# taz.de -- Israels Pläne für Gaza: Wiederbesetzung nach 20 Jahren?
       
       > 2005 zog Israel sich aus Gaza zurück. Während Befürworter und Gegner von
       > damals streiten, schafft Netanjahu Fakten.
       
 (IMG) Bild: Zerstörung überall, wie hier in Gaza-Stadt nach einem Angriff Anfang Juli 2025
       
       Jerusalem taz | Trotz vieler internationaler Proteste, trotz der
       [1][humanitären Katastrophe] für die Bewohner Gazas und trotz des
       Widerstands in Israel: Benjamin Netanjahus Regierung schickt sich an, den
       Gazastreifen einzunehmen. Neu ist das nicht. Bis vor 20 Jahren hielt Israel
       das Küstengebiet schon einmal besetzt, 38 Jahre lang, bis die Armee 2005
       unter Premierminister Ariel Scharon abzog. Heute, 20 Jahre später, sorgt
       die damalige Entscheidung erneut für heftige Debatten.
       
       Der rechte Journalist Amit Segal etwa wird nicht müde, den Befürwortern
       jenes Abzugs ihre eigenen Worte von damals vorzuhalten. So zitiert er den
       2014 verstorbenen Scharon: Die Räumung der Siedlungen in Gaza diene „Israel
       unter allen Umständen“. Oder Scharons Verteidigungsminister Schaul Mofas,
       der damals von einem „Rückgang der Terrorangiffe“ ausging. Oder Scharons
       Nachfolger Ehud Olmert, der den Gegnern des Abzugs vorgeworfen habe, sie
       sähen nur ewigen Terror, doch die Regierung garantiere eine Möglichkeit für
       Veränderung.
       
       „Eines bleibt elementar“, schreibt Segal in einer der meistgelesenen
       Zeitungen des Landes, Israel Hayom. Die eine Gruppe von Israelis habe in
       Gaza damals „Raketen, Tunnel und Überfälle“ kommen sehen. Die andere habe
       sich „Ruhe, Entwicklung und internationale Investitionen in Gaza“
       vorgestellt. Für ihn sei der Fall klar: „Die erste Gruppe hatte absolut
       recht.“ Und: Mit dem Gaza-Abzug 2005 sei der Hamas-Überfall am 7. Oktober
       2023 nur eine Frage der Zeit gewesen.
       
       Segals Position ist heute populär in Israel. Während die Armee den
       Gazastreifen bereits zu rund drei Viertel kontrolliert, halten derzeit mehr
       als die Hälfte der jüdischen Israelis eine erneute Besiedlung für eine gute
       Idee. Bald sollen laut Netanjahu auch die übrigen Gebiete erobert werden.
       Wo die auf engstem Raum ausharrenden rund 2 Millionen Palästinenser dann
       hin sollen, ist bisher unklar.
       
       ## Die Angriffe nehmen zu
       
       Netanjahu befeuerte jüngst in einem Interview erneut Spekulationen über
       eine geplante Vertreibung in andere Länder. „Öffnet eure Türen“, forderte
       er andere Staaten auf. Derzeit laufen offenbar Gespräche zwischen Israel
       und Südsüdan zur Vertreibung von Palästinensern aus Gaza.
       
       Die Luftangriffe auf Gaza-Stadt nehmen schon zu, laut einem Hamas-Vertreter
       stoßen auch schon israelische Bodentruppen vereinzelt [2][nach Gaza-Stadt
       vor]. Allein am Mittwoch meldeten die Gesundheitsbehörden in Gaza 123 Tote
       bei israelischen Angriffen.
       
       „Eine Wiederbesetzung von Gaza wäre ein absolut sinnloser Plan“, hält Dov
       Weisglass den Kritikern des Abzugs 2005 heute entgegen. Der frühere Berater
       von Scharon gilt als einer der Architekten des „Abkopplungsplans“. Worauf
       die Regierung Netanjahu zusteuere, sei ein Schritt zurück vor die Zeit der
       Oslo-Verträge der Neunzigerjahre, zurück zur Militärverwaltung der
       palästinensischen Bevölkerung, sagt der 78-Jährige am Telefon. Er lebt
       nördlich von Tel Aviv.
       
       Weisglass hat als Anwalt mehrere Regierungschefs vertreten, darunter
       Jitzhak Rabin und Ehud Olmert. 2009 arbeitete er kurz für den damals neu
       gewählten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
       
       Israel habe Gaza de facto bereits eingenommen, sagt Weisglass. 86 Prozent
       des Gebiets stehen laut UNO entweder unter Evakuierungsanordnungen oder
       gelten als militärische Sperrzone. Von Verantwortung für die Versorgung der
       Menschen ist bisher wenig zu erkennen. Die humanitäre Lage wird immer
       schlimmer.
       
       Im Jahr 2005 habe man das Gegenteil im Sinn gehabt, sagt Weisglass.
       Zwischen August und September 2005 wurden rund 8.000 jüdische Siedler aus
       21 völkerrechtswidrigen Siedlungen im Gazastreifen geräumt. „Erstmals in
       ihrer Geschichte erhielten die Palästinenser die Kontrolle über den
       gesamten Gazastreifen“, sagt Weisglass.
       
       ## Sehnen nach Ruhe
       
       Er zählt auf, was ihm damals möglich schien: „Zusammen mit der
       Palästinensischen Autonomiebehörde gab es große Pläne: einen
       Tiefwasserhafen etwa, die Eröffnung eines Flughafens bis hin zu einem
       Tunnel zwischen Gaza und dem Westjordanland.“ Die Palästinenser hätten
       damals funktionierende Institutionen aufbauen und den militanten Widerstand
       in den eigenen Reihen eindämmen können.
       
       Mit seiner Sicht war Weisglass vor 20 Jahren in Israel nicht allein. Ein
       Kolumnist der linksliberalen Ha’aretz, Nehemia Schtrasler, träumte damals
       von palästinensischen Hummus- und Fischrestaurants in Gaza, die von
       israelischen Touristen profitieren würden.
       
       Scharons „Abkopplungsplan“ stieß nach anfänglichem Widerstand bei vielen
       Israelis auf Unterstützung. Nach Jahren blutiger Selbstmordanschläge und
       israelischer Vergeltungsaktionen während der zweiten Intifada sehnte man
       sich nach Ruhe.
       
       In Weisglass’ Erzählung klingt das so: Dem Hardliner und
       Siedlungsbefürworter Ariel Scharon sei klar gewesen, dass Israelis und
       Palästinenser je einen eigenen Staat bräuchten. Er habe erkannt, dass Gaza
       anders als das Westjordanland am Ende von künftigen Friedensverhandlungen
       an die Palästinenser gehen würde. „Damit war jeder Israeli, der für ein
       Gebiet stirbt, das nie zu Israel gehören wird, einer zu viel“, sagt der
       78-Jährige. „Wenn es gut liefe, könnten wir im Anschluss über die
       ungelösten Fragen verhandeln, wie etwa den künftigen Status von Jerusalem“,
       sagt Weisglass. Am Ende hätte ein palästinensischer Staat stehen können.
       
       Nur hatte Scharon die Entscheidung ohne die Palästinenser gefällt. Vor der
       Weltöffentlichkeit wurde der Schritt als großes Zugeständnis wahrgenommen.
       Zur ganzen Geschichte gehört aber auch, dass Israel den Palästinensern
       mitnichten ein souveränes Gaza überließ. Unter anderem die Kontrolle über
       den Luftraum und die Seegrenzen, den Personen- und Warenverkehr oder die
       Telekommunikationsnetze blieben ganz oder teilweise in der Hand Israels.
       Manche Rechtsexperten gehen deshalb davon aus, dass damit der
       völkerrechtliche Besatzungsstatus trotz Abzugs aufrechterhalten wurde.
       
       ## Spaltung in zwei Lager
       
       „Wir sind so weit gegangen, wie die Umstände es erlaubten“, sagt Weisglass.
       Nach den Anschlägen der zweiten Intifada habe man nicht von heute auf
       morgen alles hineinlassen können. „Auf Angriffe mussten wir reagieren, aber
       wir haben so moderat wie möglich reagiert, um die Autonomiebehörde nicht
       mehr als notwendig in ein Dilemma zu bringen.“
       
       Was die Palästinensische Autonomiebehörde allerdings in ein Dilemma
       brachte, war die Tatsache, dass Scharon mehrere Ziele verfolgte. Zum einen
       unterstrich der Abzug das Scheitern des Oslo-Prozesses, mit dem auch viele
       Palästinenser Hoffnungen verbunden hatten. Die Botschaft: Mit den
       Palästinensern musste nicht mehr verhandelt werden. Zum anderen gab Israel
       zwar auch im nördlichen Westjordanland vier Siedlungen auf, baute dafür
       aber andere deutlich aus und untermauerte seine Ansprüche auf das
       Westjordanland. Die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland spaltete
       der Schritt letztlich in zwei Lager. Kritiker werfen Scharon vor, genau das
       beabsichtigt zu haben.
       
       2006 gewann die radikalislamische Hamas die Wahlen zum palästinensischen
       Legislativrat gegen die traditionell führende, säkulare Fatah. 2007
       übernahm die Hamas nach einem blutigen Kampf die Macht in Gaza. Die Fatah
       unter Mahmud Abbas regierte weiter unter israelischer Besatzung im
       Westjordanland. Die Angriffe aus Gaza auf Israel nahmen zu, es folgte eine
       strikte Blockade des Küstenstreifens.
       
       ## Leere Hülle, aber mit Chancen
       
       Kritiker wie Segal unterschlagen Weisglass zufolge aber, dass seit 2009
       fast ununterbrochen mit Netanjahu einer der ihren an der Spitze der
       Regierung steht. „Es war Netanjahu, der seit seinem Amtsantritt die
       Zusammenarbeit mit der Autonomiebehörde einstellte.“
       
       Weisglass glaubt, die Palästinensische Autonomiebehörde habe auch heute
       noch eine Chance, die Hamas aus Gaza zu verdrängen. „Natürlich ist sie in
       ihrem jetzigen Zustand eine leere Hülle“, sagt er. Ihr als rechtmäßiger
       palästinensischer Vertretung dennoch formal die Autorität über Gaza zu
       übertragen, würde die Türe öffnen für einen Nachkriegsplan. Dann könnten
       arabische Länder bewaffnete Kräfte im Auftrag der Behörde schicken. „Die
       Hamas hat weder die Mittel noch ein Interesse, Nachkriegs-Gaza
       wiederaufzubauen. Ich bin mir sicher, die Gruppe würde, konfrontiert mit so
       einem Vorschlag, den Gazastreifen verlassen. Der Krieg hätte so vor Monaten
       enden können.“
       
       Netanjahu indes scheint sich zunehmend auf ein neues Ziel zu verlegen: die
       Besetzung Gazas – ohne seine Bevölkerung.
       
       15 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
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