# taz.de -- Nach Protesten in Belarus: Das erstarrte Land
       
       > Drei Jahre sind die Proteste gegen das Regime in Belarus her. Bei vielen
       > war damals die Hoffnung groß – nun dominiert die Resignation.
       
 (IMG) Bild: Hoffen auf ein Ende von Diktator Lukaschenko: Protest von Frauen in Minsk im August 2020
       
       Minsk taz | Die Frauen, die sich an diesem Sommertag auf dem zentralen
       Markt von Minsk versammelt haben, tragen weiße Oberteile. In ihren Händen
       halten sie Blumen in derselben Farbe. Sie stehen ganz vorne in der
       „Menschenkette der Solidarität“ in der belarussischen Hauptstadt. Sie
       hoffen auf einen Wandel in ihrem Land, auf ein Ende der Diktatur.
       
       Drei Jahre ist das nun her. Viele von ihnen sind nicht mehr in Belarus. Sie
       waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, um dem Gefängnis zu entgehen. Auch
       der Baumpfleger Stepan Latypow hatte den Frauen damals Blumen auf dem
       „Platz der Veränderungen“ geschenkt. Er sitzt gerade eine Haftstrafe von
       achteinhalb Jahren ab.
       
       An diesem Tag im Sommer 2023 ist der Zentralmarkt nur spärlich besucht. Die
       Hälfte der Stände hat geschlossen, das Angebot ist überschaubar. Die
       Verkäufer*innen bitten, die Einkäufe bar zu bezahlen. Für eine
       Transaktion an einem Bankschalter wird eine Provision von rund 5 Prozent
       fällig. „Ich weiß gar nicht, ob ich hier noch in einem Monat werde arbeiten
       können“, seufzt die Besitzerin eines kleinen Ladens, der auch
       EU-europäische Produkte verkauft. Die Sanktionen haben auch ihr Geschäft
       getroffen. Ein Kilo Käse für umgerechnet 20 Euro? Bei einem
       Durchschnittslohn von 300 Euro können sich das immer weniger leisten.
       
       ## Faktisch vom Kreml besetzt
       
       Es war ein Leben voller Hoffnung, das 2020 kurzzeitig aufblitzte. Jetzt
       wirkt alles wie erstarrt. Oder sogar tot. Lächelnde Teenager mit
       belarussischen Stickereien auf ihrer Kleidung tanzen nicht mehr auf der
       Straße. Dafür laufen betrunkene Gestalten mit der russischen Trikolore auf
       ihren Schultern wie Sieger durch Minsk – so wie kürzlich aus Anlass der II.
       Spiele der GUS-Staaten. Das Sportfest wird auf der offiziellen Webseite der
       Republik Belarus als „vergleichbar mit Europa- und Weltmeisterschaften“
       angepriesen.
       
       Belarus ist faktisch vom Kreml besetzt. Das Land mutet unheimlich, fast
       unsichtbar an, als ob die Menschen erstickt seien. Immer mehr
       Belaruss*innen denken über Auswanderung nach. Sogar diejenigen, die
       sich seit jeher aus der Politik heraushalten. Denn sie sehen keine Chancen
       für ihr Business, ihre Entwicklung sowie die Zukunft im Allgemeinen. Hinzu
       kommt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Eiserne Vorhang wieder senken
       wird, ist keineswegs illusorisch. Ein Schengen-Visum zu bekommen, ist für
       Belaruss*innen heutzutage kein leichtes Unterfangen. Man wartet vor den
       Botschaften mindestens drei Monate und muss Reisebüros beauftragen, die
       viel Geld verlangen.
       
       Doch selbst mit Visum sind Belaruss*innen in der EU unerwünscht. Erst
       vor Kurzem startete die litauische Regierung vor den Wahlen im kommenden
       Jahr eine Hexenjagd auf sie. Ein Gesetz ist geplant, aufgrund dessen
       Russ*innen und Belaruss*innen gleichermaßen inhaftiert und
       abgeschoben werden können. Von dieser populistischen Maßnahme des
       Präsidenten Gitanas Nausėda waren bereits etwa 1.000 Menschen betroffen.
       Laut Schätzungen leben derzeit etwa 60.000 Belaruss*innen in dem
       baltischen Land.
       
       Kürzlich fand in Warschau turnusgemäß eine Konferenz des sogenannten Neuen
       Belarus statt. Die dort versammelten demokratischen Kräfte, die im Exil
       leben, präsentierten das Ergebnis ihrer einjährigen Arbeit: den Entwurf des
       neuen Belarus-Passes. Allerdings äußerte sich niemand dazu, ob es
       Vereinbarungen darüber gibt, dieses Papier als Dokument anzuerkennen.
       
       Natürlich müssen Lösungen für die Probleme der Menschen her, die
       gezwungenermaßen im Exil leben, sowie für die Kinder, die in den
       vergangenen drei Jahren in anderen Länder geboren wurden.
       
       ## „In einer Sackgasse“
       
       Doch ist es nicht viel wichtiger, was die Menschen in Belarus vom Büro der
       Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, dem Übergangskabinett und
       anderen Strukturen erwarten, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind?
       
       Die Kluft wird jeden Tag größer. Die Belaruss*innen haben aufgehört,
       aufeinander zu hören und einander zu verstehen. Ein Freund sagt verbittert:
       „Wir, die übrig geblieben sind, sind für sie Menschen zweiter Klasse.“ Seit
       drei Jahren hat niemand die Verantwortung übernommen und gesagt: „Wir
       stecken in einer Sackgasse.“ Aus diesem Grund wurde auf der Konferenz kein
       wirklich schmerzhaftes Thema angesprochen, die Frage der Freilassung
       politischer Gefangener etwa. Sie sind vergessen.
       
       Niemand weiß, was jetzt mit Wiktar Babaryka, der 2020 aussichtsreicher
       Kandidat für die Präsidentenwahl war, oder der Bürgerrechtlerin Maryja
       Kalesnikawa passiert, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Das sind in
       Europa immerhin bekannte Namen. Aber was ist mit den Unzähligen, die
       niemand kennt?
       
       In der Freiheit gibt es noch Dinge des täglichen Bedarfs. Im Gefängnis sind
       eine Garnrolle, eine Seife oder ein einfacher Lippenbalsam von
       unglaublichem Wert. Pyjamas aus natürlichen Stoffen sind praktisch wie ein
       Luxusauto. Angesichts der Tatsache, dass das Gehalt eines Häftlings in der
       Strafkolonie umgerechnet etwa 3 Euro pro Monat beträgt, sind all diese
       luxuriösen Dinge nur mithilfe von Verwandten zu bekommen. Aber deren Pakete
       kommen nicht immer an.
       
       ## Der erstickte Protest
       
       Der belarussische Protest wurde erstickt, auch in seinem eigenen Blut.
       Waren die Opfer umsonst? „Viel Zeit werden sie nicht absitzen müssen“, hieß
       es über die ersten Prozesse gegen die Demonstrant*innen. Sie mussten. Wer
       konnte, verließ nach der Freilassung das Land. Mit einem kaputten Leben und
       einer kaputten Psyche. Andere haben für die Illusion von Veränderungen mit
       ihrem Leben bezahlt, wie [1][der Künstler Ales Puschkin, der im Gefängnis
       starb.]
       
       Niemand hat behauptet, dass diese Konfrontation nur kurz sein und die
       Revolution schnell stattfinden würde. Aber die Zivilgesellschaft wurde
       zerstört, Staatschef Alexander Lukaschenko verfolgt gezielt eine Politik
       der verbrannten Erde.
       
       Das lässt nichts Gutes erwarten. Die belarussischen demokratischen Kräfte
       im Ausland können sich so viel sie wollen auf Wahlen in zwei Jahren
       vorbereiten, aber das hat keine Folgen für das Land. Ihren
       Vertrauensvorschuss bei den in Belarus Verbliebenen haben sie verspielt.
       Erst neulich wurde eine weitere Augenklinik geschlossen: Lukaschenko
       braucht ein blindes Volk – Menschen, die ihm blind glauben.
       
       Heute sind die Aussichten für Belarus negativ. Ein winziges Zeitfenster
       kann sich nur im Falle einer baldigen Niederlage Putins [2][im Krieg gegen
       die Ukraine] öffnen. Sonst wird Belarus nur ein Puffer zwischen dem Westen
       und dem Aggressor sein – Verhandlungsmasse, die von Russland verschlungen
       wird.
       
       Aus dem Russischen: Barbara Oertel
       
       16 Aug 2023
       
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