# taz.de -- Tempelberg-Streit in Jerusalem: Weder Kamel noch Esel
       
       > Araber und Juden streiten, wem der Tempelberg in Jerusalem gehört. Wir
       > sollten eine gelbe Linie um den Berg ziehen. Und dann ein Schnitzel
       > essen.
       
 (IMG) Bild: Israelische Soldaten machen ein Selfie, im Hintergrund: der Tempelberg mit dem Felsendom.
       
       Nehmen Sie manchmal in Deutschland einen Zug? Ich mache das oft. Gerade bin
       ich am Hauptbahnhof in Hamburg, schaue mir die adretten Menschen an, den
       schönen Bahnsteig, die gewaltigen deutschen Züge. Und dann sehe ich direkt
       neben mir dieses Stückchen Bahnsteig – von gelben Linien umgrenzt. Einige
       Leute stehen in dem aufgemalten Quadrat und rauchen, andere stehen
       außerhalb und rauchen nicht. Kein Fuß eines Rauchers übertritt die Linie.
       Unglaublich, wie sich die Leute an diese Grenze halten. Ein Außenstehender,
       der es sieht, würde sagen: „Diese Deutschen.“
       
       Während ich diese Wesen ansehe, piepst mein Telefon. Eine E-Mail. Ich liebe
       mein Telefon, ein iPhone 6 plus – in Deutschland gekauft. Egal. Ich lese
       die E-Mail. Eine Dame names Steffi, eine sehr nette Dame vermutlich, da sie
       aus Berlin kommt – ich liebe diese Berliner –, fragt mich, ob ich etwas
       über den Jerusalemer Tempelberg schreiben würde. Für die taz. Die taz ist
       links, und ich kann nicht „nein“ sagen. Ich habe nur ein Problem: Wie soll
       ich Leuten, die keiner Zehe ihres Fußes erlauben, die gelbe Linie zu
       übertreten, die Geschichte dieses Heiligen Berges erklären?
       
       Im Nahen Osten kennt keiner gelbe Linien. Sie könnten einen Eimer gelber
       Farbe auf dem Boden verstreichen, und Araber als auch Juden würden Sie
       anschauen und fragen: Was will diese geistig kranke Person hier? Wie aber
       soll ich Ihnen, einem Gelbe-Linien-Wesen, die Geschichte des Heiligen
       Berges erklären, ohne es in die Kategorie von gelben Linien zu fassen?
       
       Vielleicht fange ich mit der Farbe an: Vergessen Sie Gelb! Dort drüben
       bedeuten gelbe Linien nichts. Rote auch nichts. Nur grüne und blaue.
       Beginnen Sie, bitte, in Grün und Blau zu denken.
       
       Kommen Sie damit klar? – Gut.
       
       Noch etwas sollten Sie vergessen: ein Wort, nämlich „Fakten“. Fakten,
       Schmakten – sie zählen überhaupt nichts. Denken Sie einfach an das, was
       Ihre Politiker am Wahltag versprechen. Dann wissen Sie, dass Fakten keinen
       Wert haben. – Aber was bleibt, fragen Sie, wenn Linien und Fakten weg sind?
       
       ## Die Geschichten hauen dich um
       
       Tja, Geschichten. Geschichten sind mächtiger als jede Realität. Denken Sie
       an Ihren Lieblingsfilm – vielleicht verstehen Sie dann, was ich meine. Der
       Heilige Berg sieht aus wie jeder andere Ort – zum Beispiel in Berlin-Mitte.
       Aber seine Geschichte und die Geschichten die sich um ihn drehen, hauen
       dich um. Mach dir allein seine vielen Namen klar: Tempelberg, Haram
       al-Sharif, al-Aksa. Das sind nur die bekanntesten. Jeder steht für etwas
       anderes.
       
       Die Juden sagen, der Heilige Tempel stand vor Tausenden von Jahren auf dem
       Berg und wird eines Tages wieder dort sein. Wie und wann? Ganz einfach: Der
       Messias wird auf einem viertausend Jahre alten weißen Esel, der
       ursprünglich Abraham gehörte, nach Jerusalem reiten und der Heilige Tempel
       in einer Feuerwolke vom Himmel hinabschweben. Deshalb ist dieser Ort den
       Juden heilig.
       
       Die Araber des Landes, fast alle Muslime, schwören dagegen darauf, dass
       kein weißer Esel je die Heilige Stadt betreten wird. Der Heilige Berg,
       sagen sie, hat nichts mit Juden zu tun – nur mit Muslimen. Eines Tages, vor
       über tausend Jahren, hielt ein himmlisches Pferd names Burak neben dem
       Propheten Mohammed in Mekka, ließ ihn aufsteigen, flog mit ihm auf den
       Heiligen Berg, von wo er in den Himmel weiterflog für ein besonderes
       Treffen mit Gott. Deshalb ist dieser Ort den Muslimen heilig.
       
       Einige Muslime denken, das mit dem Pferd sei doof. Welches Pferd? Es war
       ein Kamel. Ein himmlisches. Was auch immer. Wegen solcher Geschichten
       jedenfalls streiten sich diese zwei Cousins, die Araber und die Juden,
       darum, wem dieser Berg gehört.
       
       ## Wer ist der Mann, der zur Toilette geht?
       
       Das mache keinen Sinn? Geben Sie nicht auf. Gelbe-Linien-deutsche-Politiker
       und -Intellektuelle, die aus gutem Grund nicht an die Eselstory glauben,
       bestehen dennoch darauf, dass der Heilige Berg das Haus des himmlischen
       Tieres sei, Pferd oder Esel, und sie sind sogar bereit, Millionen Euro zu
       investieren. Verstehen Sie sie?
       
       Die Araber finden die gelben Kreaturen übrigens gut. Neulich war ich in der
       Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg, verspürte mitten in der Heiligkeit um
       mich ein Bedürfnis zu urinieren und ging zur Toilette. Sie hätten sehen
       sollen, was für eine Kettenreaktion das in Gang setzte: Islamische
       Security-Leute wurden sehr aktiv, sprachen in Walkie-Talkies, wer ist der
       Mann, der zur Toilette geht? Ein Deutscher. Diese Antwort liebten sie, und
       mir wurde erlaubt, so viel zu pinkeln, wie ich wollte. Hätte man ihnen
       erzählt, dass ich jüdisch bin, der Dritte Weltkrieg wäre ausgebrochen.
       
       Zurück zum Thema: Warum, fragen Sie, ist der Heilige Berg kürzlich vor
       unseren Augen explodiert? Ist ein weißer Esel gekommen? Ein himmlisches
       Kamel? Nein und nein. Es kamen einzig die Gelbe-Linien-Kreaturen und ihre
       Freunde, nenne alles: den Westen.
       
       Einige Jahre nun schon ist der Westen sehr mit den Arabern beschäftigt: In
       den Irak musste er zweimal einmarschieren, Libyen bombardieren, Chaos in
       Ägypten und Afghanistan stiften – alles im Namen von Peace & Love, zwei
       Worte, die die christliche Welt schon lange am Zersetzen ist. Und wenn Sie
       nicht zu sehr damit beschäftigt wären, auf einem Deutsche-Bahn-Bahnsteig zu
       rauchen, wüssten Sie, dass sich dieser Tage ein europäisches Parlament nach
       dem anderen verurteilend in die Situation des Nahen Ostens einmischt, was
       keiner Seite nützt. Durch die schiere Tatsache, dass wir darüber urteilen
       wollen, was heiliger ist, das Kamel oder der Esel, ermuntern wir –
       wissentlich oder nicht – die zwei Cousins, solange weiterzukämpfen, bis
       endlich eine der beiden Kreaturen erscheint.
       
       ## Ruhe mit Wiener Schnitzel
       
       Der fragile Nahe Osten wird jeden Tag fragiler, nicht trotz der
       Friedensbemühungen des Westens, sondern wegen ihnen. Wir aus dem Westen
       verstehen weder das himmlische Kamel noch den heiligen Esel. Wir verstehen
       nur was von Linien. Deshalb wird es Zeit, dass wir eine gelbe Linie um den
       Heiligen Berg ziehen und danach nach Berlin-Mitte gehen und irgendwo ein
       gutes Wiener Schnitzel essen. Wenn wir das tun, wenn wir die zwei Cousins
       einfach in Ruhe lassen, kommen sie vielleicht auf die Idee, ebenfalls ein
       Wiener Schnitzel zu probieren. Sorry, Veganer, frisches Fleisch schmeckt
       nun mal besser als tausend Jahre alte Tiere – egal ob sie fliegen können
       oder nicht.
       
       Oops. Ich rauchte außerhalb des gelben Quadrats, und die Leute hier machen
       Gesichter, als dächten sie: Nazi. Kommt mir jedenfalls so vor. Wow! Sie
       sind wirklich total verrückt diese Leute. Welchen Gott beten sie bloß an?
       
       1 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tuvia Tenenbom
       
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