# taz.de -- Ermittlungen wegen Totschlags: Ein Funken Gerechtigkeit in Baltimore
       
       > Nach dem Tod Freddie Grays: Die Ankündigung einer Anklage, die lange
       > Haftstrafen für die Polizisten bedeuten kann, findet große Zustimmung.
       
 (IMG) Bild: Proteste am Abend des 1. Mai, kurz vor Beginn der Ausgangssperre.
       
       BALTIMORE taz | „Danke Marilyn Mosby!" Beim ersten Mal kommt es als
       Zwischenruf. Da hat die Staatsanwältin für den Bundesstaat Maryland ihre
       erste öffentliche Rede zum Fall Freddie Gray noch gar nicht beendet. Aber
       sie hat bereits das Wichtigste gesagt. Und alle, die ihr zuhören,
       verstehen, dass sie Geschichte schreibt. Marilyn Mosby wagt es, Polizisten
       anzuklagen: Wegen Totschlags, wegen ungerechtfertigter Verhaftung und wegen
       unterlassener Hilfeleistung.
       
       In Baltimore löst sie damit ein Freudenfest aus, das den ganzen Tag und bis
       zum Beginn der nächtlichen Ausgangssperre dauern soll. Unbekannte fallen
       sich in die Arme. Autos fahren hupend durch die Stadt. Junge Leute tanzen
       auf der Straße. Und immer wieder bekunden Menschen ihre Dankbarkeit.
       
       Marilyn Mosby hat ihr Amt erst im Januar angetreten. Mit 35 Jahren ist sie
       die jüngste Staatsanwältin einer us-amerikanischen Großstadt. Im
       vergangenen Jahr, in ihrem Wahlkampf für das Amt, erwarb sie sich den Ruf,
       brilliant und sorgfältig zu sein. Doch am 1. Mai übertrifft sie alle
       Erwartungen. Am Vortag hat ihr die Polizei von Baltimore, 24 Stunden früher
       als ursprünglich geplant, die interne Polizeiuntersuchung vorgelegt.
       Parallel dazu hat die Staatsanwältin in den zurückliegenden Wochen eigene
       Ermittler los geschickt, Zeugen vernommen, Dokumente gesucht.
       
       Bei ihrer Pressekonferenz unter freiem Himmel hätte Mosby die bis dahin
       vorliegenden Ergebnisse bekannt machen und - möglicherweise, aber nicht
       unbedingt - einen Zeitplan für das weitere Vorgehen vorlegen können.
       Stattdessen beschreibt sie, was die Polizei alles falsch gemacht hat.
       
       ## Lange Haftstrafen möglich
       
       Das Stichwort „Totschlag" fällt als erstes. Danach erklärt sie, dass das
       Taschenmesser in der Hosentasche von Freddie Gray legal war und keineswegs
       eine Verhaftung rechtfertige (die Polizei hatte es als Vorwand benutzt).
       Dass die Polizei die vielfach wiederholten Bitten von Freddie Gray um
       medizinische Hilfe trotz „offensichtlicher" Notwendigkeit ignoriert hat.
       Dass sie dem gefesselten Mann in dem Gefangenentransport entgegen den
       Regeln keinen Sicherheitsgurt angelegt hat. Und dass sie bei jedem neuen
       der vier Stopps auf dem Weg zur Polizei trotz der rapiden Verschlechterung
       von Freddie Grays Situation „grob fahrlässig" nichts unternommen hat, um
       ihm medizinisch zu helfen.
       
       Im Falle von Verurteilungen können die Anklagen der Staatsanwältin zu
       Gefängnisstrafen von bis zu 30 Jahren führen. Noch am Abend des 1. Mai sind
       alle sechs beteiligten Polizisten - drei Weiße und drei Schwarze, fünf
       Männer und eine Frau - hinter Gittern. Sie werden in dem selben Gefängnis
       aufgenommen, wo in den zurückliegenden Tagen auch Hunderte der
       Demonstranten gegen Polizeigewalt festgehalten worden sind.
       
       Stunden später defilieren Tausende Menschen an dem Gefängnis in der
       Innenstadt vorbei. Es ist eine von mehreren Demonstrationen dieses Tages.
       „Dies ist eines der positivsten Ereignisse meines Lebens sagt ein
       Bürgerrechtler, der schon in den 60er Jahren dabei war. „Baltimore wird ein
       Modell für den Umgang mit Polizeigewalt", freuen sich andere. Weder
       Ferguson, noch New York haben es geschafft, so klar gegen Polizeigewalt
       vorzugehen.
       
       „Bye-Bye Batts" fordern Demonstranten den Polizeichef von Baltimore auf, zu
       gehen. Auch Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake kommt bei den
       Demonstranten - u.a. wegen ihrer bösen Worte für jugendliche Randalierer -
       nicht gut weg. Nur die Staatsanwältin, die ist unumstritten.
       
       ## Die Familie hofft auf Gerechtigkeit
       
       Für die Familie von Freddie Gray kommentiert Stiefvater Richard die Anklage
       bei einer Pressekonferenz: „Das ist ein wichtiger Schritt, um Gerechtigkeit
       für ihn zu bekommen". Der Familienanwalt William Murphy spricht davon, dass
       es „zu viele Freddie Grays in den USA" gibt und dass die nachhaltige
       Antwort auf die Gewalt - wie auf jedes andere große Übel - „love" - Liebe -
       sein müsse.
       
       Gleichzeitig geht die mächtige Polizeigewerkschaft „Fraternal Order of
       Police" (FOP) in die Offensive gegen die Staatsanwältin. FOP-Chef Gene Ryan
       beschreibt seine sechs inhaftierten Polizisten als völlig unschuldig am Tod
       von Freddie Gray und als „sehr betroffen" darüber. Er veröffentlicht einen
       Spendenaufruf, um 600.000 Dollar für die inhaftierten Polizisten zu
       sammeln. Doch schon nach 30 Minuten verschwindet der wieder aus dem
       Internet.
       
       Ryan verlangt, dass Mosby den Fall abgibt, weil sie angeblich befangen ist.
       Weil sie mit einem Lokalpolitiker verheiratet ist, der auch den Distrikt
       der Familie Gray vertritt. Und weil der Familienanwalt der Grays im
       vergangenen Jahr einer von ihren Unterstützern im Wahlkampf war. Freilich
       hat damals auch die FOP der Staatsanwältin Geld für den Wahlkampf gegeben.
       Für Mosby sprach damals aus der Sicht der FOP, dass sie aus einer Dynastie
       von Polizisten stammt.
       
       „Heute Abend bin ich stolz auf meine Stadt", sagt die 51jährige Stacey am
       Abend des 1. Mai. Sie kannte Freddie Gray als Nachbarin in dem
       heruntergekommenen Stadtteil auf der Westseite von Baltimore, wo viele
       Straßen aussehen, wie direkt nach einem Krieg.
       
       ## Hunderte Jahre Ungerechtigkeit
       
       Sie hat viele gewaltsame Todesfälle von jungen schwarzen Männern aus dem
       Stadtteil erlebt. Aber das gebrochene Genick von Freddie Gray brachte das
       Fass zum überlaufen. Sie ging zu Demonstrationen. Brachte sogar Verständnis
       für die Plünderungen einiger Jungen am vergangenen Montag auf. „Ihre
       Schulen werden geschlossen", sagt sie, „manche Kinder kriegen zuhause nur
       ein Essen. Sie haben keine Bücher. Und die Stadt baut nicht einmal
       Sportplätze".
       
       Sie ist überzeugt, dass erst der massive Protest der zurückliegenden Wochen
       die Anklage der Staatsanwältin möglich gemacht hat. Sie steht an einer
       Straßenkreuzung auf der Westseite von Baltimore vor einem Wandgemälde, das
       an Freddie Gray und andere Opfer von Polizeigewalt erinnert. Zu Füßen des
       Wandgemäldes haben am 11. April mehrere Fahrrad-Polizisten mit den Knieen
       auf Freddie Grays Rücken und Kopf gehockt, bis der Gefangenentransporter
       kam, um ihn abzuholen. Als sie ihn dort hineinschleppten, schrie Gray vor
       Schmerzen und zog ein Bein, wie schon nicht mehr zu seinem Körper gehörig,
       hinter sich her. „Wir wollen, dass die Polizisten verurteilt werden", sagt
       Stacey.
       
       Aber mit einem Urteil allein ist es nicht getan. „Hier gibt es Hunderte
       Jahre Ungerechtigkeit", sagt sie, „das ganze System muss geändert werden".
       
       2 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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