# taz.de -- Die Wahrheit: Diagnose: Arztsohn
       
       > Geld, Liebschaften, eine glänzende Karriere - das erwartet jeden
       > Sprössling eines Mediziners. Behauptet zumindest die einschlägige Presse.
       > Wie es wirklich ist ...
       
       In den MAD-Heften, die ich als Winzling verschlang, gab es einen
       Standardwitz, der mir schon damals nicht recht einleuchten wollte. Wann
       immer eine Mutter ihrer heranwachsenden Tochter einen Junggesellen empfahl,
       war dies der Arztsohn aus der Nachbarschaft, dessen Wohlstand, glänzende
       Karriereaussichten und unbeschränkter Zugang zu Verhütungsmitteln als
       besonders begehrenswert erschienen. Nichts davon deckte sich mit meiner
       Lebenswirklichkeit.
       
       Als Sohn eines Arztes geboren zu sein, brachte mir im Gegenteil den Status
       eines Parias ein, ja formierte sich im Lauf der Lebensjahre zu einem
       eigenständigen Krankheitsbild. Denn wie wir heute wissen, ist man umso
       kränker, je häufiger man beim Arzt ist. Folglich ist niemand so krank wie
       wir armen Arztkinder.
       
       Die Stellung unserer Familie in der Gesellschaft war ungefähr mit der des
       Dorfdeppen vergleichbar: Ein Gang in die Öf fentlichkeit in Begleitung
       meines Vaters bedeutete eine endlose Kette an Peinlichkeiten.
       Restaurantbesitzer, die sich über lange Wartezeiten in der väterlichen
       Praxis geärgert hatten, ließen uns in ihren Betrieben stundenlang auf Pizza
       warten, rissen Witze auf unsere Kosten.
       
       Im örtlichen Einkaufszentrum stürmten wildfremde Menschen auf uns zu,
       während sie sich die Kleider vom Leib rissen und auf „so Stellen“ zeigten.
       Völlig unbefangen erzählten sie ihm von Geschlechtskrankheiten und seltsam
       verfärbten Körperflüssigkeiten, als gehörte ich zum medizinischen Personal.
       
       Noch heute bewege ich mich verkrampft in der Öffentlichkeit, denn ich weiß:
       All diese Menschen um mich herum sind tatsächlich schwer krank, unter ihrer
       Kleidung von widerwärtigen Ekzemen entstellt und ohne jede Scheu, diese
       herzuzeigen.
       
       Und die Heiratsempfehlungen? Ha! Nachdem nahezu alle Medien jahrzehntelang
       das Image des golfspielenden Leichenfledderers geprägt hatten, war mein
       Image ungefähr da, wo wohl die Söhne von Immobilienmaklern stehen: Du
       kannst ja auch nichts dafür, was dein Dad macht, aber eklig ist es schon.
       
       Um dem schlechten Image Kontra zu geben und die Tugend der Bescheidenheit
       zu pflegen, wurden wir Kinder auch finanziell kurz gehalten, so dass ich
       mir Freunde nicht einmal kaufen konnte. Wie beneidete ich die
       Rechtsanwaltssöhne in meiner Klasse, die mit dem ergaunerten Geld ihrer
       Väter um sich warfen, sorglos um einen Ruf, der so ruiniert war, dass man
       ihn gar nicht erst retten wollte. Einzig mit frei erfundenen medizinischen
       Ratschlägen konnte ich brillieren, aber junge Menschen kann man damit nicht
       beeindrucken.
       
       Es ist ein tollkühner Messias-Komplex, an dem wir Arztkinder leiden. Mein
       Erzeuger hat mich nicht nur hervorgebracht, sondern ist auch Herr über
       Leben und Tod, richtet die Sünden von Völlerei, Trunksucht und anderen
       Maßlosigkeiten – und heilt die Welt von ebendiesen. Mein Vater ist Gott,
       und ich bin Gottes Sohn. Niemand kann mich retten, wenn nicht ich selbst.
       Und ihr da draußen, die ihr gebrechlich und moribund seid, tröstet euch mit
       diesem Wissen: Für all eure Krankheiten leide ich immer auch ein bisschen
       mit.
       
       13 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leo Fischer
       
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