# taz.de -- Frankreichs Juden wandern aus: Das Nizza von Israel
       
       > Israels Ministerpräsident Netanjahu hat die französischen Juden
       > aufgefordert heimzukehren. Dabei kommen sie schon von allein.
       
 (IMG) Bild: Französische Touristinnen am Strand von Netanja im Januar. Auch sie wollen Frankreich bald den Rücken kehren und nach Israel ziehen, sagen sie.
       
       PARIS/TEL AVIV taz | Als Sophie Taïeb die Tür geschlossen hatte, wusste
       sie, dass es Zeit war, zu gehen. Davor hatten ein paar Kerle an der Tür
       ihrer Pariser Wohnung geklopft. Als Taïeb öffnete, riefen sie ihr zu:
       „Morgen schicken wir dich ins Gas.“
       
       Taïeb hatte für jüdische Blogs geschrieben. Nichts politisches, nur
       Beiträge über den besten Hummus der Stadt, oder jüdischen Pop. Doch auf
       ihre Artikel folgten erst Kommentare voller Hass, später dann der Besuch an
       ihrer Wohnungstür. Taïeb ging zur Polizei. Nachdem sie lang gewartet hatte
       und endlich ihre Anzeige aufgeben konnte, sagte ihr der Polizist: „Die
       machen doch nur Spaß.“ Taïeb war nicht zum Lachen, sie hatte Angst. Also
       packte sie ihre Sachen und zog nach Israel – „Am 23. September 2013. Ein
       Datum, das man nie vergisst“, sagt sie heute.
       
       16 Monate nach ihrem Umzug steht Taïeb auf einem Platz im Zentrum von Tel
       Aviv. Knapp vierhundert Menschen haben sich versammelt, um den Opfern der
       Anschläge in Paris zu gedenken. Taïeb ist eine der Organisatorinnen der
       Mahnwachen. Wie überall auf der Welt sieht man auch hier Schilder der
       Solidarität, weiß auf schwarz: Ich bin Charlie. In Tel Aviv haben sie etwas
       angefügt, um besonders den Toten im jüdischen Supermarkt zu gedenken. Hier
       heißt es: „Je suis Charlie – casher aussi“, „Ich bin Charlie – und
       koscher“.
       
       Für die Demonstranten war es nicht nur ein Anschlag auf die
       Meinungsfreiheit, sondern auch ein Anschlag auf die Juden. Seit zwei Jahren
       sind französische Juden die größte Einwanderergruppe in Israel. 2014 sind
       6.600 französische Juden gekommen – fast doppelt so viele wie im Jahr
       davor. Jetzt, nach den Anschlägen in Paris, bei denen vier jüdische Kunden
       im Supermarkt ermordet wurden, wird ein weiterer Rekord erwartet.
       
       ## Croissants und Schlager
       
       Am Morgen nach der Kundgebung läuft Hanna Ben-Moussa durch die Innenstadt
       von Nahariya, eine Stunde nördlich von Tel Aviv. Sie hat lange schwarze
       Haare, eine große Sonnenbrille verdeckt ihre Augen. Sie kommt vorbei an
       einer französischen Patisserie, aus der es nach Croissants riecht, an einem
       Schaufenster mit Anzeigen der „Agence Immobilière“, die Wohnungen an
       Franzosen vermietet und an einem Falafel-Imbiss, der „Chez Claude“ heißt.
       
       Auf dem Kikar Haatsmaut, dem zentralen Platz von Netanja, dröhnen
       französische Schlager aus den Boxen. Das Meer ist nur ein paar Stufen
       entfernt. Hier, wo Netanja wie Nizza ist, trifft Ben-Moussa zwei
       Freundinnen aus Frankreich. Die drei Frauen hatten ihre Kinder auf der
       gleichen jüdischen Schule in Paris. Nach und nach sind sie alle nach Israel
       ausgewandert.
       
       Ben-Moussa kam mit ihrem Mann und ihrem Sohn vor fünf Monaten – aus Angst
       um ihr Kind: „Mein Sohn ist fünf, in Paris hab ich ihn nicht allein
       rausgelassen“, erzählt sie. Ihre Stimme ist rau, sie spricht laut und
       fuchtelt wild mit ihren Händen. Der Antisemitismus macht sie rasend. „Hier
       lass' ich meinen Sohn machen, was er will, selbst mit Kippa – das wäre
       undenkbar in Paris. Ich habe nicht eine Sekunde lang Angst.“ Die 37-Jährige
       und ihre Freundinnen fühlen sich wohl in ihrer französischen Exklave in
       Israel. Sie will nicht zurück, Frankreich fehlt ihr nicht, obwohl sie noch
       keinen Job hat, kaum Israelis kennt und kein Hebräisch spricht.
       
       Einer, der dafür sorgen soll, dass sich Leute wie Ben-Moussa in Israel
       schnell zu hause fühlen, ist Avi Meyer. Er arbeitet bei der Jewish Agency
       in Jerusalem, Israels offizieller Einwanderungsbehörde. Avi Meyer hat es
       eilig, jeden Tag rufen jetzt Medien an, draußen wartet ein Fernsehteam von
       CNN. Jahrelang hat sich niemand für die Einwanderung der Franzosen
       interessiert. Doch die Anschläge in Paris änderten das.
       
       Meyer hastet in sein Büro, um zu erklären, was jetzt passiert mit all den
       Franzosen, die nach Israel kommen werden. Die Wand über seinem Schreibtisch
       ist leer, ein Bilderrahmen mit einer Karte Russlands ist hastig abgehängt
       worden und steht auf dem Boden. Lange waren Juden aus der ehemaligen
       Sowjetunion die größte Gruppe der Einwanderer nach Israel. Etwa eine
       Millionen russischstämmige Juden wohnen heute in Israel, das ist etwa jeder
       achte Einwohner. Bald könnte über dem Schreibtisch von Meyer eine Karte von
       Frankreich hängen.
       
       ## Die PR-Agentur für den zionistischen Traum
       
       Israel bezahlt allen Juden, die einwandern wollen, das Flugticket, hilft
       bei der Job- und Wohnungssuche und finanziert im ersten Jahr Versicherungen
       und Unterhalt. Die französischen Einwohner sind besonders begehrt: Die
       meisten von ihnen sind gut ausgebildet, deutlich besser als die Einwanderer
       aus der ehemaligen Sowjetunion. Und sie kommen jung. Erst im Herbst hat die
       Regierung deshalb ein Gesetz beschlossen, das die Anerkennung französischer
       Abschlüsse erleichtern soll.
       
       Glaubt man einer Studie, die für die Europäische Union durchgeführt wurde,
       denken 50 Prozent der französischen Juden über Auswanderung nach. Manche
       befürchten bereits einen jüdischen Exodus in Frankreich. Deshalb stehen Avi
       Meyer und die Jewish Agency in der Kritik. Einerseits sind sie die
       Einwanderungsorganisation Israels, und damit auch die PR-Agentur für den
       zionistischen Traum.
       
       Andererseits befürchten viele jüdische Gemeinden in Frankreich, dass die
       Auswanderung nach Israel sie nur weiter marginalisiert. Meyer betont
       deshalb mehrmals, wie viel die Jewish Agency für Juden in der Diaspora tue.
       Man habe sogar einen Fonds aufgelegt, um die französischen Gemeinden
       besonders zu schützen: „Wir wollen, dass Juden nach Israel kommen, weil sie
       es wollen – und nicht, weil sie Angst haben.“
       
       Zurück in Tel Aviv streckt sich Sarah Hassau auf ihrer Couch aus. Sie ist
       19 und lebt seit eineinhalb Jahren in Israel, in einer schicken
       Neubauwohnungen mit ihrem Bruder. Ihre Eltern haben die Wohnung gekauft, in
       ein paar Jahren wollen sie nachkommen. In Marseille, wo Hassau herkommt,
       hat sie sich unsicher gefühlt: Pöbeleien in der U-Bahn, eine Beleidigung in
       der Schule, die Tasche geklaut. „Alles nichts großes“, sagt sie. „Aber
       genug, um mir Angst zu machen.“ Hassau hatte einen langen Tag auf der
       Militärbasis.
       
       Trifft man die 19-Jährige nach Feierabend, in weiter Jogginghose und buntem
       T-Shirt, kann man sich kaum vorstellen, dass sie tagsüber Soldatin ist. Sie
       hat sich freiwillig verpflichtet und arbeitet auf einem Militärflughafen
       südlich von Tel Aviv. Nur wenige Kilometer sind es von dort zum
       Gazastreifen. Es ist ein Schreibtischjob, und doch sagt Hassau stolz: „Ich
       will mein Land verteidigen.“
       
       Es klingt absurd: Eine 19-Jährige, die sich in Marseille unsicher fühlt,
       zieht als Soldatin in den Nahen Osten. Gerade dort hin, wo noch vor wenigen
       Monaten ein Krieg über 2000 Tote forderte. In Tel Aviv, ihrer neuen
       Heimatstadt, schickte sie der Raketenalarm täglich in die Bunker. Erst im
       Herbst wurden bei einer Serie von Anschlägen in Jerusalem 13 Menschen
       getötet. Am vergangenen Mittwoch stach ein Attentäter in einem Bus in Tel
       Aviv wahllos mit einem Messer auf Passagiere ein. Und trotzdem fühlt sich
       Sarah sicherer als in Marseille.
       
       Eine, die diesen Widerspruch zu erklären versucht, ist Esther
       Schely-Newman. Sie forscht seit 15 Jahren an der Hebräischen Universität in
       Jerusalem zur Einwanderung französischer Juden. Dafür befragt Schely-Newman
       französische Juden vor und nach der Auswanderung nach ihren Gründen und
       ihrem neuen Leben in Israel. Die Professorin sitzt weit vorn auf ihrem
       Schreibtischstuhl. Statt zu antworten, stellt sie lieber selbst die Fragen:
       „Kann allein der Antisemitismus die französische Einwanderung erklären? Ich
       glaube, nicht.“
       
       ## Getrennte Familien
       
       Ein anderer Grund für die Auswanderung sei der besonders starke Zionismus
       unter Frankreichs Juden. „Für viele von ihnen war Frankreich nur eine
       Station auf ihrem Weg“, erzählt die Professorin aus ihren Studien.
       Schely-Newman und andere Wissenschaftler sehen zudem einen Grund in der
       Migrationsgeschichte der französischen Juden: Die meisten von ihnen sind
       selbst Einwanderer aus Nordafrika. Als Juden in den fünfziger Jahren
       Marokko, Tunesien und Algerien verließen, ging etwa die Hälfte von ihnen
       nach Frankreich, die andere in den neu gegründeten Staat Israel. Häufig
       wurden damals auch Familien getrennt. „In meinen Befragungen geben viele
       an, aus familiären Gründen nach Israel zu gehen,“ sagt Schely-Newman.
       
       Auch Sophie Taïeb, die Bloggerin aus Paris, hatte bereits Familie in
       Israel. Die ersten Monate kam sie bei ihrem Cousin in Jerusalem unter. Das
       machte ihr den Start im neuen Land einfacher. Trotzdem sei die erste Zeit
       schwierig gewesen. „Das Leben in Israel ist teuer und kompliziert“, erzählt
       sie, „auch im Vergleich mit Paris.“ Weil sie nicht Hebräisch lesen konnte,
       habe sie zudem Probleme mit den alltäglichsten Dingen gehabt: Wochenlang
       kaufte Taïeb immer wieder Duschgel statt Waschmittel.
       
       Heute, fast anderthalb Jahre nach ihrer Ankunft, findet sie das Leben in
       Israel immer noch viel schwieriger, als sie es sich in Paris vorgestellt
       hatte. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in Israel deutlich höher als in
       Frankreich und die Gehälter niedriger. Zwar hat Taïeb einen Job gefunden,
       aber der sei schlecht bezahlt. Sie betreut in einem Hotel französische
       Reisegruppen. Eine Arbeit, für die sie fließend Hebräisch sprechen muss,
       kann sie noch nicht annehmen.
       
       Taïeb glaubt, dass viele Juden die Auswanderung nach Israel romantisieren:
       „Man sollte sich das gut überlegen.“ Trotz der Probleme ist für Taïeb ihr
       Leben in Frankreich abgeschlossen, über eine Rückkehr denkt sie nicht nach.
       Nur guten Käse vermisst sie – dafür trifft sie sich einmal im Monat mit
       französischen Freunden. Dann gibt es Saint Nectaire und Comté und einen
       guten Beaujolais. Frankreich sei für sie wie ein Ex-Freund: „Wir haben uns
       getrennt, wir bleiben in Kontakt, aber die Geschichte ist vorbei.“
       
       3 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Fromm
 (DIR) Kersten Augustin
       
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