# taz.de -- „Zu jung zu alt zu deutsch“: Die Schuld als Identitätskern
       
       > Regisseur Nick Hartnagel destilliert am Staatstheater Hannover Klischees
       > aus aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Nationalismus.
       
 (IMG) Bild: Keiner wird sie los: Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf der Theaterbühne.
       
       HANNOVER taz | Die üblichen Verdächtigen pressen ihren Körper an eine
       Betonwand, grell ausgeleuchtet fürs Fahndungsfoto – oder zur
       Identifizierung durch Zeugen. Sind sie schuldig? Mitschuldig? Unschuldig?
       Irgendwie verantwortlich? Solistisch oder in wechselnden Konstellationen
       treten Jens, Gitte, Sascha, Micha und Lydia aus dem Gruppenbild heraus und
       vor ihnen auf der zum Skaten einladenden Schräge an, in rasant
       geschnittener Szenenfolge ihr Leben in Beziehung zur deutschen
       Vergangenheit zu skizzieren.
       
       Von radikalen Alt, Jung und Anti-Nazis geht die Rede im verknappten, roh
       artikulierten Rotzjargon, eine Zuwanderin ohne Papiere trifft auf eine
       durchs Leben putzjobbende Deutsche, ein Ex-Knasti und ein verzweifelter
       Harmoniefreak kämpfen um die Gunst derselben Frau. Das Staatstheater
       Hannover holt das 2009 in Osnabrück uraufgeführte Stück von Dirk Laucke
       wieder auf die Bühne.
       
       Regisseur Nick Hartnagel umschifft alle Ansätze eines resignierten
       Sozialrealismus und destilliert die Klischees unkommentiert aus der immer
       aktuellen Auseinandersetzung mit dem Nationalismus. Mit geradezu
       übersprudelnder Energie und dabei sensationeller Spielpräzision
       konfrontiert das Ensemble die schroff behaupteten Positionen. Mein Gott,
       ist da zu hören, der Kram ist 80 Jahren her, irgendwann muss das doch auch
       mal begraben werden.
       
       Irgendwann ist der Mist doch mal vorbei? Eben nicht. Gerade weil alle
       nichts sehnlicher wünschen, als die Vergangenheit loszuwerden, ist sie der
       Antrieb ihres Lebens. Dieses Stücks. Holt alle immer wieder ein. Und Laucke
       kratzt mit „Zu jung zu alt zu deutsch“ dramatisch gekonnt an der Oberfläche
       des nie Abzuhakenden.
       
       Während die letzten Überlebenden und Täter sterben, ihre
       aufklärungswilligen Kindern die Identifikation mit den Verfolgten bereits
       ermöglicht haben, ist nun die dritte Generation dran. Egal ob man sie X, Y,
       Z oder P (wie Praktikum oder Prekär nennt), für sie ist der
       Nationalsozialismus ganz und gar Historie. Zu jung für persönliche
       Erinnerungen, schon zu alt an Erfahrung, um schlicht zu vergessen, aber
       auch zu deutsch, um selbstbewusst zu ignorieren.
       
       Zum Identitätskern Deutschlands scheint die Frage nach der Schuld zu
       gehören. Versuche, sich davon zu erlösen, gibt es reichlich. Einfach mal
       den Grund und Boden sauber pusten, wie es auf der Bühne versucht wird,
       klappt schon mal nicht, immer bleiben Reste der vorherigen Szene liegen.
       Genauso wenig funktioniert das so öffentliche und gleichwohl normierte
       Sprechen über das Gedenken, denn es spielt Erinnerungsarbeit ja eigentlich
       nur vor, was die wirklich schwierige Frage danach verdrängt: Was geht uns
       das alles heute noch an? Und: Darf wieder über den Holocaust gelacht
       werden?
       
       Das Publikum gniggert jedenfalls bei den erzählten Witzen wie dem von der
       Beule in einer Gasleitung: „Das ist ein Jude auf der Flucht.“ Micha (Sandro
       Tajouri) macht so was dauer-wütend. Einst war er Metal-Headbanger, nun ist
       er linksradikaler Skin: „Der Anfang vom Poken gegen euch Arschlöcher“,
       beschimpft er die Zuschauer, wittert hinter jedem Gartenzaun einen Nazi und
       hat gar nicht genug Mittelfinger für die „deutsche Seuche“.
       
       Michas Verfolgungswahn und Bedrohungsszenarien stehen „strukturell“, wie
       ihm Jens (Philippe Goos) vorwirft, der faschistischen Ideologie recht nahe.
       Solche Widersprüche schrieb Laucke jeder Figur ein. Gitte (Susana Fernandes
       Genebra) meint, NS-Vorbeugung funktioniere schon prima, schließlich sei
       Deutschland nach dem Krieg so hässlich wiederaufgebaut worden, dass sich
       keiner mehr damit identifizieren möchte. Sie selbst hasst die deutsche
       Lebensart, auch weil sie sozial/finanziell ausgeschlossen ist, will sie
       nach Lissabon auswandern – wo sie später mit „Heil, Hitler“ begrüßt wird.
       
       Flüchten geht also auch nicht. Zuvor aber begegnet sie noch der
       osteuropäische Jüdin Sascha (Karolina Horster), die für die Zukunft ihrer
       Kinder arbeiten will, aber erstmal von Gitte Antisemitisches zu hören
       bekommt – und schnell wieder heim will. Aber die Dessous-Kostümierung, mit
       der beide Frauen einem Rentner in vollem SS-Ornat gegen Extrahonorar
       vortanzten, lässt sich nicht mehr vom Leib reißen. Vergangenheit also nicht
       einfach ausziehen. Und auch nicht verdrängen oder verleugnen. Wie es Lydia
       (Sina Martens) mit eben diesem Unbelehrbaren versucht.
       
       Er ist ihr Opa. Aus Scham oder Schuld fehlte Lydia einst auf keiner Demo
       gegen rechts. Jetzt will sie davon nichts mehr wissen, ist schwanger vom
       netten Jens, möchte das als Einstieg nutzen, in kleinbürgerlicher
       Kuschelwärme, ihre Vergangenheit einfach totzuschweigen. Es klapp nicht.
       Als Micha, ihr Ex, auftaucht, alte Wunden wieder aufwühlt, erwacht bei
       Lydia die „Schlagwortkacke“ und kämpferisch skandierte Empörung, mit der
       sie nun für ihre neue Lebenslüge kämpft.
       
       Anstatt sich mit altem Leben auseinanderzusetzen. Summa summarum, politisch
       oder privat: Vergangenheit wird hier keiner los – sie bestimmt das Leben.
       Alles andere ist Selbstbetrug. Autor Laucke hat dafür ein typisch deutsches
       Beispiel gefunden, von dem er im Winterspielzeitheft des Theaters erzählt:
       „Fichte, der berühmte Philosoph hat gesagt: Selbst wenn die Juden alle noch
       konvertieren, was in den Augen der damaligen Zeit eigentlich die Lösung der
       sogenannten Judenfrage dargestellt hätte, wird man das Jüdische nicht aus
       ihren Köpfen kriegen, es sei denn, man schneidet sie ab.“
       
       Ist das falsch gedacht? Oder hat Jens recht, wenn er nun die Schnauze voll
       hat vom „Rumkauen“ auf dem Faschismus: „Es steht mir bis hier, mich
       deswegen schlecht zu fühlen.“ Er will nicht dem Generalverdacht
       unterliegen, Massenmörder zu sein, nur weil er gegen die israelische
       Aggressionspolitik „raus aus Palästina“ fordert. Und eine zum
       Fußball-WM-Sieg herausgehängte schwarz-rot-goldene Fahne bedeute nicht,
       dass er Hitler wiederhaben wolle.
       
       Wann wird der Party-Nationalismus chauvinistisch? Regisseur Nick Hartnagel
       setzt noch einen drauf, sucht aktuelle Beispiele fürs allgemeine
       Wegschauen, wie es in der Nazizeit praktiziert wurde. „Es ist heute ja
       andauernd möglich, Dinge zu wissen und wissend das Leiden von Menschen
       zuzulassen“, sagt er und baut in den Text Anspielungen ein – etwa auf die
       globalen Produktionsbedingungen unseres Reichtums.
       
       Ein Abend also, der wider das sozial erwünschte Sprechen über eine
       tabuisierte Epoche ständig zum Widerspruch reizt, nicht im Verurteilen der
       Nazi-Gräuel das gemeinsame Bekenntnis zu Demokratie und Humanismus
       erledigt, sondern es wach zu halten versucht fürs moralische
       Alltagsgeschäft. So entkommt man der Vergangenheit zwar auch nicht, aber
       besser mit ihr klar.
       
       ## nächste Vorstellungen: 9., 14. und 30. 12. sowie 11. und 22. 01. 2015,
       20 Uhr, Hannover, Cumberlandsche Bühne;
       
       9 Dec 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Fischer
       
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