst sind, sich neu
       zu orientieren. Die Israelis fühlen sich da eher fremd, das ist nicht ihr
       Anliegen.
       
       Sind die deutschen Juden also jüdischer als die Israelis? 
       
       Die Juden, die hier leben, sind keine Israelis. Für einen Israeli ist das
       Jüdische so relevant oder irrelevant wie für einen deutschen Staatsbürger,
       der nicht Jude oder Muslim ist, das Christentum. Die Zugehörigkeit zu einer
       Religionsgemeinschaft steht für die meisten nicht ganz oben auf der Agenda.
       Man ist Christ, weil man als solcher geboren und aufgewachsen ist und geht
       vielleicht bestenfalls noch Weihnachten in die Kirche. So ähnlich halten es
       auch viele Israelis mit dem Judentum. Während die hier aufgewachsenen Juden
       – und dazu würde ich auch die ehemaligen sowjetischen Juden zählen, sich in
       ihrer Differenz zu den übrigen Deutschen über das Judentum definieren –
       sind die Israelis eher eine von den vielen Nationalitätengruppen, die hier
       in Deutschland leben.
       
       Wenn man als Israeli hierherkommt, guckt man also nicht zuerst einmal, was
       die Jüdische Gemeinde hier so macht? 
       
       Es ist eher so, dass eine eigene israelische Infrastruktur entsteht. Es
       gibt mehrere Websites, es gibt israelische Immobilienfirmen, die auf
       Hebräisch Wohnungen in Berlin anbieten, es gibt Hilfe bei der Jobsuche und
       so weiter.
       
       Aber auch wenn das Religiöse eine geringe Rolle spielt, ist doch die
       Entscheidung für Deutschland und für Berlin eine, die spätestens beim
       Kontakt zu Eingeborenen den Punkt des Jüdischseins berührt. Man wird
       vermutlich ständig mit der Frage konfrontiert: Wie könnt ihr als Juden aus
       Israel hierherkommen? 
       
       Natürlich ist es etwas anderes, in Berlin zu sein als in Straßburg oder
       London. Hinter der Entscheidung für diese Stadt steckt auch eine
       historische Neugierde auf eine Gesellschaft, deren Vergangenheit durch eine
       mörderische Geschichte mit den eigenen Vorfahren verbunden ist, die sich
       aber inzwischen sehr verändert hat, was sich in Berlin besonders deutlich
       zeigt. Hier gibt es weniger soziale Einschränkungen, als ich es anderswo
       auf der Welt erlebt habe. Es ist, als habe die Trümmerlandschaft der
       Nachkriegszeit mit einer Zeitverschiebung von einigen Jahrzehnten zu einer
       Zertrümmerung von Konventionen geführt. Natürlich gibt es immer noch
       kleinbürgerliche Ressentiments, es gibt Neonazis. Aber auf der anderen
       Seite gibt es eine sehr offene Gesellschaft, in der viel mehr möglich ist
       als an den meisten anderen Orten auf der Welt.
       
       Wie wird sich diese Entwicklung, sofern sie nicht nur eine Episode ist,
       auswirken auf das jüdische Leben hier? Wird sie den Zerfall der jüdischen
       Einheitsgemeinde beschleunigen, indem sie zu weiterer Vielfalt führt? 
       
       Diese Erosionsprozesse der jüdischen Einheitsgemeinden betreffen ja nicht
       nur Berlin. Sie haben meiner Meinung nach damit zu tun, dass den Gemeinden
       die faktische Integration der russischsprachigen Zuwanderer übertragen
       wurde. Damit sind sie in die Rolle von Versorgungseinrichtungen gekommen,
       wie das Arbeits- oder Sozialamt – und wer hat dazu schon eine gute
       Beziehung? Man kommt dort als abhängiger Bittsteller hin. Und die Jüdische
       Gemeinde ist damit nur mehr eingeschränkt in der Lage, die spirituellen und
       intellektuellen Aufgaben zu übernehmen. In beider Hinsicht spielen die
       Israelis keine Rolle. Sie wollen und sie brauchen nichts von der Gemeinde,
       sie sind unabhängig von ihr. Tatsächlich festigt sich dadurch eine größere
       Pluralität jüdischer Lebensentwürfe, die nicht mehr über eine Gemeinde
       gebündelt werden – eine Entwicklung, in der ich keinen großen Nachteil
       sehen kann.
       
       In der deutschen Öffentlichkeit, der Politik, den Medien, gibt es starke
       Reaktionen auf die Zuwanderer aus Israel. Alle sind stolz darauf, dass
       wieder Juden, Israelis gar, nach Berlin ziehen. 
       
       Es ist ja auch ein großes Kompliment für ein sich wandelndes Berlin – oder,
       wenn man so will, für eine sich wandelnde deutsche Gesellschaft – wenn ein
       dreiviertel Jahrhundert nach einer Epoche von Verfolgung und Mord eine
       nennenswerte Zahl von Angehörigen der früheren Opfergruppe ausgerechnet
       nach Berlin kommt. Und es ist ganz wichtig, zu verstehen, dass hier gerade
       etwas ganz Neues entsteht. Es geht hier nicht um die Rückkehr zu
       irgendeiner Normalität, die es mal gab. Denn die gab es nie, da gibt es
       nichts anzuknüpfen. Es entsteht eine völlig veränderte neue Gesellschaft.
       In Israel sind neue Generationen herangewachsen, die in der aktuellen
       Politik eine eigene Position haben wollen und die auch ein Gespür für die
       Instrumentalisierung der Geschichte haben. Und auch hier sind neue
       Generationen herangewachsen, die im Bewusstsein einer katastrophischen und
       verbrecherischen Vergangenheit nicht mehr der einfachen Dichotomie von
       Tätern und Opfern folgen, sondern andere, neue Fragestellungen erarbeiten
       wollen. Das sind gänzlich neue Voraussetzungen für Gemeinsamkeiten:
       keineswegs ein Zurück zur Normalität, sondern etwas ganz Neues, das
       natürlich mit Versatzstücken des Alten aufgeladen ist.
       
       9 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Memarnia
 (DIR) Alke Wierth
       
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