# taz.de -- 25 Jahre Wacken Open Air: Spießer im Freiheitstaumel
       
       > Seit 25 Jahren bringt das Wacken Open Air den Ausnahmezustand in ein Dorf
       > in Schleswig-Holstein. Rebellisch war das noch nie. Na und?
       
 (IMG) Bild: Wacken: Pommesgabeln im Sonnenuntergang.
       
       Das Wacken Open Air, kurz W:O:A, hat es einem nie leicht gemacht, die
       Flagge der Metal-Rebellion hochzuhalten. Hier konnte man lernen, dass es
       mit der Devianz der Szene bald bergab gehen würde. Holte man sich überall
       sonst im Land noch (oder gerade?) in den späten Neunzigern ein indigniertes
       Kopfschütteln ab, wenn man in einem unglaublich geschmacklosen T-Shirt die
       Sonntagsbrötchen kaufte, so wurde man von den für die Festivaltage
       zusätzlich rekrutierten Omis im Edeka Frischemarkt dafür quasi in den Arm
       genommen.
       
       Das ist leicht zu erklären. Die wild grimassierenden, den Teufel
       beschwörenden Burschen, die hier zu Tausenden einfielen, waren Freunde von
       Holger und Thomas, den beiden Veranstaltern, die ihr Leben lang ebenfalls
       so rumliefen. Man kannte sie schon als kleine Drecksbuxen, immerhin war aus
       ihnen etwas geworden.
       
       Also scherte man sich nicht um ihr Aussehen und nahm sie herzlich auf. Die
       T-Shirt-Motive wurden von den menschenkundigen Augen der älteren Damen kurz
       gescannt, erkannt, und schon starteten sie ihre vom norddeutschen Platt
       noch einmal forcierte Charmeoffensive, der sich kein Mensch mit einem
       Herzen in der Brust verschließen konnte. Ein Hammer in einer Blutlache? Da
       blitzten die dritten Zähne auf, da strahlten wässrige blaue Augen: „Darf’s
       noch etwas mehr sein?“
       
       Siamesische Zwillingsbabys, das linke ziemlich böse mit schwarzen Krallen
       und Reißzähnen? „Also, was haben wir denn da, ihr Hübschen? Vier Kisten
       Astra, ein Pfund Kaffee und eine Dosenmilch, das macht zusammen …“ In den
       frühen Jahren ging einmal unsere Gaskartusche zur Neige, und wir musste am
       Freitag, dem zweiten Festivaltag, noch einmal zurück zu Edeka. Eine der
       Kittel-Ommas kontrollierte mein T-Shirt, sah ein bleiches, irr grinsendes
       Monster mit Beil in der Hand, von dem Blut tropfte, griente wissend und
       fragte großmütterlich-lieb nach meinem Begehr.
       
       Aber als ich das vorgetragen hatte, tat es mir sofort leid, denn ich sah
       ihren bitter enttäuschten Blick. „Näi, da kann ich nich mit dienen“,
       greinte sie. Aber dann öffnete sich staunend ihr Mund, als sei sie selbst
       überrascht, dass ihr doch noch etwas einfalle. „Du, Elisabeth?“, rief sie
       einer Freundin im Kittel zu, „der Nils Peters, hatt däi nich uk Gas in
       Dousen?“ „Jou, dat hat däi woul.“ Dann beschrieb sie mir den Weg, und als
       ich nicht gleich begriff, wäre sie fast mit ins Auto gestiegen, um uns an
       Ort und Stelle zu dirigieren, aber davon konnten wir sie gerade noch
       abbringen.
       
       ## Statt Wahnsinn: milder Spott
       
       Wer so etwas erlebt hat, glaubt nicht mehr wirklich daran, dass die Szene,
       in der er sich bewegt und mit der er sich jedenfalls zu Teilen
       identifiziert, so übel beleumdet ist, wie er es gern hätte. All das
       kämpferische Renegatentum, das schon in den frühen Metalsongs der 80er
       Jahre besungen wurde, auf dass die Szene sich konsolidiere und eine immer
       kaufkräftigere Fanschar sich heranbilde, ließ sich in Wacken schwerlich
       aufrechterhalten.
       
       Ein guter Freund, der unsere Wacken-Exkursionen seit langer Zeit mit mildem
       Spott verfolgt, hatte ja recht, als er meine vollmundige Mail, die mich für
       das letzte Wochenende abmelden sollte – Betreffzeile: „Der Wahnsinn geht
       weiter!!!“ – lakonisch mit „Spießer im Freiheitstaumel“ retournierte.
       
       Er hatte recht – und doch! Wenn die Lautstärke eine immer wieder
       beeindruckende taktile Präsenz entwickelt, wenn die „gehörnte Hand“, die
       Pommesgabel, das Stammessymbol, regiert und vielen eine Form der
       solidarischen Vergemeinschaftung vorgaukelt, die zwar nicht real vorhanden
       ist, allenfalls punktuell oder situativ, von der aber schon als Idee eine
       tröstende, euphorisierende, den Alltag transzendierende Wirkung ausgeht:
       dann kann man sich schon mal einer schicken Illusion hingeben. Wacken hat
       immer etwas von einem Ausnahmezustand, und wer ein bisschen Fantasie hat,
       der kann sich eine politische Dimension hinzuträumen.
       
       Auch in diesem Jahr lärmten wieder weit über hundert Acts auf den fünf
       echten Bühnen herum, um den Anwesenden die gute Metalrebellion einzubläuen.
       Die anderen Stages zählen nicht, die gehören zum Eventmummenschanz, der das
       Festival von Jahr zu Jahr mehr erdrückt. Es wird in der Szene gern über
       seine stetig wachsende Kommerzialisierung gewettert, als würde das
       Geschäftsfeld Metal sonst von einem Haufen Altruisten und gemeinnützigen
       Vereinen bewirtschaftet.
       
       Dass es die auch gibt, klar, aber dass die großen Margen von der wie
       geschmiert laufenden Industrie abgeschöpft werden, ist wohl kein
       Geheimwissen mehr. Deshalb sollte man den Wacken-Veranstaltern den Erfolg
       zunächst einmal ruhig gönnen. Sie haben lange genug am Limit gearbeitet,
       ihre Trueness mit mehreren Pleiten bewiesen, jetzt sollen sie sich gern die
       Taschen vollmachen. Aber sie sollen es gefälligst mit Metal tun.
       
       Wenn man ihnen etwas vorwerfen darf, dann den Umstand, dass ein im Kern
       immer noch hochkarätiges, wenn auch insgesamt eher überraschungsloses Open
       Air – viel zu viele Bands haben ihren x-ten Auftritt hier – immer stärker
       kontaminiert wird von einem Jahrmarkt-, Volksfest- und Freizeitpark-Gewese,
       das ausschließlich die vermissen würden, die ohnehin nur hier sind, um sich
       die durchgeknallten Metalheads mal von Nahem anzusehen bzw. weil man mal da
       gewesen sein muss.
       
       Wenn etwa die Ehrlich Brothers, denen man jederzeit anmerkt, dass Metal in
       diesem Leben für sie ein Buch mit sieben Sigeln bleiben wird, auf der
       Hauptbühne, noch dazu zur besten Sendezeit eine dramaturgisch voll in die
       Hose gehende Zaubershow abliefern dürfen, dann ist selbst die
       sprichwörtliche Toleranz des Wacken-Publikums langsam mal aufgebraucht.
       Auch das ist eine klitzekleine Rebellion: die beifallheischende Anbiederei
       mit kompletter Grabesstille zu beantworten.
       
       ## Chauvinistische Metaller
       
       Es gab bessere Momente. Etwa als Steel Panther mit entlarvender
       Anarcho-Ironie ihre grandiose Sleaze-Groteske aufführten, die ein halbes
       Jahrhundert Frauenemanzipation mal kurz den Orkus hinunterspülte. Die
       Losung hieß blankziehen, und als hätte frau nur darauf gewartet, dass sie
       endlich mal wieder das dumme Chick spielen darf, wurde ihr freudig
       entsprochen.
       
       Oder als King Diamond einmal mehr bewies, dass weder sein kurioser Gesang
       noch das alberne Grand-Guignol-Bauerntheater das eigentliche Werk, diese
       komplexen und dennoch grandios nach vorn preschenden Songs von „Evil“ bis
       „Abigail“, kaputt machen können. Oder als Arch Enemy mit ihrem neuen
       Growlgroßmaul Alissa White-Gluz ihre in den letzten beiden Alben vertretene
       These, dass Death Metal und Schlager gar kein Widerspruch sein müssen,
       untermauerten.
       
       In diesem Jahr fand das W:O:A zum 25. Mal statt – ein Festival kommt in die
       Jahre. Und wenn man ein Symbol braucht, das diesen Alterungsprozess ins
       Bild setzt, dann ist es der herzkranke Lemmy, der augenscheinlich nicht
       mehr in der Lage ist, einen 75-minütigen Motörhead-Turboauftritt
       hinzulegen. Im Vorjahr musste er nach einer halben Stunde abbrechen.
       Deshalb drückten seine ihn liebenden mehreren zehntausend Enkel beide
       Daumen, dass er seinen Job heuer mit Anstand erledigen würde. Es war ein
       Gig, der sie traurig stimmte.
       
       Lemmy sah müde aus, lethargisch. Um das Set überhaupt durchzustehen,
       spielte er auschließlich Slow- und Midtempo-Nummern, nicht immer die Stärke
       von Motörhead, nur in der frühen Zugabe eine fahrige Version des
       Speed-Klassikers „Overkill“. Seine beiden großartigen Sidekicks Mikkey Dee
       und Phil Campbell mussten ihm immer wieder durch Soloeinlagen
       Verschnaufpausen verschaffen. Sogar die deutsche Metal-Urmutter Doro kam
       auf die Bühne, um ihn ein wenig zu entlasten. Man kam sich seltsam schuldig
       vor, pietätlos, bei diesem langsamen Fade-out auch noch zuzusehen.
       
       4 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Schäfer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Wacken
 (DIR) Motörhead
 (DIR) Festival
 (DIR) Lemmy Kilmister
 (DIR) Motörhead
 (DIR) Band
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Wacken
 (DIR) Wacken
 (DIR) Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Motörhead-Sänger: Der Gentleman des Heavy Metal
       
       Er war Roadie für Jimi Hendrix, erklärter Beatles-Fan, ikonischer Rockstar
       der Gegenwart, unkorrumpierbar: Lemmy Kilmister von Motörhead.
       
 (DIR) Motörhead-Sänger Kilmister gestorben: „Spielt Lemmys Musik LAUT“
       
       Der Frontmann der Metalband starb mit 70 Jahren in Los Angeles. Er hatte
       Motörhead 1975 gegründet und 2004 einen Grammy für den besten
       Metal-Auftritt erhalten.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Lass Blut laufen rot
       
       Mein Schicksal als leidlich akneversehrter Gitarrist einer völlig
       unbekannten Schwermetall-Band aus der niedersächsischen Tiefebene.
       
 (DIR) Gelungener Diskurspunk: Saboteure am Werk
       
       Trümmer aus Hamburg haben genug vom Zynismus ihrer Generation. Die Band
       will den Diskurspop-Altvorderen auf die Pelle rücken.
       
 (DIR) Krach aus Kairo: Die Metalheads vom Goethe-Institut
       
       Als erste ägyptische Band hat „Crescent“ auf dem Metal-Festival in Wacken
       gespielt. In ihrem Heimatland galten die Musiker lange als Satanisten.
       
 (DIR) „Wacken“-Festival als Coffee Table Book: Pommesgabel im Gegenlicht
       
       Zwischen Idylle und Müllhalde: Der voluminöse Bildband „We The People Of
       Wacken“ entblößt die Besucher des größten Metalfestivals der Welt.
       
 (DIR) 3D-Film über das Wacken-Festival: Die Insel der Wikinger
       
       „Wacken – 3D“ schafft eine faszinierende Welt, deren Realitätsgehalt gegen
       Null geht. Für eine Dokumentation ist das beachtlich.