# taz.de -- Männer bei der Sexarbeit: Einer zahlt
       
       > Der eine ist alt, der andere jung. Der eine braucht Sex, der andere
       > braucht Geld. Die Liebe funkt dazwischen. Das Protokoll einer Beziehung.
       
 (IMG) Bild: Käuflicher Sex hat nicht viel mit Liebe zu tun hat – trotz Herzchenreklame
       
       Eigentlich wollte ich nichts kaufen. Ich lief an dem Supermarkt vorbei, der
       zwischen zwei Sexkinos liegt. Das eine ist für Schwule und das andere für
       Heteros, in dem aber auch Freier mit ihren Strichern verkehren. Da sah ich
       ihn. Er stand vor dem Supermarkt und verkaufte die Straßenzeitung, und er
       war umwerfend. Hübsch, jung und sichtlich nicht deutsch, wie all die Jungs,
       die dort gewöhnlich stehen.
       
       Nur hatte er feinere Züge. Er sah stolz aus und zugleich verletzlich. Wir
       schauten uns in die Augen – und da ging ich doch in den Supermarkt, um
       zwischen den Regalen zu überlegen, was ich ihm sagen könnte. Natürlich fiel
       mir nichts Originelles ein. Also ging ich raus zu ihm, drückte ihm zwei
       Euro in die Hand, sagte, die Zeitung wolle ich aber nicht haben – und was
       er sonst noch tun würde, außer Zeitungen zu verkaufen?
       
       „Alles“, sagte er. „Auch Sex?“, habe ich gefragt, und da meinte er, das
       habe er zwar noch nie gemacht, aber ja, schon. Für mich, sozusagen. Als
       Ausnahme.
       
       In das Sexkino wollte er nicht. Da drin seien zu viele seiner rumänischen
       Landsleute und er wolle dort nicht mit mir gesehen werden. Weil er kein
       Stricher sei. „Okay“, habe ich gesagt, „dann gehen wir zusammen in ein
       Hotel, ich muss aber vorher noch meine Mutter im Krankenhaus besuchen.“ Wir
       tauschten Telefonnummern aus, ich würde ihn in einer Stunde abholen, und er
       sagte auf Englisch: „Ich warte auf dich.“ Im Rückspiegel sah ich ihn da
       stehen. Er hatte tiefe dunkle Augen. Er war schön.
       
       ## Eine Odysee
       
       Als ich ihn abholte, begann unsere Odyssee durch die Stadt. In das
       Stundenhotel kamen wir nicht rein, weil Florin – so hieß er, Florin –
       keinen Ausweis dabei hatte und der Mann an der Rezeption ihm nicht glaubte,
       dass er über 18 sei. Zu mir sagte er, er sei 23. Also fuhren wir zu ihm
       nach Hause, um seine Papiere zu holen. Da er seinen Pass verloren hatte,
       auf dem Bau – er arbeitete oft auf dem Bau –, besaß er nur noch eine Kopie.
       Die nahm er mit.
       
       Auf dem Rückweg erzählte er von sich. Er war freundlich und erstaunlich
       ungezwungen, obwohl das ja eine seltsame Situation für ihn sein musste: Du
       setzt dich zu einem Mann ins Auto, auf der Suche nach einem Ort, an dem man
       Sex haben kann, du kennst den Mann nicht, und du kennst den Sex nicht, der
       dich erwartet. Ich wollte wissen, woher er kommt, was er eigentlich in
       Deutschland wollte und wie er lebte.
       
       Florin stammte aus einem Dorf, ein paar hundert Kilometer von Bukarest
       entfernt. Er war gut situiert aufgewachsen, sein Vater besaß ein großes
       Haus. Doch der war Alkoholiker und hatte die Kinder und die Mutter
       misshandelt. Sie zogen aus, der Vater versoff das Geld, und die Familie
       verarmte. Sie hatten nicht mal genug Geld, um den Schulbus zu zahlen, sagte
       Florin. Ein paar Jahre lang habe er nachts bei einem Bäcker gearbeitet, um
       morgens in die Schule fahren zu können.
       
       Irgendwann konnte er nicht mehr. Er träumte davon, wegzugehen und genug
       Geld zu verdienen, um später zurückkehren und einer Frau und seiner Familie
       ein Haus bauen zu können. Also zog er über Griechenland und Frankreich nach
       Deutschland und arbeitete auf dem Bau. Jetzt im Winter aber verkaufte er
       die Straßenzeitung, weil er sich für keinen anderen Job bewerben konnte,
       seit er seinen Pass verloren hatte.
       
       ## Sie musste Jungfrau sein
       
       Seine Lage wurde immer verzweifelter, denn mit dem Verkauf der Zeitung
       konnte er nicht mal seine Miete zahlen. Er wohnte in einer 2-Zimmer-Wohnung
       in Neukölln, zusammen mit acht anderen Rumänen. Der Vermieter, auch ein
       Rumäne, verlangte von jedem 200 Euro im Monat. Er erzählte, dass sie alle
       in einem Raum schliefen. Manchmal, wenn er die Enge nicht mehr aushielt,
       legte er sich nachts in die Badewanne.
       
       Er hat mir das nicht alles auf unserer ersten Autofahrt erzählt, aber doch
       ziemlich viel. Auch von seiner Freundin. Die hatte er in Berlin
       kennengelernt, und auch sie lebte in dieser Wohnung, mit ihrer Mutter. Die
       beiden waren Roma und aus Rumänien gekommen, weil die Mutter die Tochter in
       Deutschland an einen einträglichen Mann vermitteln wollte.
       
       Das war Florin nicht, deswegen gab es oft Streit. Aber er wollte das
       Mädchen heiraten. Sie war Jungfrau, das war ihm wichtig. Er sprach nicht
       über seine Gefühle für dieses Mädchen, sondern von dem großen Moment, wenn
       er nach der Hochzeit das frisch befleckte Leintuch aus dem Fenster des
       eigenen Hauses in Rumänien hängen würde.
       
       Schließlich fanden wir ein Hotelzimmer und hatten Sex. Ich fragte ihn
       vorher, ob er nervös sei. Ich hatte das Gefühl, da passiert tatsächlich
       gerade etwas zum ersten Mal. Er sagte ja. Doch dann war alles sehr
       selbstverständlich. Und natürlich. Das irritierte mich. Aber nicht, weil
       ich dachte, er lügt, von wegen: Ich habe das noch nie gemacht! Sondern weil
       ich nicht den Eindruck hatte – die ganze Zeit nicht –, dass ihm unwohl war
       bei dem, was wir taten. Im Gegenteil. Da war ein Widerspruch zwischen dem,
       was er sich für sein Leben vorstellte – und dem, was er lebte. Und fühlte.
       
       ## Zerreissende Doppelmoral
       
       Als ich anfing, mich für das Strichermilieu zu interessieren, waren da vor
       allem deutsche Jungs, oft drogenabhängig. Dann kamen türkische und
       arabische und jetzt sind es, schätze ich, überwiegend Rumänen, darunter
       viele Roma. Die meisten Jungs, die sich prostituieren, sind nicht schwul.
       Viele haben eine starke religiöse Prägung, auch was Sexualität angeht.
       
       Einen muslimischen Stricher habe ich mal gefragt, wie er seinen Job mit
       seinem Glauben vereinbaren könne, und er sagte: „Solange ich mich nicht
       ficken lasse und nicht selber blase, hat Gott nichts dagegen.“ Es herrscht
       auf dem Strich eine Doppelmoral, die einen eigentlich zerreißen muss. Diese
       Männer leben mit einer doppelten Stigmatisierung, sie sind Roma und
       männliche Nutten, die sich von alten Männern benutzen lassen – sozusagen
       unterster Bodensatz der Gesellschaft.
       
       Um zumindest untereinander ihren Stolz zu wahren, schließen die Jungs eine
       Art Ehrenpakt: Sie bestehen während der Verhandlungen auf ihrer aktiver
       Rolle beim Sex. Sobald sie mit ihren Freiern alleine sind, werden die
       Regeln gebrochen. Dann heißt es: „Du kannst dies und jenes machen – aber
       nur, wenn du es nicht den anderen erzählst!“ Das bringt dann zwischen 20
       und 50 Euro. Am teuersten wäre es, einen Stricher eine Nacht lang mit nach
       Hause zu nehmen. Das hätte ich nie getan. Für arme Menschen muss meine
       Wohnung wie ein Schloss erscheinen. Man wäre einander ausgeliefert, das
       wäre zu gefährlich.
       
       Florin war gläubiger Christ, und ich habe ihn sogar mal zu seinem
       Bibelkreis gefahren. Als ich ihm vorschlug, er könne doch einfach nach der
       Hochzeitsnacht das Leintuch mit roter Farbe beklecksen, war er entsetzt.
       Die Idee, eine unreine Frau nach Hause zu führen, war für ihn
       unvorstellbar. Aber er schlief mit mir, und es war schwer für ihn, das mit
       sich in Einklang zu bringen.
       
       ## Es kam schleichend
       
       Ich war nicht sofort verschossen, es kam schleichend. Er rief mich nach ein
       paar Tagen an und fragte, warum ich mich nicht meldete. Wir trafen uns
       wieder. Er sagte, er brauche Geld, für seinen Bruder in Rumänien. Ob das
       stimmte oder nicht, war mir egal. Seine Misere war offensichtlich. Ich habe
       ihn zum Essen und ins Kino eingeladen, „Mission Impossible 3“. Er war als
       Kind zum letzten Mal im Kino gewesen und ganz hingerissen.
       
       Er erschien mir trotz seiner verzweifelten Situation sehr selbstbewusst und
       souverän. Das imponierte mir. Er erzählte, dass er als Kind alle
       Lesewettbewerbe gewonnen habe, dass er Violinist werden wollte und Anwalt.
       Dabei leuchteten seine Augen, und ich dachte, wann er wohl das letzte Mal
       jemandem von seinen Träumen erzählt hatte. Und wie schön es wäre, wenn ich
       ihm helfen könnte, wenigstens ein bisschen von dem, was er sich gewünscht
       hatte, zu erreichen.
       
       Ich war der einzige Deutsche, mit dem er Kontakt hatte. Natürlich hatte ich
       auch sexuelle Bedürfnisse an ihn und mir war klar, dass er das Geld
       brauchte. Aber ich wollte glauben, ich sei für ihn in jeder Hinsicht eine
       Ausnahme. Ich wollte sein Freund sein. Wir gingen zusammen zu einer
       Beratungsstelle, zur Polizei und dann zur rumänischen Botschaft, wegen
       seines Passes. Es war für ihn unvorstellbar, in sein Dorf zurück zu müssen,
       um dort die nötige Geburtsurkunde zu besorgen, finanziell und moralisch.
       
       Wenn wir uns trafen und er mir aus seinem Leben erzählte, wurden seine oft
       gequälten Züge weich, und er schien dankbar zu sein, reden zu dürfen. Ich
       half ihm, seiner Freundin zu helfen. Die flüchtete vor ihrer Mutter, da
       chauffierte ich sie mit ihrem Gepäck zu ihrem Arbeitgeber, einem Wirt, und
       wieder zurück, nachdem der versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Es war so
       bizarr.
       
       ## Wenn er bei mir einzöge
       
       Allmählich begann ich dann zu fantasieren: Wenn ich ihm einen Job
       vermitteln könnte. Wenn er bei mir einzöge. Wenn ich ihm mal das Meer
       zeigen könnte. Wenn er erfahren könnte, wie schön Freundschaft ist. Und
       wenn meine Freunde vielleicht auch seine werden würden. Und ich bekam diese
       Symptome: dachte ständig an ihn, konnte nichts mehr essen, rauchte
       anderthalb Schachteln am Tag und stellte das Interesse meiner Freunde auf
       eine harte Probe: wieder und wieder mussten sie mit mir den Fall
       durchgehen.
       
       Ich glaube, sie verstanden mich und spürten, dass ich verliebt war. Das war
       so extrem lang nicht mehr geschehen. Ich hatte 17 Jahre eine Beziehung,
       dann starb mein Freund, vor zwölf Jahren. Es war höchste Zeit, sich mal
       wieder verlieben. Ich stellte mir vor, die Grenzen zu überwinden zwischen
       drin sein und außen vor. Ich träumte davon, derjenige zu sein, der diesen
       Menschen glücklich macht!
       
       Rückblickend denke ich: Wahrscheinlich ging es nicht um ihn. Verliebtsein
       hat doch etwas Narzisstisches. Mehr als man es sich in der akuten Situation
       eingestehen möchte. Es ist toll zu glauben, man werde von einem Menschen
       mit dem nahezu perfekten Körper begehrt – obwohl man selbst mehr als
       doppelt so alt ist. Und für diesen Menschen auch noch der Erste zu sein,
       der erste Mann.
       
       Ich Konrad Lorenz – er die Graugans. Aber mehr noch ging es um die Idee,
       dass der andere quasi durch mich zu seinem eigentlichen Ich findet, das
       derart einzigartig zu mir passt, dass wir gemeinsam glücklich werden.
       Dieses Meister-Schüler-Ding, gepaart mit meinem Helfersyndrom. „Pretty
       Woman“, „My Fair Lady“ – die ganz große Pygmalion-Oper.
       
       ## Er sah nicht glücklich aus
       
       Heute frage ich mich, ob es möglich gewesen wäre, die kulturellen
       Widersprüche und die finanzielle Abhängigkeit jemals aus so einer Beziehung
       herauszubekommen. Oder ob wir beide immer wieder auf die Erkenntnis
       zurückgeworfen worden wären, dass alles letztlich auf einer geschäftlichen
       Abmachung gründet. Heute kann ich die Sache so nüchtern sehen. Schade, ja.
       Denn so oder so, ich war schon sehr verliebt.
       
       Es kam dieser eine Abend. Seine Freundin war nicht in der Stadt, er sagte
       etwas von „freier Bahn“ für uns beide. Ich lud ihn ein, zu mir nach Hause,
       er würde bei mir übernachten. Das erste Mal. Ich hatte Spaghetti Bolognese
       gekocht, die liebte er. Ich hatte einen Topf frischen Oregano gekauft und
       dessen Blätter über die Teller verstreut, eine Kerze angezündet. Er kam
       nicht.
       
       Noch in dieser Nacht, als ich mich mit Aperol Spritz betrank und mein
       Mitbewohner mich zu trösten versuchte, wusste ich: Ich würde ihn nie
       wiedersehen. Einmal habe ich ihn noch auf seinem Handy erreicht, dann
       wechselte er die Nummer. Er sagte, es täte ihm leid, aber er könne nicht
       „in beiden Teams“ spielen. Und ich sei erwachsen genug zu verstehen. Im
       Hintergrund hörte ich seine Freundin. Neulich, ein Jahr später, habe ich
       ihn auf Facebook gefunden. Er sieht nicht glücklich aus. Der Oregano blüht
       wieder.
       
       31 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nataly Bleuel
       
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