# taz.de -- Soziologin über den „Marsch des Lebens“: „Die Politik fürchtet die Kirche“
       
       > Am Samstag marschieren Abtreibungsgegner in Berlin. Gegen die
       > konservativen Christen werde nicht offen genug argumentiert, sagt Gisela
       > Notz, Ex-Chefin von Pro Familia.
       
 (IMG) Bild: Alle Jahre wieder: Abtreibungsgegner beim „Marsch für das Leben“ 2013 in Berlin
       
       taz: Frau Notz, die „Märsche für das Leben“ der Abtreibungsgegner werden
       immer größer. 4.500 waren es letztes Jahr, diesen Samstag werden in Berlin
       noch mehr erwartet. Woher kommt der Zulauf? 
       
       Gisela Notz: Vielleicht ist das Bedürfnis nach einer heilen Welt, wie die
       Kirchen sie malen, gewachsen. Die familienpolitische Debatte ist jedenfalls
       nach rechts gerückt. Deshalb ist auch die AfD erstarkt, in der die
       sogenannten „Lebensschützer“ eine große Rolle spielen. [1][Beatrix von
       Storch], die nun im Europaparlament sitzt, war bei diesen Märschen ganz
       vorn dabei. Sie ist für ein Totalverbot der Abtreibung und setzt sich für
       ein traditionelles Familienbild ein.
       
       Aber eigentlich ist doch die Familienpolitik auf einem liberaleren Kurs:
       die Kinderbetreuung wird ausgebaut, Mütter sind für Top-Positionen
       erwünscht ... 
       
       Aber auf der anderen Seite gibt es das Betreuungsgeld. Und die
       heterosexuelle Kernfamilie steht immer noch im Mittelpunkt, siehe
       Ehegattensplitting. Oder die Proteste der Koservativen gegen die
       Sexualerziehung in der Schule, obwohl die dazu beiträgt, Abtreibungen zu
       verhindern. Und die Politik fürchtet die Macht der Kirche. Gegen die
       konservativen Christen wird nicht offen argumentiert.
       
       Haben sie auch so viel Einfluss, weil die Rechtslage in Deutschland unklar
       ist? Die Menschenrechte beginnen ja eigentlich erst ab der Geburt. Das
       deutsche Verfassungsgericht dagegen hat ja gesagt ... 
       
       (liest aus den Unterlagen vor:) ... „das sich im Mutterleib entwickelnde
       Leben steht als selbstständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung
       und hat auch Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.“ Das ist ein
       Problem. Immer noch ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eine
       Straftat. Natürlich trägt das dazu bei, dass die Schuldgefühle der Frauen
       viel stärker sind als sie es etwa in den 1970er Jahren waren, als die
       ersatzlose Streichung von Paragraf 218 (Strafgesetzbuch, d. Red.) gefordert
       wurde.
       
       Aber spielt das Strafrecht im Alltag eine so große Rolle? 
       
       Ich denke doch. Pro Familia hat noch unter meinem Vorsitz junge schwangere
       Frauen befragt. Viele sagten: Ich würde nicht abtreiben, ich bin doch keine
       Mörderin. Andere, die abgetrieben haben, waren der Meinung, sie hätten ihr
       Kind umgebracht. Dann geht es ihnen natürlich schlecht. Und die
       AbtreibungsgegnerInnen sagen: Schaut mal, so schlecht geht es jemandem, der
       abgetrieben hat. Sie haben eine Krankheit erfunden: Das
       Post-Abortion-Syndrome.
       
       Aber manche Frauen stecken Abtreibungen auch nicht mal eben so weg. 
       
       Ja, deshalb ist es gut, wenn man qualifiziert beraten und begleitet wird.
       Die Beratung muss aber immer freiwillig sein. Es ist nicht hilfreich,
       Schuldgefühle noch zu verstärken. Das tun aber konservative LehrerInnen
       oder PfarrerInnen, die Abtreibung mit Mord vergleichen. Diese Haltungen
       werden dadurch bestärkt, dass der Abbruch im Strafgesetzbuch verhandelt
       wird. Das muss sich ändern.
       
       Würden Sie alle Abbrüche in jedem Stadium erlauben? 
       
       Das müsste man verhandeln. Die DDR hatte den Paragrafen 218 nicht mehr im
       Strafrecht. Es gab ein eigenes Schwangerschaftsunterbrechungs-Gesetz, in
       dem dann die Fristenlösung festgehalten wurde. In Kanada gibt es überhaupt
       kein Abtreibungsgesetz, da gibt es auch nicht mehr Abbrüche als hier. Auch
       sie haben eine qualifizierte Beratung.
       
       Wenn dann aber eine Frau käme und im sechsten Monat ist und sagt, ich will
       das Kind doch nicht bekommen, gibt es dann nicht ein Problem? Es ist ja
       immerhin schon außerhalb des Mutterleibs lebensfähig. 
       
       Das ist eine konstruierte Situation. In Kanada werden nur 2 Prozent der
       Abtreibungen nach der 16. Woche durchgeführt. Keine Frau macht sich die
       Entscheidung leicht.
       
       In den letzten Jahren wurden Ärzte und Beratungen immer wieder angezeigt,
       sie machten strafbare Werbung für Abtreibung. Wie wirkt das? 
       
       Ich wurde auch angezeigt. Sie kamen nicht durch. Zugleich wurden wir
       gemeinsam mit ÄrztInnen auf verschiedenen Homepages diffamiert. Von mir gab
       es ein Bild, dazu wurde formuliert, ich „betreibe vier Tötungszentren“. Das
       sind die medizinischen Zentren von Pro Familia, die streng nach den
       gesetzlichen Regelungen arbeiten. Das ist natürlich sehr belastend. Sie
       müssen sich vorstellen, dass junge Mädchen ihre Fragen heute natürlich im
       Internet googeln. Sie landen dann bei Verunglimpfungen von Beratungsstellen
       und Seiten wie „babycaust.de“, die von einem Völkermord sprechen.
       
       Fühlten Sie sich eingeschüchtert? 
       
       Es soll auf jeden Fall einschüchtern. Es frisst Ressourcen und nervt. Das
       ist eine Zermürbungstaktik. Ebenso wie die sogenannten Gehsteigberatungen.
       Da werden gestresste Frauen nochmal unter Druck gesetzt. Ihnen werden vor
       der Klinik Plastikembryos in die Hand gedrückt, die angeblich so aussehen,
       wie ihre Embryos, dabei sind die echten Embryos in diesem Stadium viel
       weniger entwickelt. Das ist Psychoterror.
       
       Kann man sich dagegen wehren? 
       
       Ja, Gerichte haben bereits Zonen ausgewiesen, in denen diese Nötigungen
       nicht stattfinden dürfen. Es lohnt sich, sich juristisch zu wehren.
       
       Warum geht es immer wieder um den Bauch der Frau und nicht um geborene
       Kinder, die Hilfe brauchen? 
       
       Es ist eine christliche Tradition, die sich seit dem Mittelalter gehalten
       hat. Das Leben gehört Gott. Gott hat einen totalitären Anspruch. Der Mensch
       darf daran nichts ändern. Diese Meinung hat sich im Laufe der Aufklärung in
       sehr vielen Bereichen geändert. Aber dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen
       steht die Kirche immer noch negativ gegenüber. Auch 2013 dankte der Papst
       den Teilnehmern des „Marsches für das Leben“ für ihren tatkräftigen
       Einsatz.
       
       In den USA gibt es mittlerweile eine Mehrheit, die gegen Abtreibungen ist –
       anders als in den Siebzigern. Könnte das in Deutschland auch passieren? 
       
       Der Einfluss christlicher Gruppen in den USA ist sehr viel größer als in
       Deutschland. Wir haben aber diese zwiespältige Gesetzeslage. Eigentlich
       müsste es nun weiter nach vorn gehen. Aber dafür gibt es gerade wenig
       Bewegung. Die andere Seite dagegen, die alles zurückdrehen möchte, ist sehr
       agil. Ich hoffe, Frauen lassen sich zumindest die Rechte, die sie haben,
       nicht wegnehmen.
       
       20 Sep 2014
       
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