# taz.de -- Syrische Flüchtlingskinder im Libanon: Die verlorene Generation
       
       > Oft sind sie die Ernährer ihrer Familie: Für viele syrische Jungen und
       > Mädchen bedeutet die Flucht, ihre Kindheit aufzugeben.
       
 (IMG) Bild: Zeichnung des achtjährigen Abdallah, der mit seiner Familie aus Syrien geflohen ist
       
       BEIRUT taz | Ein paar Kinder lachen und stecken die bunten Steine gemeinsam
       zusammen. Andere sitzen alleine auf dem Boden, vollkommen in sich gekehrt,
       und setzen ein eigenes Haus zusammen. Aber eifrig bauen sie alle, die
       Gruppe von zwei Dutzend Kindern, an der langsam wachsenden Lego-Stadt.
       
       Die Eltern haben die syrischen Flüchtlingskinder in diesem kleinen Warte-
       und Spielraum des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR in Beirut abgegeben. Die
       Erwachsenen warten draußen zu Hunderten, haben ihr altes Leben im
       zerstörten Syrien hinter sich gelassen und stehen hier für ein neues an.
       Sie wollen sich von den UNHCR-Mitarbeitern, die in den weißen Containern
       hinter kleinen Amtsstubenfenstern sitzen, als Flüchtlinge registrieren
       lassen. Im Libanon gibt es offiziell bereits eine Million syrischer
       Flüchtlinge – die Dunkelziffer ist dagegen um mindestens ein Drittel höher.
       
       Die Kinder, die mit Lego ihre Fantasiegebäude zusammenstecken, sind jene,
       die irgendwann einmal, wenn der Bürgerkrieg in Syrien vorbei ist, ihr Land
       nicht mit Plastiksteinen, sondern in Wirklichkeit wieder aufbauen müssen.
       Wie das ohne Bildung einmal zu schaffen sei, wisse heute niemand, sagt
       Minou Hexspor von der privaten Hilfsorganisation „War Child“
       („Kriegskind“), die den Spielraum der Kinder leitet.
       
       „Es ist eine verlorene Generation“, sagt sie und rechnet mit zwei Zahlen
       die bevorstehende Katastrophe vor: „Im Libanon leben eine halbe Million
       schulpflichtiger syrischer Flüchtlingskinder, für 320.000 von ihnen gibt es
       keine Schulplätze.“ Auf drei Einwohner im Libanon käme heute fast ein
       syrischer Flüchtling. Damit sei das libanesische Schulsystem vollkommen
       überfordert, selbst wenn viele öffentliche Schulen bereits auch in
       Nachmittagsschichten arbeiten. Und die internationalen Hilfsorganisationen?
       „Die haben gerade einmal für Bildung ein Drittel des Geldes, das eigentlich
       nötig wäre“, sagt die Holländerin resigniert.
       
       ## Vollkommen traumatisiert
       
       Dazu kommt, dass viele der Kinder vollkommen traumatisiert seien. „Viele
       haben psychologische und soziale Probleme. Sie haben Angehörige verloren,
       haben Verhaltensstörungen und wissen nicht, wie sie mit ihren eigenen
       Emotionen umgehen sollen“, erläutert Hexspor. „Manche machen im Alter von
       zehn wieder ins Bett. Andere haben Alpträume. Viele haben aufgestaute
       Aggressionen und streiten ständig. Andere ziehen sich vollkommen in sich
       selbst zurück.“
       
       Selbst wenn es genug Schulplätze gäbe, für einen großen Teil der älteren
       Kinder schreibt das Leben einen anderen Plan. Ab dem Alter von zwölf Jahren
       gingen viele von ihnen arbeiten, um das Überleben der Familie im Libanon
       mit abzusichern, erzählt Hexspor weiter. Die Kinder arbeiten in
       Restaurants, in Fabriken, sie helfen in der Landwirtschaft, sie verkaufen
       Dinge auf der Straße oder arbeiten in Werkstätten, um Autos zu reparieren.
       
       Diese kleinen Menschen, die ihre Kindheit in Werkstätten und hinter
       Ladentheken abgegeben haben, trifft man überall in Beirut. Beispielsweise
       den 13-jährigen Ahmad Hamadi. In einer kleinen Bäckerei verrichtet er den
       ganzen Tag allerlei Handlangerdienste. Er kehrt und schrubbt den Boden, er
       wischt die Theke und putzt die Vitrine. Aber meistens ist er in den engen
       Gassen zu Fuß unterwegs, um Bestellungen auszuliefern. „Ich komme aus einem
       Dorf in der Nähe Aleppos. Wir sind hierhergekommen, nachdem unser Haus im
       Krieg zerstört wurde“, erzählt der aufgeweckte Junge. Er ist stolz darauf,
       Arbeit gefunden zu haben. „Ich bekomme umgerechnet 19 Euro pro Woche dafür
       und kann damit helfen, die Ausgaben unserer Familie zu decken“, berichtet
       er.
       
       ## Billige Arbeitskräfte
       
       „Hoffentlich werden wir eines Tages wieder nach Syrien zurückkehren. Mein
       Traum wäre es, wieder in die Schule zu gehen und eines Tages Arzt zu
       werden“, fügt Ahmad noch hinzu. Wirklich daran glauben kann er aber nicht.
       „Ich habe ohnehin alles vergessen, was ich früher in Syrien in der Schule
       gelernt habe“, sagt er, lächelt, nimmt die nächste Bestellung entgegen und
       macht sich auf den Weg. Er hat keine Zeit zu reden, er muss arbeiten.
       
       Zurück bleibt sein Chef Ahmad Hassoun, der Bäcker, selbst ein Flüchtling
       aus Syrien und gerade einmal sechs Jahre älter als der kleine Ahmad. „Die
       syrischen Kinder arbeiten hier überall, für sie ist es wesentlich leichter,
       Arbeit zu finden, als für die Erwachsenen, weil sie billiger sind“, fasst
       er das Kalkül des informellen libanesischen Arbeitsmarktes zusammen. „Zwei
       arbeitende Kinder schaffen den Lohn eines Erwachsenen ran“, rechnet er aus.
       
       Die Bäckerei befindet sich im Palästinenserlager Schatila, einem
       abgeschlossenen Viertel Beiruts. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass
       die palästinensischen Flüchtlinge von einst nun die Neuankömmlinge
       aufnehmen. Fast 30.000 Menschen drängen sich auf einem halben
       Quadratkilometer zusammen. Die Hälfte der Einwohner des Palästinenserlagers
       kommt inzwischen aus Syrien, auch weil die Mieten hier billiger sind.
       
       Die Palästinenserin Hoda al-Ajouz leitet eine kleine lokale
       Hilfsorganisation, die auch mit den syrischen Flüchtlingskindern im Lager
       zusammenarbeitet. Sie kennt hier fast jeden. „Es gibt noch jüngere Kinder
       als Ahmad, die arbeiten müssen“, erzählt sie. Da der Vater keine Arbeit
       fände, lebe die Familie von Ahmads Gehalt und von dem, was seine Mutter als
       Putzfrau verdiene. Manchmal nehme die Mutter auch Ahmads 14-jährige
       Schwester als Helferin mit zur Arbeit.
       
       ## Raketen und Blut
       
       Al-Ajouz führt durch das Lager. Es geht vorbei an zahlreichen Läden und
       Werkstätten, in eine kleine dunkle Gasse. Das einzige Licht kommt aus einem
       Internet-Café, in dem kleine Jungen kaum ansprechbar vor den Computern
       sitzen und War Games spielen. Die Gasse, durch die sie mit ihren virtuellen
       Kämpfern schleichen, um ihre Gegner zu erschießen, gleicht auf fatale Weise
       jener vor der Tür. Sie sind geflohen vor dem Krieg, gefangen im
       Kriegsspiel.
       
       Ein paar Meter weiter kommen wir zu einer kleinen informellen Schule.
       Al-Ajouz führt in den ersten Stock in einen kleinen Raum, in dem ein
       Dutzend Grundschüler in U-Form an ihren Pulten sitzen und die begeistert
       das englische Alphabet nachsingen. „Am Vormittag lernen hier unsere
       palästinensischen Kinder, am Nachmittag die syrischen“, erzählt sie stolz.
       Die Arbeit mit den syrischen Kindern sei nicht einfach, sagt sie und zieht
       als Beweis ein paar Bilder aus dem Schrank.
       
       Eines hat der achtjährige Abdallah gemalt. Unter einem dunkelvioletten
       Himmel ist schemenhaft ein Flugzeug zu sehen. Raketen schlagen ein. Der
       überwiegende Teil des Bildes ist Rot, das Blut, das aus einigen in der
       Mitte des Bildes zerrissenen schwarz gemalten Figuren fließt. Eine andere
       Figur schießt auf sie ein.
       
       „Wenn sie hierherkommen, dann malen sie zuerst Bilder vom Krieg, von
       einschlagenden Raketen von Geschützen, von Kämpfen, in denen Blut fließt.
       Wir arbeiten lange mit ihnen, damit sie das vergessen. Irgendwann malen sie
       dann wieder wie andere Kinder. Dann malen sie das Meer oder die Berge oder
       sie zeichnen einen Beruf, den sie später einmal ausüben wollen“, erzählt
       Hoda al-Ajouz und holt ein neueres Bild des kleinen Abdallah hervor. Eine
       Schale mit buntem Obst hat er diesmal gemalt. Er hat noch zwei, drei Jahre
       vor sich, dann wird achtjährige Abdallah wie der Bäckerbote Ahmad wohl auch
       arbeiten gehen müssen.
       
       18 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karim El-Gawhary
       
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