# taz.de -- Zum Tod von Siegfried Lenz: Der Heimatkundige
       
       > Nicht nur mit der „Deutschstunde“ beflügelte Lenz Nachkriegsfantasien von
       > einem friedlichen Leben. Nun ist er 88-jährig gestorben.
       
 (IMG) Bild: Politiker machen einen Job – und Schriftsteller einen anderen. Er wusste das genau: Siegfried Lenz.
       
       Mag sein, dass sein stiller Ruhm, der ihm spätestens seit den siebziger
       Jahren zuerkannt wurde, neulich angekratzt wurde. Da kam heraus, dass Emil
       Nolde, der Maler aus dem Nordfriesischen keineswegs zu den von den
       Nationalsozialisten Verfemten gezählt werden kann, sondern tatsächlich ein
       Mann war, der so dachte wie die gewöhnlichen Braunen im Deutschen Reich
       selbst, aber stilistisch hin und wieder nicht die kalte Ästhetik der
       sogenannten deutschen Kunst zu bedienen wusste.
       
       Dass dieser Fall mehr als nur ein Kunstpublikum bewegte, liegt natürlich an
       einem Schriftsteller, der aus Nolde, dem Maler, ein Denkmal des stillen
       Widerstands wider die Machthaber bis 1945 gemacht hatte: Siegfried Lenz’
       Figur des Max Ludwig Nansen hatte diesen Mann zum Vorbild.
       
       Die „Deutschstunde“ jedenfalls war schon wenige Jahre nach ihrem Erscheinen
       1968 Lektüre an allen Realschulen und Gymnasien. Sie war der erzählte
       Beweis, dass es nicht nur Hurra schreiende Deutsche gab unter Hitler und
       den Seinen, sondern Verweigerung, Eigensinn, Störrischkeit.
       
       ## Unterm Himmel viel Grau
       
       Doch ohne diesen Autor, ohne die Persönlichkeit, die die moralische Not an
       der grünen, stürmischen Nordseeküste zu schildern wusste, wäre die ethische
       Lektion nicht zum Gelingen gekommen. Und nicht nur diese: Dass ein
       kriegerisches Tun – ja, ohne dass er dieses Wort genutzt hätte –
       rassistisches Handeln unanständig und zu verurteilen ist. Obwohl – und auf
       dieses Wort kommt es bei diesem Autor an – oft die Dinge nicht sind, wie
       sie scheinen: Schwarz oder weiß? Das akzeptierte Lenz nicht, es gäbe viel
       Grau am und unter dem Himmel, so seine Haltung.
       
       In einer Hinsicht war er allerdings entschieden: Dass seine erste Heimat,
       in die er 1926 hineingeboren wurde, Lyck in Ostpreußen, nach 1945 polnisch
       sei – und nicht wiederzuhaben sein würde. Lenz war die wichtigste
       öffentliche Figur jenseits der politischen Elite, für die eher die
       Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff sprach, die früh für die
       Ostpolitik Willy Brandts in den sechziger Jahren eintrat.
       
       Trotzdem hat Lenz in vielen seiner Texte – Romane, Novellen, Erzählungen,
       Radiofeatures – den Klang, die Farben, die Gerüche seines Ostpreußens zum
       Wiederschmecken gebracht. „Es waren Habichte in der Luft“, sein
       Romanerstling 1951, oder vor allem „So zärtlich war Suleyken“ als Erzählung
       1955: Niemand konnte diese deutsche Gegend so intensiv, fein, zärtlich und
       wehmütig bergen – und das auch noch ohne diese gewisse Gefühlsduseligkeit,
       ohne die ja der generationsverwandte Günter Grass wenigstens ein passabler
       Autor wäre.
       
       ## Politisch die große Bühne gescheut
       
       Und das mochte das in die Hunderttausende gehende Publikum nachhaltig.
       Frauen vor allem liebten seine Geschichten, Buchhändlerinnen, die
       wichtigsten Agentinnen zum Erfolg, empfahlen diesen exzellenten Erzähler
       weiter. Weil sie alle sich ein wenig in seiner Geschichte erkennen wollten?
       
       Lenz, Sohn aus einer Zollbeamtenfamilie, nahm noch als Jugendlicher, eben
       mit dem Notabitur versehen, am Zweiten Weltkrieg in der Kriegsmarine teil.
       Er soll, ausweislich von Unterlagen des Berliner Bundesarchivs, Mitglied
       der NSDAP gewesen sein – aber der die meisten Jahre seines Lebens in
       Hamburg wohnende Schriftsteller, sagte nur, er wissen nichts davon, ein
       Mitgliedskärtchen ausgefüllt zu haben. Aber selbst, wenn es doch so gewesen
       wäre: Siegfried Lenz hat die neue, demokratische Zeit nach 1945 beherzt
       auch zu seiner gemacht. Nach der Desertion noch vor dem 8. Mai 1945 floh er
       nach Dänemark und von dort nach Schleswig-Holstein in britische
       Kriegsgefangenschaft, wo er als Dolmetscher arbeiten konnte.
       
       Hysterisches Gejammere über den Verlust der Ostgebiete, ledriges Genöle ob
       alter Zeiten, die besser gewiss gewesen waren – gar nicht sein Ding.
       Politisch scheute er die große Bühne, anders als Grass, rief aber wie er so
       öffentlich wie beherzt zur Wahl der SPD auf. Die sozialliberalen Zeiten von
       1969 bis zur Kanzlerschaft Helmut Kohls waren auch die seinen – Deutschland
       war ein besseres, ein weniger sittlich-christliches Konstrukt in Frieden
       geworden.
       
       Doch nicht Willy Brandt war einer seiner besten Freunde (aus
       sozialdemokratischer Familie), sondern Helmut Schmidt – mit ihm teilte er
       eine gewisse Vorliebe für das Norddeutsche, für gelbe Rapsfelder und
       frische Brisen. Jörg Magenau hat es in seinem eben erschienenen Buch über
       die beiden Spitzenhanseaten aus Hamburg herauspräpariert. Mit Schmidt
       bejahte auch Lenz eine entschiedene Dialogfähigkeit mit Dissidenten aus dem
       realsozialistischen Osten.
       
       ## Um die Welt zu verstehen
       
       Schon 1971 hat er die Lingua franca der zwei Jahren zuvor
       regierungsentfernten Union in der Rede „Die Herrschaftssprache der CDU“
       erörtert – eine für heutige Verhältnisse eher sachte, doch dringliche
       Philippika gegen das Schnarrer- und Ärmelschonertum, das der Republik ja
       noch ziemlich eigen war.
       
       Siegfried Lenz konnte diese Volten lancieren – er war bis weit über die
       studentischen Milieus der Achtundsechzigerszene glaubwürdig: Wenn einer wie
       Lenz sich mokiert, muss was dran sein. Mit Pavel Kohout, Walter Kempowski,
       Manès Sperber und Leszek Kolakowski empfand er sich politisch und kulturell
       nah – antikommunistisch, freiheitlich, sozialliberal. „Ich bekenne, ich
       brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen – und zwar in gleicher Weise,
       wie andere womöglich die Formel brauchen, das Dokument“: So erläuterte er
       einmal seinen schriftstellerischen Fleiß. Er hörte – Kempowski gleich –
       wahnsinnig gerne Begebenheiten, Stories, Anekdoten, musste sie aufschreiben
       und der Welt zeigen. Und wie ihm das gelang – vor allem in den ostpreußisch
       gehaltenen Romanen. Sie lesen sich wie Klangbilder einer nicht
       wiederkehrenden Kultur.
       
       Insofern blieb immer das Heimatliche sein Thema. In einer schön bebilderten
       Geschichte über „Jütländischen Kaffeetafeln“ berichtete er, wie sein
       Ferienhaus in Dänemark von den Nachbarn begutachtet wurde, ehe sie ihn als
       einen der ihren erkennen wollten. Gesten von Gästen, die Anerkennung ohne
       die Mildtätigkeit von Gastgebern wollen und zeigen, dass sie auch
       dazugehören können.
       
       Lenz war nie auf dem elysischen Trip, wäre nie der Idee verfallen, wie
       Günter Grass, durch seine Gespräche mit Politikern wie Willy Brandt könne
       er das Schlimmste verhüten: Politiker machen einen Job – und Schriftsteller
       einen anderen. Siegfried Lenz wusste das genau.
       
       Gestern ist er 88-jährig in Hamburg gestorben. Was in der Bundesrepublik an
       Ehrungen zu vergeben war, hat er bekommen. Die Verleihung des von ihm
       finanzierten Siegfried-Lenz-Preises im November erlebt er nicht mehr: Der
       israelische Preisträger Amos Oz wird ihn nun in einem Nekrolog würdigen
       können.
       
       7 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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