# taz.de -- PKK in Deutschland und der Türkei: Ein Leben auf Schleichwegen
       
       > Noch immer geben junge Menschen alles auf, um für die kurdische
       > Arbeiterpartei zu kämpfen. Eine Recherche im Untergrund.
       
 (IMG) Bild: Kämpfer der PKK Anfang März in Nusaybin in der Türkei
       
       Diyarbakir/Simmerath taz | Hüseyin muss Deutschland verlassen. So schnell
       wie möglich. In wenigen Tagen wird er in ein Auto steigen. Man wird ihn von
       Grenze zu Grenze schleusen, über die Türkei bis in den Nordirak, zu den
       Ausbildungslagern der PKK in den Kandil-Bergen.
       
       Hüseyin ist untergetaucht. Sein Versteck: Eine Studentenwohnung irgendwo in
       Nordrhein-Westfalen. Wo genau, darf niemand wissen. Es ist Ende Januar
       2016, Kälte strahlt von den Wänden ins Esszimmer. Ein roter Stern in einem
       gelben Kreis, umrandet von einem grünen Ring schmückt die ansonsten kargen
       Wände – das Symbol der PKK. Mobiltelefone liegen im Nebenzimmer. Akkus und
       SIM-Karten sind ausgebaut.
       
       Er, der sich nur in Deutschland Hüseyin nennt, gehört zum Kader der PKK,
       der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei. Deutsche Behörden hatten ihn im
       vergangenen Sommer enttarnt. Wenn sie ihn kriegen, kommt er in
       Untersuchungshaft.
       
       Die PKK gilt in Deutschland noch immer als Terrororganisation. Sie kämpft
       für die Rechte der kurdischen Minderheiten in der Türkei, in Syrien, im
       Iran und im Irak. Und für eine kurdische Autonomieregion. Recep Tayyip
       Erdoğan, der Präsident der Türkei, erklärte im Juli 2015 die
       Friedensverhandlungen mit der PKK für gescheitert, seitdem ist wieder Krieg
       im Südosten der Türkei. InDiyarbakir, dem Zentrum der türkischen Kurden,
       gilt seit Dezember 2015 eine Ausgangssperre.
       
       Auf dem Herd pfeift ein Teekessel, Hüseyin nimmt ihn herunter. Er humpelt,
       schleift sein rechtes Bein mit. Erst füllt er das Wasser in die Teegläser,
       dann die bernsteinfarbene Schwarztee-Essenz. Der Geruch erinnert ihn an die
       Türkei, den Krieg. „Ich muss zurück“, sagt er. „Werde ich kämpfen? Ich
       hoffe es.“
       
       ## Deutschland, die „kapitalistische Moderne“
       
       Hüseyin ist im kurdischen Gebiet der Türkei geboren. Mit Anfang 20 schloss
       er sich der PKK an. Er sah damals, in den 1990er Jahren, wie die türkische
       Armee Dörfer niederbrannte, Menschen folterte und hinrichtete. Er sah auch,
       wie die PKK Bomben in Touristenorten explodieren ließ. Nun ist er knapp 40,
       seine Haare sind leicht ergraut, ein paar Falten durchziehen die Wangen.
       
       Die PKK bildete Hüseyin für den Krieg aus. Dort will er hin, raus aus
       Deutschland, der „kapitalistischen Moderne“. Wenn da nicht sein Bein wäre.
       Als er vor zwei Jahren in Syrien und im Irak gegen die Terrormiliz
       Islamischer Staat kämpfte, explodierte eine Granate neben ihm, ein Splitter
       rammte sich in seinen Oberschenkel. Die Militärführung der PKK versetzte
       ihn Anfang 2014 zu Genesung nach Deutschland. Europa, der „Ruhe- und
       Rückzugsraum“ der PKK – so beschrieb es der Verfassungsschutz 2015.
       
       Hüseyin arbeitet hier weiter. Seine Aufgabe: kurdische Studierende an
       deutschen Universitäten für die Ziele der PKK radikalisieren. Im besten
       Fall sollen sie in die Kandil-Berge reisen und sich dort in den Lagern der
       PKK ausbilden lassen. Im Sektor Mitte, in Nordrhein-Westfalen und Hessen,
       ist er der Ansprechpartner – der erste Knotenpunkt einer Reise, die für
       manche bedeutet, alles hinter sich zu lassen: Freunde, Familie, Besitz.
       
       Einen Monat nach dem ersten Treffen ist Hüseyin weg. Das Handy funktioniert
       nicht mehr. Wer ihn finden will, muss nachDiyarbakir reisen, dem Drehkreuz
       der PKK. Revolutionstouristen landen hier, Sympathisanten, Journalisten,
       Parteikader und Guerillas.
       
       ***
       
       Vor der Zentrale der prokurdischen Demokratischen Partei der Regionen (DBP)
       inDiyarbakir. Oktober 2014. Ruß hat die Straße schwarz gefärbt. Es riecht
       nach verbrannten Autoreifen und Asche der Holzbarrikaden vom Vorabend.
       Reste von Tränengas beißen sich in die Lunge. Jugendliche, etwa zwölf Jahre
       alt, türmen Holzbalken auf. Daneben spielen ihre Freunde Fußball, mit
       leeren Tränengaskanistern als Pfosten.
       
       Vom ersten Stock der Zentrale aus schaut Mirza auf den Vorplatz. Mirza ist
       25, er nutzt hier gelegentlich ein Computerzimmer für seine Arbeit als
       PKK-Jugendkader. „Der Feind hat drei Freunde festgenommen. Zwei andere
       haben die Islamisten von Hüda Par erschossen“, sagt er. „Die Nacht war
       nicht gut.“
       
       In Mirza sah die Parteiführung keinen Kämpfer, sondern einen Organisator.
       Seine Haare sind streng zur Seite gekämmt, das karierte Hemd knöpft er
       immer bis zum vorletzten Knopf zu. Ein ruhiger Typ. Doch manchmal, wenn er
       an früher denkt, wird er wütend: Türkische Antiterroreinheiten
       verschleppten seinen Onkel, Mirza sah ihn nie wieder. Der Vorwurf: Der
       Onkel soll Guerillas versteckt haben. Mirza erinnert sich auch daran, wie
       sein Vater die Familie einfach verließ, zwölf Kinder in Armut zurückließ.
       Mirza war der Jüngste. Als er alt genug war, schloss er sich der PKK an. Um
       zu kämpfen und auch, um neuen Halt zu finden.
       
       ## „Wir wollen in die Berge. Kämpfen.“
       
       Zwei Jungen betreten Mirzas improvisiertes Arbeitszimmer und setzen sich.
       Sie wirken nervös. „Heval Hüseyin hat uns geschickt“, sagt einer der
       beiden. Genosse Hüseyin aus Deutschland. „Wir wollen in die Berge. Kämpfen.
       Kannst du uns helfen?“ Sie erzählen, dass sie in Köln wohnen und dort für
       die „Partei“ gearbeitet haben. Sie sammelten Spenden für die belagerte
       Stadt Kobane und organisierten Proteste gegen das PKK-Verbot. Ihre Eltern
       und Freunde wissen nicht, dass sie hier sind. Besser so. Nur Hüseyin kennt
       die Details.
       
       Die beiden sprechen Kurdisch mit deutschem Akzent. Mirza fragt, ob sie
       einen Zettel dabei hätten. Sie nicken. Er überlegt kurz und sagt: „Meine
       Freunde, seid ihr euch sicher? So eine Entscheidung lässt sich nicht
       einfach rückgängig machen. Euch muss bewusst sein, dass nur die Partei
       weiß, was eure Aufgabe sein wird.“
       
       Dann schreibt Mirza einen kleinen Zettel. In Zigarettenfolie verschweißt
       sollen sie ihn in ihrer Hose einnähen. Wenn die Polizei sie findet, sollen
       sie den Zettel essen, wenn nicht, sollen sie ihn einem Kader in Erbil
       geben, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak – die letzte
       Station vor den Ausbildungslagern der PKK im Kandil-Berge.
       
       ***
       
       So ist das hier. Die Partei weiß es am besten. Dieses Verständnis teilen
       alle, die sich ihr anschließen. Jeder ist ein Rädchen, jeder hat seine
       Aufgabe. Als Jugendkader kümmert sich Mirza um die neuen Rekruten, die in
       den Bergen zu Guerillas werden wollen. Die PKK-Jugend bekommt ihre Aufgaben
       zwar von der Führung, darf aber selbst entscheiden, wie sie sich intern
       organisiert. Ohne sie ginge nichts.
       
       Etwa zwanzig Jugendkader kommen täglich in die Zentrale. Sie sind der
       Mittelbau der Organisation, schreiben für die Jugendzeitschrift Yurtsever
       Genclik (Patriotische Jugend) zetteln Aufstände an, unterstützen die
       militante Jugendorganisation YDG-H logistisch mit Verstecken und
       Molotowcocktails. Oder sie bringen die Bewohner dazu, sogenannte
       Volkskomitees zu gründen, um lokale Probleme in einer Art Selbstverwaltung
       zu lösen. Sie leben im Untergrund und wechseln ständig ihre Namen.
       
       Vor der Tür raucht Songül, eine junge Frau ausKahramanmaraş. Neonleuchten
       erhellen den Gang. Gebeugt sitzt Songül da, zwei schwarze Locken verdecken
       ihr Gesicht. Sie reibt sich die Augen. Ab und zu nippt sie an ihrem
       Schwarztee – ihre achte Tasse heute. Mit der Glut ihrer Zigarette zündet
       sie einen Zettel an, nur der Absender und sie dürfen wissen, was auf ihm
       stand.
       
       Songül ist für die Europäer zuständig, die nach Rojava wollen, die
       kurdische Autonomieregion in Nordsyrien. Linke Autonome, Altkommunisten,
       Internationalisten und Feministen. Manche wollen zerstörte Gebäude
       wiederaufbauen, andere wollen Verletzte versorgen.
       
       ## Zuallererst ist Songül Kurdin
       
       Songül ist seit 2012 bei der PKK, sie schätzt sie. Ihre Familie lebt an der
       westlichen Grenze des kurdischen Siedlungsgebiets. Dort, wo die Kurden am
       assimiliertesten sind, wo sie eine Mischung aus kurdischen Dialekten und
       Türkisch sprechen. Songüls Familie definiert sich vor allem über ihre
       Religion, sie sind Aleviten. Sie selbst aber fühlt, dass sie zuallererst
       Kurdin ist. Als solche, glaubt sie, muss sie für „die Partei“ arbeiten.
       
       Vor Kurzem hat Songül eine Delegation aus Simmerath in Nordrhein-Westfalen
       betreut. Hüseyin hat ihr Studenten geschickt, die nach Rojava fahren
       sollen.
       
       ***
       
       Frühsommer 2014. Eine Pension am See, in der Nähe von Simmerath. Vereinzelt
       stehen Einfamilienhäuser auf der gewellten Hochfläche der Nordeifel. Auf
       dem See spiegelt sich der Mond, am Ufer zeichnen sich unter Planen Kanus
       ab. Ein Ort für „Outdoorfans“ und „Romantiker“, wie ein Prospekt für
       Familienurlauber wirbt.
       
       Aus dem Aufenthaltsraum der Pension kommt laute Musik. Junge Menschen
       tanzen eingehakt im Kreis zu kurdischen Liedern. Eine Frau führt sie an,
       sie wirbelt ein gelb-grün-rotes Tuch herum. Die Farben der PKK, für viele
       auch die Farben Kurdistans.
       
       Abseits der Tanzenden klatscht Hüseyin zur Musik. Den Takt trifft er nicht,
       lächelt verlegen. „Wir sollten anfangen“, flüstert er Veit zu, einem
       Deutschen, der eigentlich anders heißt, so wie alle in dieser Geschichte.
       „Bringt eure Handys in die Zimmer. Aber lasst Akkus und SIM-Karten drin. Es
       ist verdächtig, wenn neun Handys gleichzeitig aus dem Netz fliegen.“
       
       Nur eine geschlossene Tür trennt die Tanzenden im Aufenthaltsraum von der
       Großküche. Dort versammeln sie sich. Neun junge Menschen, vor allem
       kurdische Studierende, geboren und aufgewachsen in Deutschland. Aber auch
       zwei aus der Autonomen Szene Marburgs – „Biodeutsche“ wie Veit. Sie planen
       ihre Reise nach Rojava. Dort wollen sie die Strukturen der PKK
       kennenlernen. Manche überlegen sich, zu bleiben und zu kämpfen.
       
       ## Ein Blick, der einschüchtert
       
       Hüseyin hat Veit die Organisation übertragen. „Nur weil Deutschland ein
       außenpolitisches Interesse daran hat, mit der Türkei zu kooperieren, wird
       die kurdische Bewegung kriminalisiert. Das regt mich auf“, sagt Veit,
       millimeterkurze braune Haare, kantiges Gesicht, breites Kreuz. Und ein
       Blick, der einschüchtert.
       
       Veit studiert Politik. An der Uni gab es eine Podiumsdiskussion der
       kurdischen Studierendenorganisation YXK. Das Thema: die Aufhebung des
       PKK-Verbots. Veit ging hin, Mitglieder der YXK sprachen ihn an, er las sich
       ein, dann übernahm er die Leitung der Organisation an seiner Uni.
       
       Die Studenten in der Großküche sind angespannt, warten auf Hüseyins Worte.
       Es riecht nach gebratenem Hühnchen und Spülmittel. „Ihr werdet euch
       inDiyarbakir treffen. Von dort fahrt ihr nach Erbil, wo ihr mit einer
       anderen Delegation zusammenkommt. Dann geht es über die syrische Grenze
       nach Rojava. Unsere Freunde erwarten euch dort.“
       
       Rojava – ein Sehnsuchtsort, eine Utopie. Nachdem Assads Regierungstruppen
       aus der Region in Nordsyrien abgezogen waren, um das Kernland des Regimes
       an der Küste zu verteidigen, konnten die Kurden das Machtvakuum schließen.
       2012 riefen sie ihre Autonomie aus. Die PKK half den Kurden dort, ein
       föderatives System zu etablieren, das aus Kommunen und Räten besteht und
       der Ideologie von Abdullah Öcalan folgt, dem Führer der PKK, der seit 1999
       im Gefängnis sitzt.
       
       ## „Spione sind überall“
       
       Kader der PKK organisieren regelmäßig solche Reisen, meistens
       nachDiyarbakir, seit 2012 aber auch nach Rojava. Viele erhoffen sich, dort
       die Revolution in der Praxis zu sehen. Immer sind junge Linke dabei,
       infiziert von der hochpolitischen Stimmung und der Idee, Revolutionäre zu
       sein. Zu sehen gibt es: Kämpferinnen gegen die Terrormiliz Islamischer
       Staat, Räteversammlungen und Landwirtschaftskooperativen. Kurdischer
       Widerstands-Pop. PKK-Öffentlichkeitsarbeit.
       
       Jemand fragt, wie sicher es in Rojava gerade ist. „Wir befreien jeden Tag
       mehr Dörfer vom IS. Die Lage ist gut. Trotzdem dürft ihr niemandem von der
       Reise erzählen. Spione sind überall“, sagt Hüseyin. Veit fällt ihm ins Wort
       und fragt: „Hat uns jeder seinen Sicherheitskontakt gesagt?“ Alle nicken.
       Sollte jemand festgenommen, verletzt oder getötet werden, ruft Veit diese
       Person an.
       
       Dann klingelt Hüseyins Handy. Er muss weiter. Seine Aufgabe ist hier
       erledigt. Der Kontakt zwischen der Delegation und den PKK-Kadern in der
       Türkei und in Rojava steht. Veit und die anderen müssen es jetzt allein
       dorthin schaffen.
       
       ***
       
       Diyarbakir. Es ist dunkel, die Straßenlaternen sind ausgefallen. Katzen
       suchen in den offenen Mülltonnen nach Essen. Der Weg ist nicht geteert,
       viele Häuser sind aus unverputzten Ziegelsteinen und Wellblech. An
       Häuserwänden hängen Plakate der prokurdischen HDP, der Demokratischen
       Partei der Völker, die bei den vergangenen Parlamentswahlen knapp 11
       Prozent geholt hat. Sie warnen vor Drogen, Sexismus, Gewalt und Rassismus.
       In großen Buchstaben steht „Aşîtî“ darauf: Frieden.
       
       Männer vertreiben sich ihre Zeit in Cafés, spielen Karten oder Rummikub um
       Geld. Nicht selten liefern sich vor dem Café junge PKK-Anhänger
       Straßenschlachten mit Polizisten. Dann schließt einer im Café einfach die
       Tür zu. Vor allem, wenn gerade ein wichtiges Fußballspiel läuft.
       
       Aus der Ferne nähert sich dröhnend-knatternder Lärm, der jedes andere
       Geräusch übertönt. Wenige Sekunden später fliegt ein türkischer Kampfjet
       über die Häuser. „Der fliegt nach Kandil“, sagt Ciwan, ein Jugendkader, der
       an diesem Abend mit Mirza unterwegs ist. „Instinktiv rennen die Menschen
       auf ihre Balkone, wenn sie Jets hören. Wie früher im Krieg. Es wiederholt
       sich. Aber diesmal haben wir das Volk hinter uns.“
       
       ## Für viele sind die Kader der PKK Befreier
       
       Im Gegensatz zum Krieg in den 1990er Jahren, in dem Zehntausende Menschen
       starben und umgesiedelt wurden, genießen die Kämpfer der PKK heute einen
       starken Rückhalt. Und der steigt, je mehr die türkischen
       Antiterroreinheiten Häuser bombardieren, Jugendliche erschießen und
       Journalisten festnehmen. Für viele Kurden sind die Kader und Guerillas der
       PKK Befreier.
       
       Wenn Mirza und Ciwan sich durchDiyarbakir bewegen, biegen sie oft in
       Schleichwege ab, gehen schnell über Hügel und durch Büsche. Vielleicht
       werden sie beschattet. Sie wissen genau, wo Kameras sind und umgehen sie.
       Als zwei andere Kader ihren Weg kreuzen, grüßen sie nicht.
       
       Mirza und Ciwan klopfen an der Tür einer unbekannten Familie. Hier kommen
       sie erst mal unter. Ein anderer Kader hat ihnen den Weg beschrieben. Genaue
       Adressen werden nie weitergegeben, aus Angst, die Familien könnten vom
       Geheimdienst beschattet werden. Und um sich selbst vor Fehlern zu schützen.
       Spionageabwehr: Nicht jeder muss alles wissen.
       
       Seit der Gründung der PKK 1978 knüpfen die Kader ein Netz aus
       Unterstützern, das bis nach Europa reicht. Nach Schweden, Frankreich,
       Belgien, Österreich und Deutschland. Es besteht aus PKK-Sympathisanten:
       Familien, deren Angehörige Guerillas sind. Oder Familien, deren Angehörige
       von türkischen Polizisten eingesperrt, gefoltert oder getötet wurden.
       
       Diyarbakir ist eines der dichtesten Netze. Ohne die Unterstützung der
       Familien würden die Kader in Städten nicht überleben: Bei ihnen können sie
       ihre Kleider waschen, duschen, sie bekommen ein warmes Abendessen und einen
       Schlafplatz.
       
       ## Kurden leben mit der Sonne
       
       Am nächsten Tag um fünf Uhr morgens klingelt bei Mirza und Ciwan der
       Wecker. Kurden leben mit der Sonne. Die Nacht bringt Unheil. Vor allem die
       späte. Das ist die Zeit, in der die türkischen Antiterroreinheiten auch bei
       dem geringsten Verdacht Wohnungen stürmen.
       
       So wie Ciwan und Mirza eingeschlafen sind, so stehen sie morgens auf, mit
       der Kleidung vom Vortag. Mirza hat seine Zahnbürste in der Brusttasche
       stecken. Auch das hat er in den Ausbildungscamps der PKK gelernt. Sie
       müssen immer bereit sein.
       
       Die Mutter des Hauses ist schon vor ihnen wach. Aus der Küche duftet es
       nach schwarzem Tee mit Nelken. Und nach Börek mit Kartoffeln, gedünsteten
       Zwiebeln und Chiliflocken. Sie eilt in das Zimmer, in dem Mirza und Ciwan
       geschlafen haben, will die Betten machen. Früher schliefen hier ihre
       eigenen Kinder, fünf hatte sie. Mirza nimmt ihr die Decke weg und sagt:
       „Mama, ich mach das für dich.“ Sie küsst ihn auf die Stirn.
       
       Im ehemaligen Kinderzimmer steht nur ein Schreibtisch. Darauf stehen noch
       Fotos aus Kinderzeiten, von Abschlussfeiern und solche, die die Kinder des
       Hauses in Guerilla-Uniformen der PKK zeigen: olivgrün, beige-braune Schuhe
       und eine Kalaschnikow an der Schulter.
       
       ## Fotos getöteter Kämpfer
       
       Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, kurdische Nachrichten von Stêrk TV,
       einem PKK-nahen Propagandasender. Bilder von Kämpferinnen und Kämpfern, sie
       feuern mit Maschinengewehren auf Panzer, laufen von einer Deckung zur
       nächsten. Am Ende der Sendung werden Fotos getöteter Kämpfer gezeigt. Jeden
       Tag sieht die Mutter sich die Sendung an und hofft, niemanden zu erkennen.
       Zweimal war eines ihrer Kinder dabei.
       
       Um nicht nur zu trauern, hilft sie jungen PKK-Kadern wie Mirza und Ciwan,
       behandelt sie wie ihre Söhne. So gehen viele kurdische Mütter mit ihrem
       Schmerz um – und unterstützen so gleichzeitig die Strukturen der PKK.
       
       Mirza und Ciwan müssen los. Die anderen Kader warten. Die Mutter drückt
       ihnen ein Päckchen mit Börek in die Hände. Mirza fragt, ob Kader weiterhin
       von Zeit zu Zeit kommen dürften. Sie antwortet: „Was soll ich denn allein
       sonst tun?“
       
       ***
       
       In Hüseyins Versteck in Nordrhein-Westfalen. Auch Hüseyin reiste früher von
       einem Sektor zum nächsten, schlich sich an türkische Kasernen heran,
       verteidigte auf Hügeln die Stellung mit Waffen und seinem Leben. „Der Krieg
       ändert alles“, sagt er. Für ihn als kurdischen Jugendlichen hieß es damals:
       entweder Jurastudium oder Kalaschnikow. Bei Mirza und Ciwan war das
       ähnlich.
       
       Jetzt muss Hüseyin planen, wie er aus dieser Studentenwohnung in
       Deutschland rauskommt. Er reißt einen Zettel aus einer Zeitschrift. In
       winziger Schrift notiert er darauf letzte Anweisungen für seine Rückkehr,
       zerknüllt das Papier und verschweißt es dann in Zigarettenfolie.Es
       klingelt. Hüseyin sieht durch den Türspion. Sein Bote ist da. Er reicht ihm
       den Zettel, umarmt den jungen Mann und sagt leise: „Wir werden uns
       wiedersehen, mein Freund.“ Beide wissen, wie unwahrscheinlich das ist.
       
       20 Mar 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bahoz Destan
       
       ## TAGS
       
 (DIR) PKK
 (DIR) Kurden
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Deutschland
 (DIR) Graue Wölfe
 (DIR) Rojava
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Schwerpunkt Syrien
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Zaman
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Razzia bei Flüchtlingshelfer: Im Dienst der Grauen Wölfe
       
       Das Vorgehen der Ermittler*innen passt zu einem wachsenden Druck auf
       kurdische Gruppierungen hierzulande.
       
 (DIR) Politischer Pop aus Kurdistan: Klangkunst und Aktivismus
       
       Die Produzentin Antye Greie hat einen Sampler aufgenommen, der die
       Kämpferinnen im kurdischen Rojava zu Wort kommen lässt.
       
 (DIR) Kommentar Terror in der Türkei: Erdoğan eskaliert die Gewalt
       
       Recep Tayyip Erdoğan wurde ursprünglich gewählt, weil er Stabilität
       versprach. Das Gegenteil ist nun der Fall. Die Lage in der Türkei ist
       hoffnungslos.
       
 (DIR) Nach dem Anschlag in Ankara: Türkei bombardiert PKK-Stellungen
       
       Präsident Erdogan verstärkt den Kampf gegen die verbotene kurdische
       Arbeiterpartei. Bei Luftangriffen wurden zahlreiche PKK-Kämpfer getötet.
       
 (DIR) Freie Syrische Armee: Von aller Welt verlassen
       
       Die gemäßigte Freie Syrische Armee ist totgesagt worden. Zwei ihrer
       Generäle aus Aleppo blicken dennoch optimistisch in die Zukunft.
       
 (DIR) Debatte um EU-Beitritt der Türkei: Ein sehr privilegierter Partner
       
       Plötzlich ist wieder von der Aussicht auf einen EU-Beitritt der Türkei die
       Rede. Doch das ist reine Augenwischerei. Denn den will in Wirklichkeit
       niemand.
       
 (DIR) Kommentar Pressefreiheit in der Türkei: Feindliche Übernahme
       
       Das Ziel des türkischen Präsidenten ist offensichtlich. In der Türkei soll
       nur noch das Loblied Erdoğans gesungen werden.