# taz.de -- Weltpolitik in Arkhyz: Das Wunder vom Kaukasus
       
       > Im unspektakulären Dorf Arkhyz trafen sich Kohl und Gorbatschow in einer
       > Datscha, um die Wiedervereinigung Deutschlands auszuhandeln.
       
 (IMG) Bild: Und über allem wachte der Eber
       
       Der Weg zur Gorbatschow-Datscha ist nicht leicht zu finden. Von der
       Hauptstraße kaum sichtbar, öffnet sich langsam ein eisernes Tor und macht
       die Zufahrt zum Bauwerk frei, das erst nach einer letzten Biegung
       auftaucht. Die Datscha steht am Ufer des großen Zelentschuk – ein massiver,
       geduckter Bau mit breiten Balkonen und spitzen Dächern, die dem Wetter auf
       1.400 Metern Höhe trotzen.
       
       Herr Ljubow, der Direktor, seine Gattin und die Wirtschafterin stehen
       bereit und freuen sich, endlich einem Gast aus Deutschland den historischen
       Ort zeigen zu können – dem ersten seit Juli 1990. Auch der Schuldirektor
       des kleinen Dorfes, ein Hotelbesitzer und eine Dolmetscherin haben sich dem
       kleinen Empfangskomitee angeschlossen. Es scheint, als hätten alle nur auf
       diesen Moment gewartet.
       
       Die Datscha ist in einem äußerst gepflegten Zustand. Im Eingangsbereich ein
       ausgestopfter Gebirgsbock, dann kommt schon der Konferenzraum. Hier wurde
       um die Zugehörigkeit Deutschlands zur Nato und die Truppenstärke im
       wiedervereinigten Deutschland verhandelt. Im Billardzimmer nebenan fanden
       ebenfalls Gespräche statt. Im Speisesaal mit dem eleganten Kronleuchter
       wurde damals neben anderen typisch kaukasischen Speisen Schaschlik vom
       Hammel auf riesigen Spießen serviert, dessen Duft den Gästen auf dem
       Rückweg vom Spaziergang durch den Park schon in die Nasen wehte. Zum Sieg
       der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1990 in
       Rom prostete Gorbatschow dem Bundeskanzler mit armenischem Cognac zu.
       
       ## Die Reise hat sich gelohnt
       
       Herr Ljubow, der Direktor, lässt die Appartements öffnen, in denen Helmut
       Kohl und Raissa und Michail Gorbatschow gewohnt haben. Kohls Zimmer ist mit
       dunkelgrün gemusterter Tapete und dazu passenden Teppichen ausgestattet –
       ganz im Prachtstil der Sowjetunion. Vor dem Schlafzimmer liegt der Balkon,
       von dem aus Helmut Kohl zum sternenbedeckten kaukasischen Himmel
       emporgeblickt hatte. Er schreibt, dass ihn in diesem Augenblick das Gefühl
       der Zuversicht überkam und er sich sicher war, dass sich die Reise hierher
       gelohnt habe. „Wir haben Fortüne gehabt“, resümierte Kohl auf dem Weg
       zurück nach Bonn. Der Weg zur deutschen Einheit war frei.
       
       Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park, dorthin wo der Zelentschuk
       rauscht, kommt die Gruppe endlich zu dem rustikalen Tisch mit den Stühlen,
       die aus Baumstämmen herausgesägt wurden. Hier saßen am 16. Juli 1990 Kohl,
       Gorbatschow und Genscher, umringt von Raissa Gorbatschowa, Kohls
       Pressesprecher Hans Klein, Schewardnadse, Kohls außenpolitischer Berater
       Horst Teltschik, Finanzminister Theo Waigel. Kohl in Strickjacke,
       Gorbatschow in Pullover, nur Genscher trug Anzug. Bis 2001 waren
       Strickjacke und Pullover wie Reliquien in Haus der deutschen Geschichte in
       Bonn ausgestellt. Seitdem sind die Textilien im Magazin verschwunden.
       
       Etwas zögerlich nehmen die Besucher nun am Tisch Platz. Allen ist die
       derzeitige angespannte politische Lage bewusst. Es drängt sich der
       Vergleich mit 1990 auf, als die Gespräche hier das Ende eines langen
       Konfliktes brachten. Im Unterschied zu damals, als Raissa den anwesenden
       Journalisten einen Blumenstrauß pflückte, ist diesmal das Gras gemäht und
       zu Heuhaufen geschichtet.
       
       „Ich sehe ein freies, demokratisches Europa vom Atlantik bis zum Ural“,
       schrieb Kohls Pressesprecher Hans Klein später. Die Realität sieht heute
       anders aus. Doch im Moment genießt die kleine Gesellschaft die Ruhe des
       Ortes. Die Reise hierher hat sich – wie es schon Helmut Kohl empfunden
       hatte – gelohnt.
       
       Die Fahrt durch die endlose Steppe mit dem Besitzer des Hotels „Bergluft“,
       Ruslan Gedijew, vom Flughafen Krasnodar nach Arkhyz, dauert fast sechs
       Stunden. Die Monotonie der Landschaft wird nur ab und zu durch riesige
       Sonnenblumenfelder unterbrochen. Erst ab Maikop, einer Provinzstadt mit
       knapp 150.000 Einwohnern, wird es hügeliger und grüner. Einige Bäume
       spenden am Straßenrand Schatten. Endlich erheben sich in der Ferne
       feierlich die Berge des Großen Kaukasus.
       
       ## Refugium für Parteifunktionäre
       
       Dort, eingebettet im Nordhang, liegt Arkhyz, eine Siedlung in der Region
       Karatschai-Tscherkessien. Das Dorf wurde erst 1923 gegründet. Die am
       Nordhang des Kaukasus lebenden Tscherkessen ließ Stalin 1943 wegen
       angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht nach Kasachstan und Kirgisien
       deportieren. Das Schicksal teilen die Tscherkessen mit den Tschetschenen
       und den Krimtataren. 1957 erhielten die Tscherkessen die Erlaubnis zur
       Rückkehr in ihre Heimat. Viele von ihnen siedelten sich in Arkhyz an. 1980
       lebten hier 1.200 Einwohner, heute sind es 500.
       
       Das Dorf wirkt auf den ersten Blick nicht einladend. Eigentlich handelt es
       sich nur um eine breite, asphaltierte Hauptstraße, an der sich einige
       Geschäfte, das Hotel Bergluft sowie ein Basar reihen. Einige weitere Hotels
       liegen am Ufer des großen Zelentschuk, von der Straße aus nicht sichtbar.
       
       Kühe und die kleinen, wendigen tscherkessischen Pferde bestimmen das
       Straßenbild. Wenn die Dorfjungen oder die russischen Touristen die Straße
       entlang galoppieren, erfüllt das Klappern der Hufe die Luft. An den
       ungepflasterten Nebenstraßen, die sich je nach Wetterlage in Schlamm- oder
       Staubpisten verwandeln, sind die Häuser ohne eine ersichtliche Ordnung
       verteilt und mit großen Gärten umgeben. Dadurch dehnt sich das Dorf über
       eine große Fläche vom Waldrand bis zum Ufer des Zelentschuk aus.
       
       Das gesunde Klima und die Abgeschiedenheit haben hohe sowjetische
       Parteifunktionäre, darunter der sowjetische Ministerpräsident Alexej
       Kossygin und Parteichef Leonid Breschnew, dazu bewogen, hier ihre Datschen
       zu bauen – bei denen es sich in Wahrheit meist um Villen handelt. Die
       Datscha Kossygin liegt auf dem Gelände der Gorbatschow-Datscha. Eine
       weitere Regierungsdatscha ist etwas außerhalb des Ortes angesiedelt und
       heute ein Sanatorium. Dort wohnten 1990 die beiden Außenminister Genscher
       und Schewardnadse.
       
       Bei der Ankunft im Hotel Bergluft findet ein Festessen zu Ehren des
       Besuches aus Deutschland statt. Mit am Tisch sitzen eine ehemalige
       Deutschlehrerin und ihre Schülerin Alexandra Nikolajewna, die übersetzt.
       Die Deutschlehrerin schwärmt von Heinrich Heine. Bei einem Spaziergang
       durchs Dorf stimmt sie die „Loreley“ an – und kennt alle Strophen
       auswendig. Zu Sowjetzeiten wurde in der Schule Deutsch unterrichtet,
       erzählt sie, jetzt stehe Englisch auf dem Lehrplan.
       
       ## Land mit Phantomschmerzen
       
       Der Besuch aus Deutschland hat auch die Neugier des örtlichen
       Fernsehsenders Arkhyz24 geweckt. Zwei Tage nach dem Besuch der Datscha geht
       es nach Tscherkessk, der Hauptstadt der Region. Die Fahrt führt hinunter in
       die Ebene, durch die Steppe und das Gebirgsvorland mit bizarren
       Felsformationen. In der Ferne erhebt sich der Elbrus mit seinem 5.640 Meter
       hohen Doppelgipfel.
       
       In Tscherkessk ist es heiß. Eine moderne quirlige Stadt mit den üblichen
       Plattenbauten an der Peripherie. Die Fernsehstudios sind nagelneu und
       modern ausgestattet. „Wir freuen uns für die Deutschen, dass sie die
       Einheit ihres Landes erhalten haben“, sagt eine Redakteurin zur Begrüßung
       und fügt an: „Aber für uns hat Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion
       gebracht.“ Es entspinnt sich sofort eine Diskussion – nicht vor laufender
       Kamera –, ob denn ohne Gorbatschows Perestroika das Russland von heute
       denkbar wäre. Es scheint bei allen Gesprächen, dass das Land unter
       Phantomschmerzen leidet.
       
       Während der Rückfahrt aus Tscherkessk lässt ein Journalistenteam aus Japan,
       das über die Verhandlungen zur deutschen Einheit berichten will, anfragen,
       ob sich eine Reise nach Arkhyz lohnt. Auf jeden Fall!
       
       1 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christina Callori-Gehlen
       
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