# taz.de -- 5 Jahre Revolution in Belarus: Das System Lukaschenko hat sich überlebt
       
       > Diktator Alexander Lukaschenko unterdrückt sein Volk. Doch seit den
       > Protesten bei der Wahl 2020 entwickelt sich eine widerständige
       > Zivilgesellschaft.
       
       Große Veränderungen beginnen im Kleinen. Am 9. August 2020 fanden in
       Belarus Präsidentschaftswahlen statt, von denen niemand etwas erwartet
       hatte. Doch es kam anders: Die Wiederwahl des ewigen Alexander Lukaschenko
       bei einer wie eh und je undemokratischen Wahl führte zu [1][beispiellosen
       Protesten]: Hunderttausende gingen an vielen Tagen gegen die in ihren Augen
       stattgefundene Wahlfälschung auf die Straße. Doch auch die massenhaften
       Proteste konnten den Diktator nicht stürzen, Lukaschenko und sein Regime
       hingegen reagierten mit Repressionen beispiellosen Ausmaßes: Es
       marschierten bewaffnete Soldaten auf, die Polizei setzte Blendgranaten ein,
       es gab rund 6.700 Festnahmen, einen Toten und zahlreiche Verletzte,
       [2][Inhaftierte berichteten von Folter]. Webseiten, Messengerdienste,
       VPN-Server waren nicht mehr erreichbar, Straßenlaternen wurden
       abgeschaltet. Seitdem sind fünf Jahre vergangen und es ist höchste Zeit zu
       verstehen, was damals – und vor allem danach – passierte.
       
       Im Zentrum der Proteste stand die Oppositionskandidatin Swetlana
       Tichanowskaja. Ihr Programm: faire Wahlen, Freiheit für politische
       Gefangene, Ende der Gewalt. Anschließend positionierte sie sich trotz ihres
       „offiziellen“ Wahlergebnisses von nur knapp 10 Prozent als
       „Übergangspräsidentin“ und versprach, ihr Amt aufzugeben, sobald echte
       Wahlen mit echten Präsidentschaftskandidaten stattfinden würden.
       Tichanowskaja wurde zur Lokomotive der Proteststimmung, ihr gelang, was 27
       Jahre lang niemand aus der Opposition geschafft hatte: Sie vereinigte die
       Menschen. Lukaschenko selbst trug zu Tichanowskajas Prominenz bei, indem er
       eine Reihe schwerer Fehler machte. Er leugnete das Coronavirus und hatte
       offenbar nicht mitbekommen, dass die Gesellschaft im 21. Jahrhundert mit
       Internet lebte, es war unmöglich, etwas zu verbergen.
       
       Sein zweiter Fehler war das [3][gewaltsame Vorgehen gegen die Proteste] vor
       den Wahlen. Zum ersten Mal erhob sich die belarussische Gesellschaft, alle
       kamen, um abzustimmen. Lukaschenko fälschte seinen Sieg mit beispielloser
       Dreistigkeit und schrieb sich ein Ergebnis von über 80 Prozent zu.
       
       Sein dritter Fehler war das Abschalten des Internets. Das führte dazu, dass
       sich alle, selbst Rentner*innen in Kleinstädten, einen VPN-Tunnel
       installierten. Belarus*innen verstehen sich selbst als tolerant und
       duldsam, aber drei Tage nach den Wahlen und beispielloser Grausamkeit hatte
       die Geduld ein Ende und es entwickelte sich eine klassische revolutionäre
       Situation nach den Grundsätzen Lenins: Die Gesellschaft war ihrer
       Staatsmacht entwachsen und wollte nicht mehr leben wie bisher. Zuvor schien
       in Belarus ein unausgesprochener Konsens zu herrschen: Die Gesellschaft
       lebt ihr eigenes Leben, die Regierung ebenfalls. Solange die Regierung sich
       nicht einmischt, ist die Gesellschaft mit allem zufrieden, sogar mit
       Lukaschenko. Doch dann?
       
       Die Gesellschaft mobilisierte und organisierte sich selbst. Die Behörden
       reagierten auf die Proteste mit den üblichen Methoden: Sie wiesen
       Tichanowskaja aus Belarus aus, nahmen andere Politiker*innen fest.
       Aber das war gar nicht mehr so wichtig, der Protest brauchte keine
       Anführerin mehr. 2020 bezeichneten friedliche Demonstrant*innen die
       Ereignisse im Land als eine Evolution, ein nationales Erwachen, heute
       spricht die Mehrheit von einer Revolution – und das Regime von einem
       „Versuch einer Farbrevolution“.
       
       Womit haben wir es zu tun? Mit einer Revolution der Menschenwürde ganz
       sicher. Sie begann damit, dass Tausende von Belaruss*innen erkannten,
       wie grausam der Staat sein kann. Sie haben aus eigener Erfahrung gelernt:
       Wenn du dich nicht für Politik interessierst, wird sich die Politik früher
       oder später für dich interessieren. Die Menschen waren schockiert über die
       Gewalt, ihre Emotionen waren am Limit. Doch inmitten dieser Gewalt wurde
       das ethische Fundament der belarussischen Gesellschaft geboren, das auf der
       völligen Ablehnung von Gewalt beruht.
       
       Daher konnte die Revolution vonseiten der Protestierenden nicht anders als
       friedlich verlaufen. Laut Schätzungen gingen damals 14 bis 20 Prozent der
       Bevölkerung des Landes auf die Straße. Denjenigen, die das nicht wollten,
       standen Hunderte andere Protestformen zur Verfügung. Das Wichtigste war und
       ist die Solidarität mit den Demonstrant*innen und den Festgenommenen.
       Sie ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Belaruss*innen im
       Jahr 2020.
       
       Diese Solidarität lebt weiter, und das trotz [4][harter Repressionen], wie
       es sie seit Stalin nicht mehr gegeben hatte. Seit dem 1. November 2020 ist
       die Teilnahme an Protesten strafbar. Seitdem wurden nach Angaben von
       Menschenrechtsaktivist*innen rund 25.000 Menschen strafrechtlich
       verfolgt. Schätzungsweise 600.000 bis 1 Million Menschen mussten das Land
       aufgrund drohender politischer Verfolgung verlassen – 10 Prozent der
       Bevölkerung. Auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit ist ein wichtiges
       Ergebnis des Jahres 2020. Hinzu kommen Solidarität, die Fähigkeit der
       Gesellschaft zur Selbstorganisation sowie das Selbstbewusstsein der
       Belaruss*innen, eine politische, kulturelle, nationale Gemeinschaft zu
       sein.
       
       ## Lukaschenko hat alles Gemeinnützige verboten
       
       Die Menschen wollen Demokratie, Meinungsfreiheit, eine Zivilgesellschaft,
       dafür bauen sie im Ausland Institutionen auf. Denn in Belarus ist das
       unmöglich. Lukaschenko hat alle gemeinnützigen Organisationen verboten und
       deren Mitglieder entweder ins Gefängnis gesteckt oder aus Belarus
       vertrieben. Im Exil setzen sie ihre Aktivitäten fort, so wie Menschen in
       Belarus dies im Untergrund tun. Kurz: Belarus ist ein totalitärer Staat im
       Orwell’schen Sinne. Doch der Widerstand bleibt.
       
       Die Regierung in [5][Belarus ist von Russland abhängig. Lukaschenko hat
       sämtliche Zugeständnisse gemacht, die Putin seit Jahren fordert]:
       Militärstützpunkte, Zugang zur belarussischen Wirtschaft für russisches
       Kapital, selbst ein Aufmarschgebiet für die russische Armee. 98 Prozent der
       belarussischen Exporte gehen heute nach Russland, 2020 lieferte Belarus 41
       Prozent der Exporte in die EU. Die Abhängigkeit des Regimes von Russland
       wird durch Kredite, die Lukaschenko von Russland aufgenommen hat,
       verstärkt.
       
       Heute beträgt die Staatsverschuldung von Belarus 35,17 Milliarden Dollar.
       Moskau refinanziert zwar regelmäßig Kredite. Doch wenn Minsk zahlen muss,
       wird das der letzte Tag von Lukaschenkos Wirtschaft sein. Die Beziehungen
       zwischen Russland und Belarus lassen sich auf eine einfache Formel
       reduzieren: Putin kontrolliert Lukaschenko und Lukaschenko kontrolliert
       Belarus. Aus diesem Teufelskreis versucht er auszubrechen, indem er sich
       durch Verhandlungen mit dem Westen legitimieren will. So lässt er
       politische Gefangene im Austausch für „Zugeständnisse“ frei, die es noch
       gar nicht gibt. Das ist eine Sackgasse, aus der es für Lukaschenko keinen
       Ausweg gibt.
       
       ## Das Beste wäre eine friedliche Machtübergabe
       
       Das Beste für das Land und selbst für Lukaschenkos Umfeld wäre eine
       friedliche Machtübergabe. Das lehnt er, wen wundert es, ab. Eine ebenso
       wünschenswerte, aber äußerst unwahrscheinliche Option: eine Verschwörung
       der Eliten. Lukaschenko hat den Apparat buchstäblich von jeglichem freien
       Denken „gesäubert“, alle haben Angst. Und sie haben allen Grund dazu, ab
       2020 wurden Repressionen und totale Kontrolle zum Alltag. Diese Angst hält
       das System zusammen – aber sie könnte es auch zerstören. Angst zerfrisst
       wie Rost das Staatssystem von innen. Dieser Prozess hat bereits begonnen,
       langsam, aber jeden Tag ein wenig schneller. Auch Lukaschenkos Tod wird das
       Problem in Belarus nicht lösen. Dieses liegt wie immer in Russland, das
       Belarus’ Souveränität von jeher bedroht. So hängt die weitere Entwicklung
       in Belarus direkt von der Lage in der Ukraine ab.
       
       Trotz allem blicke ich optimistisch in die Zukunft. Alle totalitären Regime
       in der Geschichte sind irgendwann zusammengebrochen, meist unerwartet.
       Zudem nimmt Lukaschenko noch immer Rache an der Bevölkerung für das, was
       2020 geschah. Damit versucht das Regime der Außenwelt zu zeigen, dass sich
       die Lage stabilisiert habe. Aber nichts davon ist wahr. Lukaschenkos Sieg
       war ein Pyrrhussieg. Die Belaruss*innen indes nutzen ihr Potenzial, das
       sie 2020 erkannt haben. Sie haben ihren Weg gewählt, den Weg nach Europa.
       Sie haben sich verändert und werden sich nie wieder mit dem Staat, der sie
       heute regiert, identifizieren können.
       
       Diese Botschaft muss auch in Europa gehört werden. Denn die Prozesse in
       Belarus betreffen nicht nur die Sicherheit der EU, sondern des gesamten
       europäischen Kontinents. Die EU braucht weder ein russisches Belarus noch
       ein belarussisches Russland. Aber Belarus braucht die EU. Vielleicht waren
       wir 2020 noch nicht bereit, den ganzen Weg für die Freiheit zu gehen. Doch
       jetzt, wo die Existenz der belarussischen Nation durch den wachsenden
       Einfluss Russlands bedroht ist, verstehen alle Belaruss*innen den Wert
       von Unabhängigkeit, Demokratie, Meinungsfreiheit.
       
       Ich bin sicher: Das Ausmaß und die Dauer des seit fünf Jahren andauernden
       Protests werden eines Tages der Existenz des Lukaschenko-Regimes ein Ende
       setzen. Große Veränderungen beginnen im Kleinen.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       9 Aug 2025
       
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