# taz.de -- Beduinen im Westjordanland: Die Vertriebenen
       
       > Seit dem Überfall der Hamas auf Israel wird auch das Leben von Beduinen
       > im Westjordanland gefährlicher. Hunderte sind aus Angst vor Siedlern
       > geflohen.
       
 (IMG) Bild: Palästinensische Beduinen im Westjordanland werden von israelischen Siedlern bedroht (1. Juni 2023)
       
       Duma taz | Von seinem Zelt aus kann Suleiman Zawahri alles sehen: den Weg
       zur Quelle im Tal, die Konturen des israelischen Siedler-Außenpostens auf
       dem steinigen Hügelkamm und die Reste des Ortes Raschasch, in dem er mit
       seiner Familie 30 Jahre lang gelebt hat, bis vor zwei Wochen. Die
       Wellblechhütten und die zurückgelassenen Verschläge für die Ziegen stehen
       nur knapp zwei Kilometer entfernt und sind doch unerreichbar. „Die Siedler
       haben das Gebiet im Auge, sie würden uns nicht zurück lassen“, sagt das
       52-jährige Oberhaupt der Gemeinde.
       
       Der Mann mit dem um den Kopf geschlungenen Palästinensertuch wirkt müde.
       Bis vergangene Woche sei Raschasch das Zuhause von etwa 85 Bewohnern
       gewesen, sagt er. Die [1][Drohungen durch Siedler] hätten schon seit
       Monaten zugenommen – seit dem [2][Antritt der rechtsreligiösen Regierung]
       im Januar.
       
       Doch seit dem [3][Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober] habe seine
       Familie Angst um ihr Leben gehabt. Als die Nachricht sich verbreitete,
       radikale Siedler hätten in Begleitung von Soldaten den nahen Ort Wadi
       al-Sik überfallen und mehrere Bewohner stundenlang festgehalten und
       misshandelt, trafen die Bewohner von Raschasch eine Entscheidung: „Wir
       haben gepackt und nachts unsere Herden und Hütten hierher in die Nähe des
       Dorfes Duma gebracht.“
       
       ## Angriffe extremistischer Siedler nehmen zu
       
       Angriffe extremistischer Siedler auf palästinensische Beduinen- und
       Hirtengemeinden [4][nehmen seit Jahren zu]. In Raschasch hätten sie vor
       fünf Monaten versucht, ein Haus anzuzünden, sagt Zawahri. Immer wieder
       seien sie mit Sturmgewehren bewaffnet in den Ort gekommen, hätten
       Solaranlagen zerstört, Fenster eingeschlagen, seien in Häuser eingedrungen.
       
       Seit dem Überfall der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober nahm die
       Angst im Westjordanland zu. Mindestens 13 Gemeinden sind nach Angaben der
       israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem geflüchtet. Insgesamt
       wurden damit in den vergangenen zwei Jahren fast 20 Ortschaften
       aufgegebenen. Weitere Orte seien akut bedroht.
       
       „Es ist eine einfache Strategie“, erklärt Guy Hirschfeld. Er ist einer der
       jüdisch-israelischen Aktivisten, die versuchen, die Beduinen im Jordantal
       durch ihre Anwesenheit und die Dokumentation der Übergriffe zu schützen.
       Extremistische Siedler würden gezielt Außenposten nahe der Beduinenorte
       errichten, sagt Hirschfeld. Die Beduinensiedlungen bestehen häufig aus kaum
       mehr als einigen Hütten, Blechbaracken und Ställen für Schafe und Ziegen.
       „Sie sind einfacher zu vertreiben als die Palästinenser in den Dörfern, und
       die Siedler wissen das“, sagt Hirschfeld.
       
       Er lenkt seinen Geländewagen von einem Feldweg auf die Allon-Straße, die
       die steinigen Hügel zwischen Ramallah und Jericho von Nord nach Süd
       durchschneidet. Aus dem Fenster deutet er nach links auf eine Ansammlung
       von Häusern auf einer Hügelkuppe: die Siedlung „Malachei HaSchalom“ –
       „Engel des Friedens“. Hirschfeld findet den Namen zynisch. Er selbst
       bezeichnet die Außenposten als „Terrornester“.
       
       Die Siedleraußenposten ähneln in vielem den Gemeinden der Beduinen. Ihre
       Bewohner leben ein einfaches Hirtenleben, angetrieben von der religiösen
       Idee, dass das Westjordanland, welches sie nach den biblischen Namen Judea
       und Samaria nennen, jüdisch besiedelt werden müsse. Sie galten in der
       israelischen Gesellschaft lange als extremistische Außenseiter. Seit knapp
       einem Jahr aber sitzen sie in der Regierung. Mit [5][Itamar Ben Gvir] und
       Bezalel Smotrich haben zwei ihrer bekanntesten Vertreter Ministerämter
       inne.
       
       Die Siedler eignen sich den Lebensstil der palästinensischen Hirten an und
       schränken deren Lebensraum mit den eigenen Herden ein. Das ist laut der NGO
       Kerem Navot „zu einem der wichtigsten Werkzeuge bei der Enteignung
       palästinensischer Gemeinschaften“ geworden. Bis Mai vergangenen Jahres
       seien mehr als 60 solcher Hirten-Außenposten entstanden, der größte Teil
       von ihnen nach 2018.
       
       ## Alle Welt blickt nach Gaza
       
       „Mit dem Krieg ist alles viel schlimmer geworden“, sagt Hirschfeld. Auf
       rund 15.000 Hektar zwischen Jericho und Ramallah lebten nun kaum noch
       Palästinenser. Die Siedler nutzten es aus, dass die gesamte Aufmerksamkeit
       aktuell auf Gaza liege und wegen der grausamen Massaker der Hamas in Israel
       die Wut auf Palästinenser groß sei. Das sieht nicht nur Hirschfeld so. 30
       israelische NGOs fordern in einer gemeinsamen Erklärung, die internationale
       Gemeinschaft müsse „die Welle der staatlich unterstützten Siedlergewalt
       stoppen“.
       
       Im Westjordanland wurden auf vielen Straßen Checkpoints errichtet. Fast
       täglich führt die Armee Razzien in palästinensischen Ortschaften durch. Von
       den mehr als einhundert Palästinensern, die seit Beginn des Krieges im
       Westjordanland erschossen wurden, seien laut B’Tselem sieben von Siedlern
       getötet worden.
       
       Inmitten dieses Chaos hatten Siedler den etwa 200 Bewohnern von Wadi
       al-Sik, 20 Autominuten südlich von Raschasch, mit einem Angriff gedroht,
       sollten sie nicht binnen kurzer Zeit verschwinden. In Begleitung von
       jüdisch-israelischen Aktivisten packten sie ihre Habseligkeiten und gingen.
       
       Am 12. Oktober waren nur noch wenige Beduinen im Dorf. Hirschfeld habe mit
       Aktivisten seiner Gruppe vor Ort telefoniert. Die hätten mitgeteilt, dass
       plötzlich zahlreiche Siedler, zum Teil vermummt und in Begleitung der
       Armee, aufgetaucht seien. Dann sei die Verbindung abgerissen. „Sie haben
       fünf Aktivisten und drei Palästinenser gefangen genommen und festgehalten.“
       Die Palästinenser seien über mehrere Stunden misshandelt worden.
       
       Die Zeitung Ha’aretz berichtete anschließend von Schlägen, Verbrennungen
       mit Zigaretten und einem versuchten sexuellen Übergriff. Online kursiert
       ein Foto von bis auf die Unterwäsche entkleideten und gefesselten Menschen
       mit Augenbinden. „Die Soldaten waren von der ‚Sfar Hamidbar‘-Einheit“, sagt
       Hirschfeld. “Sie wurde vor ein paar Jahren aufgestellt und nimmt radikale
       Siedler auf.“
       
       Die israelische Armee bestätigte einen Einsatz im Bereich Wadi al-Sik sowie
       mehrere Festnahmen – und gestand Fehler ein. Das Verhalten der
       Einsatzkräfte stehe „im Widerspruch zu den Standards, die von Soldaten und
       Kommandanten erwartet werden“. Der Kommandeur, der den Einsatz leitete, sei
       aus dem Dienst entlassen worden und man habe eine Untersuchung eingeleitet.
       
       Knapp zwei Wochen nach dem Überfall steht wenige Kilometer westlich von
       Wadi al-Sik Abdelrahman Abu-Baschar, das Oberhaupt der Gemeinschaft, etwas
       abseits der Landstraße in einem Olivenhain am Ortseingang des
       christlich-palästinensischen Dorfes Taibeh. Nervös beobachtet er die
       vorbeifahrenden Autos. Der 48-jährige Beduine mit dem dichten Schnurrbart
       hat seinen fünfjährigen Sohn mitgebracht und hofft darauf, bei der
       Olivenernte etwas Geld verdienen zu können.
       
       ## „Von überall vertrieben“
       
       Mit Unterbrechungen habe seine Familie seit den 70er Jahren in Wadi al-Sik
       gelebt, erzählt er. Zuvor seien sie wie viele Beduinen im Westjordanland
       nach der Staatsgründung Israels und dem anschließenden Krieg mit den
       arabischen Nachbarstaaten 1948 aus der Negevwüste geflohen. „Wir wurden von
       überall vertrieben, mal von den Israelis, mal von anderen Palästinensern.“
       In Wadi al-Sik wäre er gerne geblieben. 2016 hätten sie eine Schule
       eröffnet, auf die auch Kinder aus umliegenden Orten gegangen seien. Doch
       die israelischen Behörden hätten wegen fehlender Genehmigungen immer wieder
       mit dem Abriss gedroht.
       
       Im Februar habe ein bekanntes Mitglied der radikalen Siedlerbewegung einen
       Außenposten direkt oberhalb des Ortes gebaut. Seitdem hätten dessen Leute
       die Beduinen nach und nach von Weideflächen und Wasserquellen abgeschnitten
       und Tiere gestohlen. „Wir leben von unseren Tieren, damit zerstören sie
       nicht nur unsere Herden, sondern auch unsere Art zu leben“, sagt
       Abu-Baschar.
       
       Für die Sicherheit sind hier wie in rund 80 Prozent des besetzten
       Westjordanlandes die israelischen Sicherheitskräfte zuständig. Aber: „Wenn
       wir die Polizei gerufen haben, dann halfen sie ihnen, nie uns“, erinnert
       sich Abu-Baschar.
       
       Plötzlich fallen in der Ferne Schüsse. Auf der Straße rasen israelische
       Polizeiwagen vorbei. Abu-Baschar verabschiedet sich hastig. Er suche morgen
       wieder nach Arbeit.
       
       Zurück in Duma sind die Kinder aus der Dorfschule zurück. Ein Dutzend
       Mädchen, Jungen und Erwachsene haben es sich auf Kissen und Teppichen
       gemütlich gemacht. Suleiman Zawahri schenkt süßen Tee ein. Immerhin sei der
       Schulweg jetzt kürzer, scherzt er. Er wolle seine Gemeinde am liebsten
       zurück nach Raschasch bringen, doch das sei zu gefährlich. In Duma könnten
       sie aber nicht langfristig bleiben. Es gebe nicht genug Weideflächen. Die
       Dorfbewohner würden sie vorerst nur bis zum Ende des Krieges dulden, sagt
       Zawahri. „Danach weiß ich nicht, wohin wir sollen.“
       
       30 Oct 2023
       
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