# taz.de -- Debatte Pazifismus vs. Intervention: Schuldig durch Unterlassen
       
       > Friedenspolitik war immer höchst umkämpft. Doch bis heute gibt es keine
       > Alternative zur notfalls bewaffneten Friedenssicherung durch die UN.
       
 (IMG) Bild: Flüchtlinge warten Ende September an der türkisch-syrischen Grenze.
       
       Endlich wird diese Debatte geführt. Denn hinter der hitzigen
       Auseinandersetzung in Parteien, Kirche und Gesellschaft um die richtige
       Reaktion auf das Morden des Islamischen Staates steht die Frage: Was ist
       heute Friedenspolitik? Und: Was bedeutet Pazifismus?
       
       Besonders scharf und exemplarisch ist der Streit in der Linkspartei. Die
       sogenannten Reformer um Stefan Liebich und Dietmar Bartsch plädieren für
       ein Mandat der Vereinten Nationen, um die Eroberung Kobanis doch noch zu
       stoppen. Dem hält die Fraktion um Lafontaine und Wagenknecht entgegen: Wer
       einen UN-Militäreinsatz befürwortet, ginge den Lügen der US-Propaganda auf
       den Leim und versuche, die friedenspolitischen Positionen der Linken zu
       schleifen. Frieden muss gestiftet werden.
       
       Beide Seiten reklamieren für sich, die Partei des Friedens zu vertreten –
       und stehen damit in „guter“ Tradition: Denn von Beginn an war die Idee des
       Pazifismus hochgradig umkämpft. Eines aber ist überhistorisch richtig:
       Pazifismus meint immer einen aktiven Vorgang, kommt er doch von „pacem“ für
       Frieden und „facere“ für machen. Schon für Immanuel Kant war klar: Der
       Frieden „muss gestiftet werden“. Denn der Naturzustand der Menschen war für
       ihn kein Friedens-, sondern der Kriegszustand.
       
       Hintergrund des Kant’schen Denkens waren die blutigen Konfessionskriege,
       insbesondere der 30-jährige, der erst mit dem Westfälischen Frieden 1648
       ein Ende fand. In der kantianischen Tradition ist daher ein universelles
       Völkerrecht Voraussetzung für dauerhaften Frieden.
       
       Dieser Gedanke zieht sich bis in das 20. Jahrhundert und die Idee des
       Völkerbundes als überstaatlichen Friedensstifters. Gegen den als
       „sentimental“ verurteilten Pazifismus einer Bertha von Suttner („Die Waffen
       nieder“) positionierten sich in diesem Geiste der Pazifismus des Rechts und
       der „wissenschaftliche Pazifismus“. Beide hatten das gleiche Ziel: den
       Aufbau des Völkerrechts. Denn, so ihre Überzeugung: „Die Ursachen der
       Kriege liegen in der Anarchie der internationalen Beziehungen“ (Alfred
       Fried).
       
       ## Radikaler Antimilitarismus
       
       Gegen diesen wiederum als „bürgerlich“ kritisierten Pazifismus entstand in
       der Weimarer Republik ein stark anarchistischer Pazifismus, der auf
       radikalen Antimilitarismus setzte und sich vor allem gegen den Wiederaufbau
       der Reichswehr (Carl von Ossietzky) richtete. Die Parolen lauteten „Nie
       wieder Krieg“, „Krieg dem Kriege“ oder „Soldaten sind Mörder“ (Kurt
       Tucholsky).
       
       Erst nach 1945, aber in Anknüpfung an die anarchisch, anti-etatistische
       Tradition der Zwischenkriegszeit, setzte sich das bis heute wohl
       vorherrschende Pazifismusverständnis durch. Gerichtet erst gegen die
       Wiederbewaffnung, dann gegen den Beitritt zur Nato, wurde aus Pazifismus
       ein Unterlassen jeglicher Kriegshandlung. Eine prägnante Definition
       verdanken wir ausgerechnet dem Militaristen Franz Josef Strauß: „Wer noch
       einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“
       
       Im weiteren Verlauf des Kalten Kriegs wurde atomare Abrüstung oberstes
       Ziel. „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“
       lautete die Devise, West- und Ostfriedensbewegung vereinend. Und diese
       Überzeugung hatte absolute Berechtigung: In der Blockkonfrontation
       bedeutete schließlich jeder Griff zur Waffe die Gefahr eines Atomkrieges.
       
       Seit 1989 befinden wir uns jedoch in einer neuen Ära. Wir leben in einer
       Welt zunehmender Chaotisierung und Anarchie. Heute haben wir es mit einer
       Situation zu tun, die der des 30-jährigen Krieges vergleichbar ist, da
       Staaten zerfallen und asymmetrische Kriege rasant zunehmen.
       
       Natürlich bleibt Abrüstung auch in Zukunft unabdingbar. Doch eine primär
       auf Unterlassen orientierte Friedensstrategie wird den neuen
       Herausforderungen nicht gerecht. Fast zwangsläufig ist die alte
       Friedensbewegung in eine Identitätskrise geraten. Angesichts der Lage in
       Kobani und auch in anderen Teilen Syriens erhält Pazifizierung, also
       aktive, kriegerische Intervention, eine ungeheure Dringlichkeit. Denn: Wir
       können uns auch – und gerade – durch Unterlassen schuldig machen.
       
       ## „Du sollst nicht töten lassen“
       
       Der ehemalige EKD-Vorsitzende, Bischof Huber, geht daher sogar so weit, aus
       dem christlichen Gebot „Du sollst nicht töten“ das Postulat „Du sollst
       nicht töten lassen“ abzuleiten. Wer Mörder nicht aufhält, macht sich
       schuldig. Pazifismus führt also in der Konsequenz dazu, dass man notfalls
       töten muss, um weiteren Mord zu verhindern. Der Pazifist Alfred Fried
       wusste bereits vor einhundert Jahren, dass daher alles darauf ankommt,
       durch eine geordnete, legitime Gewalt die Anarchie abzulösen.
       
       Seit 1989 erleben wir jedoch auch das Scheitern jener Friedensordnung, die
       eigentlich die große Lösung des letzten Jahrhunderts sein sollte – nämlich
       der Vereinten Nationen. Vor allem durch den Westen, insbesondere die USA
       und ihre „Koalitionen der Willigen“, wurde die alleinige Legitimation der
       UN immer stärker untergraben, von Kosovo über Irak bis Libyen. Auch deshalb
       ernten wir heute keine Friedens-, sondern eine Kriegsdividende, von Mali
       bis Syrien.
       
       Die Konsequenz daraus kann jedoch gerade nicht darin bestehen, die UN – als
       den einzigen legitimen Friedensstifter – zu verabschieden. Zentrale
       friedenspolitische Forderung muss es vielmehr sein, endlich
       funktionierende, interventionsfähige Vereinte Nationen zu schaffen.
       
       Rupert Neudeck forderte an dieser Stelle zu Recht einen neuen, „radikalen
       Pazifismus“. Was dies allerdings konkret bedeutet, ist keineswegs neu,
       sondern das alte Konzept in Kapitel VII Artikel 43 der UN-Charta: Demnach
       müssen die einzelnen Staaten den UN Kontingente von Soldaten zur Verfügung
       stellen – für eine global agierende Polizei.
       
       Das wäre praktizierte Weltinnenpolitik, die auch die postulierte
       „Responsibility to protect“ einschlösse und schwerste, gar genozidale
       Menschenrechtsverletzungen verhindern könnte. Solange eine solche
       „UN-Polizei“ bloße Utopie bleibt, wird es jedoch immer wieder erforderlich
       sein, im Einzelfall ein robustes UN-Militärmandat zu fordern, um dadurch
       das Morden auf legitime Weise zu beenden – wie konkret in Kobani.
       
       18 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Albrecht von Lucke
       
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