# taz.de -- Zwangsverheiratungen nehmen zu: Mit kochendem Wasser und Benzin überschüttet
       
       > Zunehmend suchen auch junge Männer wie Nasser Schutz vor
       > Zwangsverheiratungen. Doch es fehlt an Hilfen.
       
 (IMG) Bild: Nasser kämpft mit mutigen Schritten gegen seine Angst.
       
       Mehr Beratungs- und Unterbringungsmöglichkeiten für von ihren Familien
       bedrohte Mädchen und junge Frauen, vor allem aber: endlich solche Angebote
       auch für Jungen und junge Männer. Das forderte am Dienstagnachmittag die
       Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzbergs, Monika Herrmann, auch im
       Namen des berlinweiten Arbeitskreises Zwangsverheiratung, mit dem der
       Bezirk zusammenarbeitet.
       
       Unterstützung bekam die Grüne dabei aus besonders berufenem, weil
       persönlich betroffenem Munde. Er sei mit 15 Jahren aus seinem Elternhaus
       weggelaufen, nachdem eine Mitschülerin ihn dort als homosexuell geoutet und
       sein Vater gedroht habe, „er werde mir persönlich ein Messer in den Hals
       rammen“, erzählt der heute 18-jährige Nasser im Büro der Bürgermeisterin.
       Und: „Ich wusste damals überhaupt nicht, wohin ich mich wenden kann.“ Das
       Jugendamt sei ihm als Ansprechmöglichkeit zwar eingefallen, „aber da es
       Abend war, war dort schon geschlossen“, erinnert sich der junge Mann.
       
       Von der Polizei habe er gedacht, „dass sie mich nach Hause bringen würde“.
       Und vielen Freunden oder Familienangehörigen konnte er nur bedingt
       vertrauen: „Ich wusste nicht, ob sie nicht meinen Eltern Bescheid sagen
       würden.“ Bei deutschstämmigen Freunden kam der Jugendliche damals zunächst
       unter, bis er dann doch zum Jugendamt ging, das den Eltern sofort das
       Sorgerecht entzog. Eine betreute Wohnmöglichkeit für Nasser zu finden war
       dennoch nicht leicht, denn ein Großteil der entsprechenden Einrichtungen
       richtet sich an junge Frauen und Mädchen, „und auch die sind alle
       überfüllt“, berichten Birim Bayam von der Kriseneinrichtung für junge
       Migrantinnen, „Papatya“, und Dorothea Zimmermann von „Wildwasser“,
       ebenfalls eine Einrichtung für Mädchen, die bei der Pressekonferenz
       anwesend waren und auch im AK Zwangsheirat mitarbeiten.
       
       Regelmäßig erfasst der Arbeitskreis durch Befragung von Behörden und
       Beratungseinrichtungen Fälle drohender Zwangsverheiratungen in Berlin. Laut
       der jüngsten Erhebung, die am Dienstag präsentiert wurde, sind die Zahlen
       seit der letzten Umfrage 2007 gestiegen: von damals 378 auf 460 im Jahr
       2013. Dies könne allerdings auch der größeren Zahl beteiligter
       Einrichtungen bei der jüngsten Befragung sowie „einer stärkeren
       Sensibilisierung von MitarbeiterInnen in Behörden und Beratungsstellen“
       geschuldet sein, so die Gleichstellungsbeauftragte des
       Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksamtes Petra Koch-Knöbel.
       
       Laut der Befragung sind vor allem 18- bis 21-Jährige von
       Zwangsverheiratungen bedroht, doch auch Fälle von 10- bis 12-jährigen
       Kindern wurden bekannt. Mit 32 Prozent sind Türkeistämmige die häufigste
       Opfergruppe, gefolgt von Arabischstämmigen (22 Prozent) und Jugendlichen
       und jungen Erwachsenen aus den Balkanstaaten (18 Prozent). Dabei handele es
       sich keineswegs ausschließlich um muslimische Familien, so Herrmann: auch
       aus christlichen, hinduistischen und jesidischen Familien würden Fälle
       drohender oder vollzogener Zwangsverheiratung bekannt. 94 Prozent der
       erfassten Fälle betrafen Mädchen oder junge Frauen, bei 29 Opfern handelte
       es sich um Jungen oder junge Männer – eine niedrige absolute Zahl, doch
       gegenüber der letzten Befragung ein Anstieg von über 150 Prozent.
       
       Auch in Nassers Fall versuchte die Familie, das „Problem Homosexualität,
       die nach dem Glauben meiner Familie als Todsünde gilt“, so der junge Mann,
       mit einer Zwangsverheiratung zu lösen. Als der Jugendliche sich von seiner
       Mutter zu einem Besuch zu Hause überreden ließ, wurde er entführt und ins
       Ausland gebracht. Man werde ihn im Libanon verheiraten, hatte ihm ein
       Verwandter angekündigt: „Und mir gratuliert!“, erinnert sich Nasser. Nur
       die Aufmerksamkeit der BetreuerInnen, die Anzeige erstatteten, als der
       Junge sich nicht mehr wie vereinbart regelmäßig meldete, verhinderte das.
       An der rumänisch-bulgarischen Grenze wurden die Entführer gestellt, Nasser
       wurde befreit.
       
       Er lebt heute in einer betreuten Einrichtung, holt seinen Mittleren
       Schulabschluss nach – und kämpft mit mutigen Schritten gegen seine Angst:
       Nasser hat seine Eltern angezeigt. Wegen der Entführung, auch wegen
       körperlicher Misshandlungen, die ihm zugefügt wurden, als seine
       Homosexualität bekannt wurde. Er sei ausgepeitscht worden, mit kochendem
       Wasser oder Benzin überschüttet, berichtet der junge Mann. Angst habe er
       aber nicht mehr, „und auch Rache ist nicht mein Motiv“: „Ich will
       erreichen, dass die Öffentlichkeit auf Fälle wie meinen endlich aufmerksam
       wird.“
       
       25 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alke Wierth
       
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