# taz.de -- Die Wahrheit: Mächtig mächtiger Gegenstand
> Eine Frau gerät auf dem Heimweg in einen traumhaften Zustand, der sie
> schließlich zu einer geheimnisvollen Schachtel in ihrer Küche führt.
Eine Frau, die wir nicht kennen, arbeitete bei der Stadtverwaltung in der
Abteilung „Allgemeine Leerstrategie“. Eines Abends, auf dem Heimweg vom
Meldeamt, wo sie einmal wöchentlich nach Dienstschluss beim Vernichten
verstaubter Korrespondenzen half, nahm sie wie immer die Abkürzung über den
alten Kirchweg.
Während sie auf dem vor Jahrhunderten grob gepflasterten, abschüssigen Weg
vorwärts schritt, versuchte die Frau, keine Person zu sein und keine
Gedanken zu haben. Als ob es gälte, nach zu frühem Erwachen am Morgen
weiterzuschlafen, strebte sie einen mentalen Zustand auf Ebene vier an,
erreichte zu ihrer Überraschung aber sogar Ebene fünf. Diese Verfassung
beugte, neben vielem anderen, sowohl Stürzen als auch Überfällen und
Unbehagen vor.
Die Frau meditierte über die Beziehung zwischen den Sätzen „Bis zum Meer
reichte das Wasser nicht“ und „Bis zum Wasser reichte das Meer nicht“.
Dadurch entstand in ihrem Bewusstsein ein kleiner Gegenstand, etwa halb so
lang wie ihr linker oder rechter Zeigefinger, hell, schmal und gebogen, aus
einem harten Material wie Zement. Auf Ebene fünf konnte dieser Gegenstand
sich jedoch nicht lange behaupten.
Während er verging, hielt die Frau in ihrer Umgebung Ausschau nach einem
dauerhafteren. Am liebsten wäre ihr ein Gegenstand von größter Mächtigkeit
gewesen, der ihr Leben verbesserte. Durch diesen Wunsch wieder zur Person
werdend, entdeckte sie auf einem Mauervorsprung zu ihrer Rechten eine
kleine, etwas zusammengedrückte Schachtel aus grauem Karton. Um
festzustellen, ob es sich dabei um den gewünschten Gegenstand größter
Mächtigkeit handelte, nahm die Frau die Schachtel mit nach Hause.
Den Flur, der zu ihrer Wohnung in einem alten Mietshaus führte, füllten an
diesem Abend zahlreiche aneinandergestellte Kühlschränke und Waschmaschinen
zur Gänze aus, sodass es unmöglich war, sich daran vorbeizuzwängen. Die
Frau musste auf die Geräte steigen, um ihre Wohnungstür zu erreichen, die
sich, wie allgemein üblich, nach innen öffnen ließ.
Wenig später saß sie in ihrer Küche und betrachtete die vor ihr auf der
Tischplatte stehende kleine Pappschachtel. „Kann ich es wirklich wagen, sie
zu öffnen?“, fragte sie sich zögernd. „Vielleicht ist es sicherer
abzuwarten, bis die Schachtel von selbst ihre Mächtigkeit unter Beweis
stellt?“
Wahrend die Frau darüber nachdachte, öffnete sie den Deckel. Mit einem
Gefühl wie beim Erwachen aus einem nicht unangenehmen Traum glaubte sie, je
ein dünnes schwarzes Kabel mit gleichfarbigem Stecker blitzschnell nach
rechts und links aus ihren Händen verschwinden zu sehen. Die Vorstellungen
davon, was sie in der geöffneten Schachtel erblickte, gehen weit
auseinander. Hier soll jedoch nicht darüber spekuliert werden. Man richtet
auch keinen Detektor auf einen Haufen alter Kleidungsstücke, um den
Blutdruck von deren früheren Trägern zu messen.
17 Dec 2025
## AUTOREN
(DIR) Eugen Egner
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