# taz.de -- Das weißrussische Minsk: Konserviertes Ostgefühl
       
       > Wer den Sozialismus von einst kennenlernen will, ist in Minsk richtig.
       > Die Stadt verharrt sowohl architektonisch als auch politisch in der
       > Sowjet-Ära.
       
 (IMG) Bild: Im Zentrum von Minsk.
       
       Dass Minsk kein Spaziergang wird, ist schnell klar: Bereits der
       Unabhängigkeitsplatz ist so monumental groß, dass wir uns zuerst einmal
       setzen müssen. Der Platz ist gleichzeitig das Dach eines dreistöckigen
       Einkaufszentrums unter dem Boden, gesäumt ist er lückenlos von denkwürdig
       prächtigen Bauten. Die Universität etwa steht da, das Minsk-Hotel, der
       Palast der Post, der Palast der Stadtregierung und natürlich das
       Regierungsgebäude aus den dreißiger Jahren, vor dem sich Lenin mit
       belehrendem Blick auf ein Rednerpult stützt. Auch wer wenig vom Sozialismus
       weiß, erfährt hier: Du, Mensch, bist alleine nichts.
       
       Wer den alten Osten kennenlernen möchte, ist hier richtig: Der
       Hauptprospekt, der vom Unabhängigkeitsplatz ab geht, verläuft auf der
       Ost-West-Achse zwischen Berlin und Moskau, wobei Minsk nicht nur
       geografisch näher zu Moskau liegt. Minsk ist in vielerlei Hinsichten das,
       was man sich gemeinhin unter dem Wort "Osten" vorstellt – im Gegensatz zu
       anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks wird hier der Sozialismus von
       einst nicht nur architektonisch, sondern insbesondere politisch
       konserviert. Grund genug, diese Stadt, die als Vorzeigestadt des
       Kommunismus gebaut wurde, zu erlaufen.
       
       Um etwa den Einfluss der Stadt zu erahnen, die der weißrussische
       Schriftsteller Artur Klinau so beschreibt: „Ich glaube, dass die Stadt, in
       der wir lebten, uns beeinflusste. Sie ließ uns die Welt anders wahrnehmen.
       Es ist ein Unterschied, ob man im betörenden Grün von Parks, zwischen
       griechischen Vasen und Skulpturen in der Zeitlosigkeit des antiken Himmels
       lebt, oder ob man von Kindheit an von Hochspannungsleitungen,
       Heizkraftwerken, rotbraunen Werkhallen, leeren Plätzen und
       dazwischenstehenden Häuserkästen umgeben ist.“
       
       Der Unabhängigkeitsplatz ist eines der Herzstücke der weißrussischen
       Hauptstadt. Er liegt am Nezavisimosti, dem Unabhängigkeits-, ehemals
       Stalinprospekt, der wenige Fußminuten neben dem Bahnhof beginnt und
       keineswegs der einzige ist. Gegen 18 Kilometer ist er lang, davon sind acht
       Kilometer Teil der idealen Stadt. Teil des triumphalen Versuchs, zum großen
       kommunistischen Traum Moskaus etwas beizutragen.
       
       Blitzblank sauber ist es in dieser 1944, streng nach sozialistischen
       Plänen, zu einem großen Teil von deutschen Kriegsgefangenen
       wiederaufgebauten Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zum
       großen Teil zerstört; kaum ein Mensch blieb in der Stadt, die früher
       zaristische Gouvernementshauptstadt mit jüdischen Händlern und russischen
       Beamten war. In Anlehnung an den Moskauer Generalplan von 1935 mit
       Axial-Ring-Struktur bauten die Russen die Stadt wieder auf.
       Schachbrettmuster, giganteske neoklassizistischen Bauten, große Parks. Für
       Letztere beschäftigt die Stadt Minskselenstroj, eine eigene
       Forstgesellschaft. Denn die Parks sind wichtig, die Bewohner sollen sich
       vergnügen und erholen, bloß sollen sie das lieber in der Öffentlichkeit
       denn im privaten Garten tun.
       
       Das neue Minsk etikettierte die Sowjetunion stolz mit „Sonnenstadt des
       Sozialismus“. Will heißen: Anders als in sogenannt
       westlich-kapitalistischen Städten flaniert man in Minsk höchstens durch die
       Parks, überall sonst wird marschiert. Der Tourist staunt über die
       gepflegten Boulevards, sucht vergebens Bettler oder Alkoholiker, die man
       aus jeder größeren Stadt kennt.
       
       Auf dem Weg vom Leninplatz über den Oktoberplatz zum Kalininplatz laufen
       wir an überdimensionalen, riesigen Palästen vorbei, jenem der
       Staatssicherheit und der Republik etwa. Immer wieder tauchen große,
       ernsthafte Männer aus Messing oder Eisen auf, regelmäßig auf den Plätzen,
       auch mal versteckt unter einer noch nicht zurechtgestutzten Trauerweide.
       
       ## Das Etikett der leuchtenden Sonnenstadt
       
       Erst wenn man sich zuerst zufällig, schließlich systematisch in die
       Innenhöfe der Prachtbauten verirrt, sieht man die marode Substanz der
       Gebäude, abgebröckelte Fassadenstücke, und entdeckt die durchaus
       poetischen, weil verwilderten Ecken. Viele Details, zum Beispiel die Wippen
       und Schaukeln auf den Spielplätzen, die Straßenlampen, auch die Mülleimer,
       sind in leuchtenden Bauhausfarben frisch übermalt, doch nach wie vor von
       damals – vielleicht aus den sechziger oder siebziger Jahren, als die
       Euphorie noch da war. Die Kinder auf diesen Spielplätzen quengeln und
       wirbeln nicht umher. Sie werden mit blinkenden Dreirädern aus Plastik, Made
       in China, von ihren Eltern um den Platz geschoben.
       
       Das Etikett Sonnenstadt kommt nicht von ungefähr. Noch immer leuchtet die
       Stadt, selbst wenn die Sonne nicht scheint: gebaut wurde sie mit viel
       hellem Sandstein. Kommt die Sonne doch hervor, werfen die martialischen
       Bauten riesige Schatten. Morgens Richtung Berlin, abends Richtung Moskau,
       denn der Hauptprospekt liegt exakt auf der Ost-West-Achse.
       
       An den Ampeln, die wir jetzt überqueren, hängen modernste LED-Leuchten, die
       von Grün auf Orange und Rot schalten. Und erst nach ein paar Kilometern
       Marsch fällt auf, dass die Plakatwerbung im Straßenbild fehlt; lasziver
       H&M-Models etwa, Graffiti sowieso – Punks übrigens auch. Nur wenige
       Coca-Cola- oder Samsung-Schriftzüge stehen auf ein paar Dächern.
       Satellitenschüsseln, für die man unterdessen eine Bewilligung braucht,
       sehen wir fast keine. Auf den Straßen sind Luxusautos neben alten Ladas und
       Traktoren unterwegs, es gibt ein paar Edelboutiquen und große Kaufhäuser
       mit Eigenmarken.
       
       ## Die Stadt aus anderem Blickwinkel
       
       Der Tourist, der die Zeitungsartikel und Bücher gelesen hat, die man hier
       nicht zu Gesicht bekommt, sieht die Stadt aus einem anderen Blickwinkel:
       Hier herrscht ein Diktator, der seine Stadt im Glanz sehen will. Der die
       Vorderseiten und die Infrastruktur von einst neu übertüncht, in der
       Hoffnung, dass es keiner merkt. Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko
       konserviert noch sozialistische Planwirtschaft, gleichwohl er einige wenige
       Unternehmen privatisiert hat (deren Gelder notabene in seine Taschen
       fließen).
       
       Einer, der der Zeitung Komsomolskaja Prawda Sätze zu Protokoll gibt, wie:
       „Ich bin nicht wie andere Präsidenten. In mir steckt eine Kuh.“ Nicht nur
       die OSZE bezichtigt ihn der Menschenrechtsverletzungen und des Vorgehens
       gegen unliebsame Medien. Seine Kritiker bezeichnen ihn als „Europas letzten
       Diktator“. Diesen Ausdruck betrachtet Lukaschenko als Dummheit. Er hebt
       hervor, dass Weißrussland und er nicht über die Ressourcen verfügen, damit
       er Diktator sein kann.
       
       Seine Sympathisanten halten ihm hingegen zugute, er habe dem Land die
       schlimmsten Symptome des postsowjetischen Übergangskapitalismus erspart.
       Hätte er nicht die alleinige Macht über Militär und Polizei, man könnte
       über ihn lachen. Die saubere Stadt jedenfalls putzen vereinzelte Männer und
       Frauen mit selbst gebastelten Reisigbesen und zerbeulten Kehrschaufeln. Bei
       der Metrostation Njamiha improvisieren drei alte Männer an einem
       verstopften Abfluss der Kanalisation. Ein paar Treppenstufen weiter unten
       beobachten zwei Polizisten mit zu großen Uniformmützen die Minsker, die aus
       der Metro in ihr Wochenende hasten. In dieser Stadt wird die Sicherheit zur
       Bedrohung.
       
       ## 
       
       In der Abendstimmung an der Swislatsch sitzen Pärchen, Familien, und auf
       dem Fluss schaukeln Liebespaare in den Pedalos. Wäre das Bier hier nicht
       verboten, wir würden eines trinken. Einige tun das auch, wenn auch heimlich
       – zwei Freunde verstecken das ihre im Kinderwagen, andere im Mülleimer.
       Warum, wird klar, als zwei Soldaten mit Schlagstöcken vorbei
       patrouillieren.
       
       Dieselben Uniformen tragen auch die Absolventen der Militärakademie, die
       offenbar Mittelpunkt einer Soap des staatlichen Fernsehens ist. Sie läuft
       im Hintergrund des Restaurants und ist auch ohne Ton verständlich. Ein
       junger Mann rückt ein, später küsst er im Gebüsch heimlich ein Mädchen, das
       stolz über seine Uniform streicht.
       
       Anderntags sehen wir viele Brautpaare: An diesem angenehm heißen
       Julisamstag heiraten mindestens dreißig Paare. Stets in Begleitung einer
       schwitzenden Hochzeitsgesellschaft in glänzendem Satin und jeweils bis zu
       drei Fotografen mit beachtlichem Equipment. Sie lassen sich vor einem der
       monumentalen Bauten oder vor idyllischer Aussicht am Fluss ablichten,
       während die Gäste auf einer Bank nebenan warten. Die festlichen Schuhe
       abgestreift, wird lachend Schokolade, Sekt und Wodka gereicht.
       
       Abends treffen wir bei der großen Oper zufällig auf mehrere
       Limousinenmodelle, die im Fünfminutentakt vorfahren und junge, sehr junge
       Frauen für ihre Hen Night ausladen. Nacheinander posieren die Grüppchen für
       das Foto auf der Treppe oder dem Springbrunnen, mit oder ohne weißen und
       roten Ballons – je nach Arrangement, das sie gebucht haben.
       
       Mit dem Bild der aufgeregten Frauen, die in amerikanischer Manier auf ihre
       Hochzeit hinfiebern, steigen wir wieder in den Zug, der diesmal von Moskau
       her kommt und uns in 16 Stunden nach Berlin zurückbringt. Noch einmal
       blicken wir während Stunden in wildes, saftiges Land.
       
       ## Ungewöhnlich und sehr sowjetisch
       
       Die wenigen Züge, die uns kreuzen, haben Holz geladen. Die Dörfer flimmern
       in der Hitze, ab und zu schiebt eine alte Frau ihr Fahrrad aus dem Wald.
       Auf dem Korridor unseres Wagens erkundigt sich ein Passagier bei einem in
       Minsk zugestiegenen Mitreisenden: „Und wie ist Minsk?“ – „Ja, interessant.
       Ungewöhnlich. Noch sehr sowjetisch“, antwortet dieser gedehnt. sichtlich
       findet er für seine zwiespältigen Eindrücke gerade keine Worte.
       
       Verabschiedet werden wir später in Brest von weißrussischen Soldaten, von
       denen je nach Lukaschenko-Politik mal mehr, mal weniger an der Grenze
       arbeiten. Sie schreiten den Schritttempo fahrenden Zug ab und blicken
       grimmig unter das Fahrgestell. Wenige Meter nach der Brücke über den Bug
       empfangen uns zahlreiche Überwachungskameras an jedem Pfosten. Die
       EU-Grenzer kommen im Akkord vorbei: Der Erste fragt nach den Papieren, der
       Zweite nach Zollgut, der Dritte kommt mit einem Hund und der Vierte
       scheucht uns von der Bank, um diese so gewissenhaft grob hochzuklappen,
       dass sich eine Schraube löst. Jetzt auf der Rückfahrt scheint uns das knapp
       dreistündige Grenzprocedere inklusive Radwechsel als wirklich geeignete
       Ouvertüre für eine Reise in diesen konservierten Osten, der Beklemmung und
       Befremden nicht nur bei uns auslöst.
       
       Die 85 Millimeter Unterschied zwischen mitteleuropäischer Regelspurweite
       und russischer Breitspur sind beim Rangieren in der Halle von Brest kaum
       erkennbar, doch damit geraten wir nun nicht nur wieder zurück in eine
       andere Zeitzone, sondern auch wieder nach Europa. Kaum ruckelt der Zug los,
       kommen die Menschen wieder aus ihren Abteilen. Wird die Nervosität durch
       fröhliches Gelächter abgelöst und suchen die Passagiere in der heißen
       Zugluft nach kühlen Getränken – die allerdings erst in Warschau in dem
       frisch angehängten Speisewagen erhältlich sein werden.
       
       16 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gina Bucher
       
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