# taz.de -- Schlagloch „Abendland“: Pegida reloaded
       
       > Das Erbe patriotischer Europäer und Parolen aus dem Fundus: ein
       > Neujahrsmärchen über Aufstieg und Fall des Abendlandes.
       
 (IMG) Bild: „Der hier kam, um das Gesetz zu vollenden, im Widerstand gegen die Selbstbereicherung der Eliten.“
       
       Am Montagabend nach Silvester bekam ich Besuch von meiner Nichte, sie hatte
       noch zwei Freunde mitgebracht. Nachdem wir die letzten China-Kracher aktiv
       entsorgt hatten, sagten die drei, sie hätten ein Anliegen. Die Nichte kam
       gleich zur Sache: „Es geht uns um den Erhalt und den Schutz unserer
       christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur, aber leider können wir es
       nicht mehr Pegida nennen, der Markenname ist ja schon besetzt.“
       
       Freund eins ergänzte: „Von Menschen in Anoraks aus dem Billigkaufhaus, die
       sich Sorgen machen, weil auf den Sozialämtern Bedienungsanleitungen für den
       staatlichen Geldautomat in zehn Sprachen angeschlagen werden.“ Ich sah ihn
       entgeistert an. Er grinste: „Nee nee, das war ein Zitat, von Roland Tichy,
       dem Chefredakteur der Wirtschaftswoche; uns geht’s eher um die Leute, die
       sich Sorgen machen wegen der Toten im Mittelmeer, wegen der
       Gerechtigkeitslücke und der schlechten Schulen und wegen des Klimas.“
       
       „Aber warum Parole Abendland?“, fragte ich. Meine Nichte nickte zur
       Bücherwand hinüber. „Na, deswegen. Wegen des kulturellen Erbes. Judäo, das
       ist die Thora, das Gesetzbuch, das die Freiheit und ihre Gleichheit aller
       zum Ziel hatte. ,Es sollte überhaupt keine Armut unter Euch sein‘, sagte
       das nicht der Gott Israels zu Moses? Und steht da nicht was von einem
       generellen Schuldenerlass alle sieben Jahre, damit die Unterschiede nicht
       zu groß werden? Freund zwei nickte und legte mir ein Papier von Boston
       Consulting auf den Tisch: „Die sagen auch, nur so sei Europa zu retten.
       Alles nicht neu.“
       
       „Und der hier“ – die Nichte war zum Weihnachtsbaum gegangen und nahm das
       Wickelkind aus der Erzgebirgskrippe –, „der hier kam, um das Gesetz zu
       vollenden, im Widerstand gegen die Selbstbereicherung der Eliten. Seine
       Gefolgschaft bestand nicht aus Elenden, die hatten die Politik schon
       abgeschrieben, sondern aus bedrohten Mittelständlern und Besorgten aller
       Art. Populär wurde er, weil er sehr handgreiflich die Geschäfte störte und
       nicht ganz ohne Gewalt mit dem spekulativen Bankgewerbe aufräumte. Wie war
       das? ,Die Herrscher unterdrücken ihre Völker und die Mächtigen missbrauchen
       ihre Macht über die Menschen.‘ Diese Sprache brach ihm das Genick. Seine
       Morallehre, die sich über die Blutsbande und die Familie erhob, und seine
       Ideen von Gütergemeinschaft gingen selbst einigen seiner Parteigänger zu
       weit. Er kam halt auch aus eine Patchworkfamilie. Und sein Gedanke, dass es
       Frieden nur gibt, wenn die Solidarität nicht an der Zäunen des
       Familieneigentums und der Nation endet, hat im Abendland Schule gemacht.
       Ich sage nur: Kant.“ Die schwarze Taschenbuchausgabe hatte sie mir vor
       einem Jahr abgeschwatzt.
       
       ## Missionsgräuel
       
       Ich protestierte: Sie könnten sich doch nicht einfach aus der Geschichte
       das nehmen, was ihnen in den Kram passe.
       
       „Warum eigentlich nicht?“, sagte sanft Begleiter Nummer zwei, mit dem ich
       die Nichte Anfang Dezember im Weihnachtsoratorium in der Gethsemane-Kirche
       gesehen hatte. „Die christliche Tradition, das ist doch nicht nur die der
       Monopolkirche, die sich mit den herrschenden Mächtigen verband, die Hölle
       erfand und die Gleichheit ins Jenseits verlegte; es gibt doch auch diesen
       roten Faden der Dissidenten und der sozialen Experimente. Und trotz aller
       Missionsgräuel, den Gedanken der Universalität kann man heute nicht stark
       genug machen.“
       
       Es würde länger dauern, ich setzte also Tee auf, die drei erzählten von dem
       Mönch Campanella, der im 16. Jahrhundert eine Koexistenz aller großen
       Religionen unter der Oberherrschaft der Sonne und der Trinität von Liebe,
       Wissen und Macht vordachte; sie rekapitulierten die Genese des rationalen
       Naturrechts aus der christlichen Tradition und deren Impulse für die
       Französische Revolution. „Immer wieder schön“, sagte die Nichte und zog ein
       Buch mit blauem Rücken aus dem Regal, „alle Verhältnisse umwerfen, in denen
       der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein
       verächtliches Wesen ist – das ist doch pure Bergpredigt, dagegen ist doch
       die athenische Demokratie der reinste oligarchische Klapperatismus.“
       
       Ich protestierte, der Tee hatte inzwischen gezogen, und die nächsten zwei
       Stunden vergingen mit einer Diskussion über Glanz und Elend des
       europäischen Sonderwegs und ob dieser Kontinent eine andere Zukunft haben
       könnte als ein Themenpark für die Brics-Länder zu werden. Gegen Mitternacht
       zitierten sie, so erinnere ich mich dunkel, Pierre Bourdieu, der gesagt
       hatte, der europäische Sozialstaat sei eine kulturelle Errungenschaft, so
       kostbar wie Kant oder Beethoven oder Mozart. Dieses Erbe müsse man, als
       patriotischer Europäer, doch verteidigen gegen die globale
       Finanzoligarchie, die gerade Land und öffentliche Infrastrukturen erobere,
       ebenso wie gegen nationalistische Dumpfbacken und wirtschaftsliberale
       Populisten.
       
       ## Die Kooperationslust der Baby Boomer
       
       Es war schon früh, Wein und Brot waren zur Neige gegangen, als ich sie
       fragte, was denn nun ihr „Anliegen“ sei. Die nächsten fünfzehn Jahre, sagte
       meine Nichte, würden wohl einiges entscheiden. „Wieso ausgerechnet
       fünfzehn“, fragte ich, „und wie wollt Ihr aus diesen Seminargedanken …“ Die
       Nichte fiel mir ins Wort: „eine soziale Bewegung machen, die im ganzen eine
       Verschiebung der politischen Mentalitäten befördert. Die Parolen aus dem
       Fundus sind doch nicht schlecht, es fehlt nur an der Umsetzung.
       
       Wir hätten da ein paar Ideen, konventionelle und unorthodoxe, wir setzen
       auf crowd financing und die Kooperationslust der Babyboomer, die jetzt in
       Rente gehen, jedes Jahr ein paar zigtausend; die wohlhabendste und
       bestgebildete Generation, die das Abendland hervorgebracht hat. Die zwar
       schon alle in New York waren, aber vielleicht noch was anderes vorhaben als
       Kreuzfahrten, Ayurveda, Tanzkurse oder Sterneküche.“
       
       Sie sah mich an und lächelte: „Die etwas Älteren dürfen auch ruhig
       mitmachen.“ Und dann verabschiedeten sich die drei, auf der Treppe
       trällerten sie Rio Reiser: „Am Anfang der Welt war da ein Licht, ein Licht,
       das das dunkelste Dunkel bricht …“
       
       14 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mathias Greffrath
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Pegida
 (DIR) Sudan
 (DIR) Gewalt
 (DIR) Schwerpunkt „Lügenpresse“
 (DIR) Islamismus
 (DIR) Schwerpunkt Pegida
 (DIR) Schwerpunkt Pegida
 (DIR) Israel
 (DIR) Schwerpunkt AfD
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Schwerpunkt Pegida
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Westen und Islam: Der rote Faden der Kränkung
       
       Die Willkommenskultur ist nur ein Anfang. Oder: Was Hassan al-Turabi und
       das Versagen des Westens miteinander zu tun haben.
       
 (DIR) Schlagloch Religion: Der Luther des Islam
       
       Es gibt sie, die Reformer. Doch sie finden auch bei den Alternativen oder
       Linken wenig Aufmerksamkeit. Denn die blicken häufig auf Religiöse herab.
       
 (DIR) Pegida in Mecklenburg-Vorpommern: Zusammenstöße in Stralsund
       
       Die „MVgida“ macht einen aggressiven und gewaltbereiten Eindruck. Die
       Aufklärung erster gewaltsamer Auseinandersetzungen steht an.
       
 (DIR) Debatte Pegida: Dschihad und Pegihad
       
       Pegida und Dschihadisten brauchen sich gegenseitig. Die Extremisten sollten
       nicht gegeneinander demonstrieren, sondern miteinander.
       
 (DIR) Pegida in Norwegen ruft zur Demo: Nur ein kleines Häuflein
       
       Rund 200 Menschen folgten in Oslo einem Demo-Aufruf, darunter auch viele
       Rechtsextreme. Dreimal soviele Personen demonstrierten dagegen.
       
 (DIR) Kolumne German Angst: Guten Morgen, Abendland
       
       Ein alter Kampfbegriff ist wieder aufgetaucht. Einer, der verwendet wird,
       um Gruppen aus der Gemeinschaft auszustoßen.
       
 (DIR) Schriftsteller über Pegida und Mauerfall: „Das Pack, vor dem ich geflohen bin“
       
       Marko Martin, 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen, spricht über
       selbstgerechte westdeutsche Linke – und das Privileg, frei zu leben.
       
 (DIR) AfD und Pegida: Die rechten Anschlagsgewinnler
       
       Der rechte AfD-Flügel will von den Morden profitieren und schiebt die
       Partei näher an Pegida. Bernd Lucke mahnt zu Besonnenheit.
       
 (DIR) Internationale Medien über Pegida: „Dunkelste rassistische Vorurteile“
       
       Die Pegida-Demos sorgen in internationalen Medien für Aufsehen. Die warnen
       vor einer „nationalen populistischen Bewegung“ und freuen sich über die
       Gegendemos.
       
 (DIR) Strategien gegen Pegida: „Wir Deutsche“ neu definieren
       
       Pegida zeige, dass es einen tiefen Riss in der Gesellschaft gebe, sagen
       führende Migrationsforscher. Es müsse anders über Zugehörigkeit gesprochen
       werden.
       
 (DIR) Kommentar Pegida und Kögida: Grandios gescheitert
       
       In Köln kamen die Freunde des Abendlandes nicht durch. Aber stille
       Sympathie ist mobilisierbar, wenn die Voraussetzungen stimmen.
       
 (DIR) Bärgida erfolgreich blockiert: „Wir sind die Mauer“
       
       Der Berliner Pegida-Ableger kommt nicht vom Fleck, weil die Rechten von
       Gegendemonstranten blockiert werden. Die haben offensichtlich Spaß daran.