# taz.de -- Bloggerin über Boko Haram: „Eine Art gemeinsames Gedächtnis“
       
       > Wie lebt man mit der Bedrohung durch Boko Haram? Die Bloggerin Saratu
       > über die Schwierigkeit, im Rest Nigerias zu vermitteln, was im Nordosten
       > eigentlich vor sich geht.
       
 (IMG) Bild: Weltweit bekannt geworden: die Kampagne „Bring Back Our Girls!“, hier eine Veranstaltung an der Universität von Abuja.
       
       taz: Frau Saratu, wie sind Sie auf die Idee für das Testimonial Archive
       Project (TAP) gekommen? 
       
       Saratu: Ich habe so viel über die Entwicklung im Norden gelesen und die
       Nachrichten verfolgt. Die laufen fast immer gleich ab: Was sagt der
       Präsident dazu, was der Sprecher der Armee, was die Opposition? Es gibt
       kaum Berichterstattung aus Sicht der Bewohner. Man möchte selbst zum
       Journalisten werden, was aber nicht geht. Es gibt große logistische
       Probleme, im Norden zu berichten. Auch internationale Journalisten fahren
       höchstens für zwei Tage nach Maiduguri und kommen dann sofort wieder
       zurück.
       
       Nigerianer, die nicht aus der betroffenen Region stammen, haben also kein
       Bild davon, was dort geschieht? 
       
       Genau. Der durchschnittliche Nigerianer kann sich nicht vorstellen, was
       passiert. Das bedeutet gar nicht, dass er nicht interessiert ist. Es gibt
       nur niemanden, der Geschichten aus Sicht der Bewohner erzählt, Geschichten
       über normale Menschen, die ihren Lebensunterhalt verdienen und sich um ihre
       Familien kümmern wollen.
       
       Mittlerweile haben Sie dafür gut 70 Menschen interviewt. Wie reagieren die
       Menschen auf die Gesprächsanfrage? Wollen sie sprechen? 
       
       Ja, sobald sie verstehen, dass ich keine Spionin oder Geheimagentin bin.
       Zuerst müssen sie die Angst überwinden und merken, dass ich eine ganz
       normale Nigerianerin bin. Aber ich muss hartnäckig bleiben. Ich muss sie
       überzeugen, dass ich ihnen keine Probleme bringe. Daher gibt es zuerst viel
       Angst und Misstrauen. Ich muss ihnen vermitteln, dass sie sicher sind. Wenn
       das klappt, dann vermitteln sie mir häufig weitere Gesprächspartner.
       
       Sind die Menschen nach dem Gespräch auch erleichtert? 
       
       Ja, auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen oft gar nicht
       realisieren, wie schlecht die Situation tatsächlich ist. Es ist für sie zur
       Normalität geworden, und das ist gefährlich. Erst während der Interviews
       stellen sie fest, wie schlecht die Lage tatsächlich ist.
       
       Es gibt also keine Möglichkeit, mit Psychologen zu sprechen? 
       
       Mein aktuelles Interview habe ich mit der Gesundheitsministerin von Borno
       geführt. Sie sagt, es gibt psychologische Unterstützung für jene 57 Mädchen
       und Frauen, die kürzlich von Boko Haram geflüchtet sind. Auch für andere
       Frauen gibt es teilweise Möglichkeiten. Sie sagt, dass 80 Prozent der
       Menschen in den Camps für Binnenflüchtlinge Frauen sind. Doch viele
       Menschen, die ausgebildet wurden und diese Arbeit leisten können, flüchten
       selbst wieder aus der Region. Ausreichend ist das alles nicht.
       
       Außerdem scheint es häufig eine Kultur des Verdrängens und Vergessens zu
       geben. Auch über den Biafra-Krieg wird heute kaum gesprochen. 
       
       Ja! Ich muss ständig erklären, warum es wichtig ist, dass diese Geschichten
       erzählt werden. Eine Nation braucht eine Art „gemeinsames Gedächtnis“.
       Deshalb geht es in meinem Projekt auch um Staatenbildung. Mir ist es
       wichtig, dass wir alle die gleichen Informationen haben. Wenn aber nur
       Menschen aus Borno wissen, was in ihrer Region passiert, zum Beispiel, dass
       es immer wieder Entführungen gibt, was bedeutet das für uns als Land? Was
       heißt es, wenn nur eine kleine Gruppe solche Erinnerungen teilt?
       
       In Lagos sagten viele Menschen nach der Entführung der Schülerinnen von
       Chibok beispielsweise: Wir haben kaum darüber gehört. Ist es wirklich
       passiert? 
       
       Genau das ist das Problem. Es ist schrecklich, dass so etwas passieren
       kann. Mit TAP versuche ich deshalb, Menschen im ganzen Land zu vermitteln,
       was im Nordosten tatsächlich passiert.
       
       Gibt es eine Diskussion, die sich mit der Frage nach Versöhnung
       beschäftigt? 
       
       Wir wissen nicht, in welche Richtung das gehen wird. Was mich ganz
       persönlich beunruhigt ist, dass wir bei der Frage nach Versöhnung mehr an
       die Täter als an die Opfer denken. Im Nigerdelta hat es zum Beispiel Hilfe
       für die bewaffneten Kämpfer gegeben. Das schafft den Eindruck: In diesem
       Land kann man Menschen über Jahre terrorisieren und bekommt dafür eine
       Belohnung. Natürlich wollen wir, dass die Gewalt aufhört. Aber es darf
       nicht so sein, dass es fast lukrativ wird, zum Massenmörder zu werden, und
       die Regierung dann noch Geld zahlt, damit das wieder aufhört.
       
       2 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Gänsler
       
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