# taz.de -- Kurdische Flüchtlinge in der Türkei: Exil im Staub
       
       > Tausende Kurden fliehen vor dem Terror des IS in Syrien. In ihrem wenigen
       > Gepäck haben sie grausame Geschichten aus dem Kriegsgebiet.
       
 (IMG) Bild: Eine aus Syrien geflohene Kurdin isst in Suruc ein Stück Brot
       
       SURUC taz | Der Frieden ist dreckig. Im gleißenden Vormittagslicht steht
       Fadi Tamas, Schweiß perlt auf seiner Stirn, dann schüttet er eine
       Wasserflasche über seinem Gesicht aus. Er ist dem Bürgerkrieg entkommen,
       aber herumwirbelnder Staub und Sand lassen ihn kaum etwas sehen.
       
       Der 23-Jährige war noch nie zuvor in der Türkei, jetzt will er wissen, wie
       dieses Land aussieht, das ihn aufnimmt. Das Wasser trocknet in der Hitze
       augenblicklich auf seiner Haut, der junge Mann blinzelt in der Sonne. „Ich
       bin der Türkei so dankbar, dass sie uns hilft“, sagt er auf Kurmandschi,
       einem kurdischen Dialekt. Seine Stimme klingt elend und matt. Aus der Ferne
       sind Artillerie- und Maschinengewehrfeuer zu hören. Das Erste, was Tamas
       von der Türkei sieht, ist eine Kurdin, die weinend auf dem schmutzigen
       Boden sitzt.
       
       Der syrische Kurde bewegt sich erschöpft in einem Tross von Flüchtlingen.
       Manche der Entkommenen sind barfuß oder haben sich Tücher um die nackten
       Füße gewickelt. Einige humpeln über die türkisch-syrische Grenze, ihre
       Lippen sind aufgesprungen, Dreck verklebt ihre Haare, Kinder weinen und
       schreien an der Hand ihrer Eltern. Es gibt Flüchtlinge, die tragen einen
       Angehörigen auf ihrem Rücken herüber, viele schleppen Matratzen, Decken und
       große Säcke mit zusammengepacktem Hab und Gut.
       
       Andere sind so ordentlich gekleidet, als seien sie nur mal kurz auf dem Weg
       in den Supermarkt. Sie haben nicht einmal Gepäck dabei, lediglich eine
       Wasserflasche in der Hand und gehen aufrecht durch die Kontrollposten
       mitten in der kargen Landschaft.
       
       ## Der Wahnsinn rückt näher
       
       Auch Tamas musste alles zurücklassen, nein, er wollte alles zurücklassen.
       „Ich möchte so schnell wie möglich wieder zurück“, sagt er. „Ich weigere
       mich einfach, mein Zuhause den Terroristen zu überlassen.“ Der Student
       trägt ein kariertes Hemd, Jeans und Sportschuhe. Wenn nicht der ganze Staub
       auf seiner Kleidung wäre, dann würde man ihm die Strapazen kaum ansehen.
       
       All diese Menschen fürchten sich vor dem Wahnsinn, der immer näher rückt.
       Sie sind auf der Flucht vor den Dschihadisten des „Islamischen Staats“
       (IS). Hier, nahe der 60.000-Einwohner-Stadt Suruc an der türkisch-syrischen
       Grenze, sind zahlreiche Absperrungen aufgebaut, um Chaos zu verhindern. Die
       Flüchtlinge werden schrittweise und in kleinen Gruppen vorgelassen. Um die
       Massen zurückzudrängen, setzten die Grenzbeamten schon Tränengas ein. Jeder
       Einzelne und jedes Gepäckstück werden von Polizisten mit Mundschutz nach
       Waffen durchsucht, erst dann geht es weiter.
       
       Der Grenzabschnitt in der Südostprovinz Sanliurfa liegt nur wenige
       Kilometer von der syrischen Stadt Ain al-Arab entfernt, die von ihren
       kurdischen Einwohnern Kobane genannt wird. Viele Syrer waren schon zuvor
       dorthin geflohen, weil diese nordsyrische Stadt als vergleichsweise
       friedlich galt. Bis sie vom IS umstellt wurde.
       
       ## Warnung vor Massenmord
       
       In den vergangenen zwei Wochen haben die Islamisten nach Angaben der in
       London ansässigen oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für
       Menschenrechte mindestens 64 Dörfer rund um Ain al-Arab erobert. Die
       syrische Opposition warnt vor einem Massenmord. In Suruc erzählen die
       Entkommenen grausige Geschichten. Wie IS-Kämpfer ihre Häuser plünderten und
       sie jagten, wahllos Menschen ermordeten und Frauen vergewaltigten. Strom-
       und Wasserleitungen seien gekappt, Mobilfunkmasten zerschossen worden.
       
       Wer in Suruc von der Türkei nach Syrien hinüberschaut, kann wegen des
       heftigen Windes und des aufwirbelnden Sandes kaum etwas sehen. Erst wenn
       Sand und Staub sich ein wenig legen, erkennt man hinter den zahlreichen
       Gittern und dem Stacheldraht auf der syrischen Seite Menschenschlangen,
       Tausende stehen gelassene Autos und herumstehende Tiere. Weil die
       Flüchtlinge ihre Kühe, Schafe und Lämmer wegen einer Seuchengefahr nicht
       mitnehmen dürfen, müssen diese in der brennenden Hitze zurückgelassen
       werden.
       
       Der türkische Katastrophenschutz versorgt die herrenlosen Tiere mit Heu und
       Wasser. Nachts, wenn es ganz still ist, ist nur das Blöken und Muhen zu
       hören. Furchtbar sei das, sagt ein türkischer Soldat. „Für mich hört es
       sich so an, als würden die Tiere sterben. Ich träume mittlerweile sogar
       davon“, erzählt er. Seit drei Tagen stehe er jeweils 15 Stunden an der
       Grenze. Weil ihn die Laute der Tiere schlaflos machen, habe er nachts schon
       Futter hinübergebracht.
       
       Der Vorstoß der IS-Dschihadisten auf Ain al-Arab hat eine regelrechte
       Massenflucht ausgelöst, die Türkei öffnete vorvergangenen Freitag neun
       Grenzübergänge. Seitdem haben mehr als 150.000 Menschen aus der Region
       Zuflucht in der Türkei gesucht. „Das ist der größte Zustrom in die Türkei
       in so kurzer Zeit seit Beginn der Krise vor dreieinhalb Jahren“, sagt Selin
       Ünal vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Einmal in der Türkei angekommen, können
       sie vorerst bleiben. Zwar kann die Regierung die Hilfesuchenden nur
       notdürftig versorgen, aber zumindest müssen sie nicht in ihrer Heimat auf
       den Tod warten: auf eine Kugel, die sie trifft; auf den Hunger, der sie
       sterben lässt; auf eine Bombe, die ihr Haus zerstört; auf einen
       Terroristen, der sie ermordet.
       
       ## Kaum Unterstützung für die Flüchtlinge
       
       Mittlerweile leben 1,5 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge hier. Zum
       Vergleich: Die Bundesregierung hat zugesagt, 20.000 Syrern einen
       „humanitären Aufenthaltstitel“ zu bieten. Wegen des schleppenden
       Aufnahmeverfahrens konnten bisher nur 8.000 Menschen einreisen. Wirklich
       verantwortlich fühlt sich niemand für diese Flüchtlinge.
       
       Aber weil die Türkei nicht alleine für die Versorgung der Flüchtlinge
       aufkommen kann, hat das UN-Flüchtlingshilfswerk die internationale
       Gemeinschaft um 497 Millionen US-Dollar (386 Millionen Euro) für die
       Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei gebeten, aber erst 21 Prozent der
       Summe erhalten. „Das ist die geringste Unterstützung unter allen Ländern,
       die syrische Flüchtlinge beherbergen, und die Türkei hat die größte Anzahl
       von Flüchtlingen“, kritisiert Ünal. „Wir als Vereinte Nationen können nicht
       mehr unternehmen, wenn wir nicht mehr Unterstützung erhalten.“
       
       Jetzt, eine Woche nach der Grenzöffnung, ist der Ansturm nicht mehr so
       dramatisch wie an den Tagen zuvor. Aber immer noch flüchten hier jeden Tag
       mehrere Hundert Menschen in das sichere Nachbarland, ein Ende des
       Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen – des syrischen Bürgerkriegs und des
       IS-Terrors erst recht nicht. In Suruc werden die Ankommenden registriert,
       medizinisch versorgt und dann in Auffanglager gefahren. Eine halbe
       Millionen Kurden sollen noch in Ain al-Arab eingekesselt sein, heißt es.
       
       „Wenn nicht ganz schnell Hilfe kommt, dann werden die Menschen dort
       verhungern“, sagt Tanas. Dessen Eltern und drei Geschwister sitzen im
       Bürgerkrieg fest, der junge Mann musste alleine losziehen. Dann holt er
       sein Handy aus der Hosentasche, versucht inmitten dieser staubigen
       Landschaft seine Familie zu erreichen. „Keine Verbindung“, sagt er und
       schaut auf das Telefon, er klingt ruhig, wenn er redet, dabei ist er voller
       Furcht. Noch ist es dem IS-Terroristen nicht gelungen, Ain al-Arab
       einzunehmen. Nach Agenturberichten gelang es kurdischen Kämpfern bisher,
       die IS-Offensive im Süden und Osten von Ain al-Arab zu stoppen. Es ist der
       zweite Versuch der Terroristen, die Stadt zu stürmen. Sie waren erst im
       Juli mithilfe von Kurden aus der Türkei abgewehrt worden.
       
       ## Gefahr von Anschlägen gegen US-Bürger
       
       Der IS hat seinen Vormarsch in Syrien begonnen, bevor die Islamisten dann
       weiter in den Irak vorrückten. In Syrien bediente sich der IS in den
       Waffenlagern der Armee und anderer Rebellen. Trotz aller internationaler
       Bemühungen gelangt es den Dschihadisten, in immer mehr Gebiete
       einzumarschieren und ihre schwarze Flagge zu hissen. Am Dienstag nun haben
       die USA mit der Unterstützung von mehreren arabischen Staaten erstmals
       IS-Stellungen in Syrien angegriffen. In der Nacht zum Donnerstag nahmen die
       Verbündeten erstmals gezielt Ölanlagen ins Visier. Experten gehen davon
       aus, dass der IS jeden Tag Einnahmen in Millionenhöhe aus dem Verkauf von
       Öl erzielt.
       
       Die Angriffe sind ein Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg. Zum ersten Mal
       seit Beginn des Widerstandes gegen den syrischen Präsidenten Baschar al
       Assad haben die USA in dem Bürgerkriegsland interveniert. Nach langem
       Zögern ist nun auch die Türkei bereit, den Kampf gegen die IS-Milizen zu
       unterstützen. Auf dem Weg von Suruc an die Grenze sind seit Mittwoch
       überall Soldaten und Panzer stationiert, auf jedem Panzer wurde die
       türkische Flagge gehisst. Deswegen haben die USA nun ihre Bürger in der
       Türkei gewarnt. Die Gefahr terroristischer Anschläge sei groß, erklärte die
       US-Botschaft in Ankara.
       
       „Hätten die USA uns früher geholfen, müssten jetzt nicht so viele Menschen
       fliehen“, sagt Halil, der an der Grenze auf seine Familie wartet und seinen
       Nachnamen nicht nennen will. Andere Flüchtlinge äußern sich ähnlich. Auch
       Tamas befürwortet das Bombardement, aber er sagt auch: „Wie wollen die
       Amerikaner den IS treffen, ohne die Zivilisten dort zu gefährden?“ Aus der
       Ferne in Syrien ist immer wieder ein dumpfes Knallen zu hören – es sind
       hochgegangene Minen.
       
       26 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cigdem Akyol
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Kurden
 (DIR) UNHCR
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Schwerpunkt Kobanê
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nach dem Anschlag in Suruc: Polizei identifiziert Verdächtigen
       
       Die türkische Polizei verdächtigt einen 20-jährigen Türken als Attentäter.
       Am Mittwochmorgen wurden zwei Polizisten bei einem Anschlag getötet.
       
 (DIR) Linken-MdB über Kurdengebiete: „Kein Vertrauen in türkisches Militär“
       
       Sabine Leidig bereist mit einer Delegation der Linkspartei die
       syrisch-türkische Grenzregion. Dort seien die Zustände unerträglich.
       
 (DIR) Vormarsch der Dschihadisten: Ein paar Meter hinter dem Zaun
       
       Syrische Kurden bringen ihre Familien in Sicherheit auf die türkische Seite
       – und kehren zurück, um gegen die IS-Miliz zu kämpfen.
       
 (DIR) Journalisten im Krisengebiet: Voll draufhalten
       
       Schicksale von der türkisch-syrischen Grenze sind begehrt, journalistisches
       Ethos scheint keine Rolle zu spielen. Doch nicht alle wollen sich damit
       abfinden.
       
 (DIR) Kurden flüchten vor IS in die Türkei: An der Grenze zum Terrorstaat
       
       Immer mehr syrische Kurden flüchten vor den IS-Milizen in den Nachbarstaat
       Türkei. Bewaffnete Kämpfer nehmen den umgekehrten Weg.
       
 (DIR) Furcht vor IS-Kämpfern: Syrische Kurden fliehen in die Türkei
       
       Milizionäre des „Islamischen Staats“ bedrohen die syrisch-kurdische
       Großstadt Kobane. 70.000 Flüchtlinge erreichen die Türkei. Nun ist die
       Grenze zu.
       
 (DIR) Kommentar Flüchtende Kurden: Vormarsch der Dschihadisten
       
       Der IS bedroht die kurdische Stadt Ain al-Arab in Syrien. Weil es sich bei
       den Flüchtlingen um PKK-Verbündete handelt, zögert die Türkei mit Hilfe.
       
 (DIR) Die Türkei und die IS: Grenzgeschäfte mit dem Terror
       
       Die Türkei gilt als Unterstützer der IS-Terroristen. Vor denen hat Erdogan
       nun aber selbst Angst und gräbt eine alte Idee aus: die Flugverbotszone.