# taz.de -- Die Wahrheit: Kleine Fische, großes Fest
       
       > Die Wahrheit-Weihnachtsgeschichte: Auf dem Kudamm Kreuzbergs sucht Olga
       > mit den dunklen Knopfaugen eine Zuflucht.
       
       Klonk. Kradasch. Klirr. Der Wagen schlitterte auf der Seite liegend über
       die Straße und krachte mit Wucht gegen einen Mast. Innen rissen die Seile,
       und die Transportbox glitt durch die offene Hecktür hinaus. Der Deckel
       sprang auf. Wasser spritzte in alle Richtungen. Und Olga lag benommen auf
       der Kreuzung.
       
       Warum der Pfleger an diesem weihnachtlichen Abend über den Mehringdamm in
       Kreuzberg gefahren war, ließ sich später nicht mehr herausfinden. Er war
       eigentlich schon einen Tag früher erwartet worden. Die Untersuchung der
       Ermittler ergab schließlich einen, wie es im Polizeijargon hieß,
       „Alleinunfall vermutlich nach Sekundenschlaf“. Der Fahrer hatte die
       Kontrolle über den Tiertransporter verloren, war vom Damm abgekommen und
       hatte seine wertvolle Fracht mitten in Kreuzberg verloren.
       
       Sofort zückten Touristen ihre Geräte und knipsten und filmten wild vor sich
       hin, während die Einheimischen gelangweilt taten, als ob sie schon alles in
       ihrem Leben gesehen hätten. Nur Ahmed von der Burger-Braterei an der Ecke,
       der gerade eine Rauchpause einlegte, drückte seinen Joint aus und schwor
       sich kopfschüttelnd, endlich mit dem Kiffen aufzuhören: „Fuck! Eine Robbe!
       In Kreuzberg!“
       
       Olga kam nach ihrer Mutter. Sie hatte keine Taille und war wohlgerundet.
       Ihr graues Fell glänzte wie ihre schmucken dunklen Knopfaugen, mit denen
       sie sich jetzt unruhig umsah. Dann schüttelte sie sich energisch und
       watschelte entschlossen los, hinein in die Bergmannstraße, von der sie
       nicht wusste, dass sie der Kudamm Kreuzbergs war.
       
       ## Allein in der Großstadt
       
       Olga stammte aus der Seehundstation Friedrichskoog an der Nordsee und war
       für den Berliner Zoo bestimmt, als sie allein in die Großstadtnacht
       gestoßen wurde, die sie nun neugierig erkundete. Lichter, Gerüche und
       seltsame Gestalten. Wie Finn, der Aki hinterher lief. Aki war wie immer auf
       der Abendrunde ausgebüxt. Finn hatte den Hund von seiner letzten Freundin
       übernommen, die ihm eines Tages verkündete, die ganze Gaza-Ukraine-Scheiße
       nicht mehr ertragen zu können und nach Neuseeland auswandern zu wollen.
       Oder war es Patagonien?
       
       Aki war eine ehrenwerte Mischung für jede Promenade, nicht groß, nicht
       klein, nicht hübsch, nicht hässlich, nur ein wenig doof und lieb. Als er
       Olga auf sich zu watscheln sah, stand er sofort in Flammen, angezündet vom
       Dachstuhl bis zum Keller, besonders untenrum, wie sein Schwanz zeigte, der
       sich gar nicht mehr beruhigen wollte – wedel, wedel …
       
       Olga ließ sich nicht gern beschnüffeln, vor allem nicht da hinten. Sie
       schnappte mit ihren spitzen Schneidezähnen nach Aki, der blind verliebt hin
       und her sprang, ihre Bisse entflammten ihn nur noch mehr. Langsam wurde es
       Olga zu dumm und sie sah sich um. Sie roch Salz, und wo Salz war, war
       Wasser, und wo Wasser war, waren Fische. Das hatte ihre Mutter ihr
       beigebracht. Und so folgte Olga dem eindeutigen Duft in einen Hinterhof,
       der einen Hinterhof hatte und gleich noch einen.
       
       Finn hüpfte wie ein Hase hinter Aki her. Mit seinem Oberlippenbärtchen und
       den ausrasierten Schläfen und den Pudellocken auf dem Kopf ging er als der
       perfekte Jungmann durch. Dass ihm seine durchaus zahlreichen Freundinnen
       nach kurzer Zeit meist den Laufpass gaben, hatte allerdings mit seinem
       unbedingten Willen zum studentischen Labern zu tun, stundenlang konnte er
       die aktuelle Weltlage referieren. Und selbstverständlich trug er einen
       Feudel um den Hals, einen schwarzweißen Spüllappen, „das edle Tuch der
       Solidarität“, wie er jedem erklärte, der es nicht hören wollte, nicht
       einmal Aki, der Olga liebestoll in den Hinterhof folgte. Wohl oder übel
       musste Finn hinterher.
       
       Im letzten Hof angekommen, gefiel Olga das Grau der Mauer nicht wenig, aber
       nirgendwo war Salz, Wasser, Fisch. Nur dieser lärmende Hund, der vor ihr
       saß und hechelte. Aufgeregt jankte sie. Von der Wand verstärkt, klang es
       wie das Jammern einer vergessenen Kindergartenhorde, was Miriam aus ihrer
       Wohnung hervorlockte: „Alter! Was ist denn hier …?“ Weiter kam sie nicht,
       denn in dem Moment, als sie den Hof betrat, rauschte Finn um die Ecke und
       in sie hinein. Plonk!
       
       ## Demo und Gegendemo
       
       Zwei große Geister treffen sich. Welten prallen aufeinander. Hätte Olga
       gedacht, wenn sie sich nicht über diese Wesen gewundert hätte, die sich nun
       ankeiften. Offensichtlich kannten sie sich bereits. Leider, wie Miriam
       meinte. Ausgerechnet die, wie Finn dachte. Auf einer Demo und Gegendemo
       vorige Woche hatten sie bereits die Gelegenheit genutzt, sich ausgiebig zu
       beleidigen. Worte wie „Hamas-Bunny“ und „Bibi-Schickse“ flogen hin und her.
       Jetzt begnügte sich Miriam mit einem hingerotzten „Du Touri!“, ihrem
       Lieblingsschimpfwort für alle Touristen dieser Welt, die ihr den letzten
       Nerv raubten, wo sie doch nur in Ruhe ihre Comics zeichnen wollte.
       
       „Was machst du denn hier?“, konterte er schwach und rieb sich den
       brummenden Schädel. „Ich wohne hier, du Ghettoblaster. Du kommst wohl aus
       Neukölln, du …“ Doch weiter kam sie nicht, denn hinter ihr sprang die Tür
       zum Treppenhaus auf. Eso-Heinz hielt sich mühsam fest: „Sportsfreunde!
       Immer mit die Ruhe! Wir haben hier ein Problem“, wies er auf Olga hin, die
       Miriam und Finn fast vergessen hatten, lieber hätten sie sich mit sich
       selbst beschäftigt.
       
       „Und wir haben noch ein Problem“, deutete Eso-Heinz in Richtung der laut
       heulenden Sirenen und blau blinkenden Leuchten vorn auf der Straße. „Also
       ich will die Bullen nicht hier haben. Verkrümeln ist angesagt“, hielt er
       die Tür auf, hinter der nun alle im Gänsemarsch verschwanden. Miriam, Finn,
       Aki und zuletzt auch Olga, die es deutlich roch: Salz, Wasser, Fisch.
       
       Eso-Heinz, war gar nicht so eso, sondern eher mati, ein Pragmatiker, auch
       wenn er einen Floating-Tank hatte, von dem alle im Hinterhaus wussten, dass
       er dort stundenlang in der Dunkelheit im Wasser schwebte. Er habe kaputte
       Hölzer, hatte er den Nachbarn erklärt, wobei er die Venen in seinen Beinen
       meinte: „Immer entzündet, von früher, als ich noch am Ufer gekellnert habe.
       Nächtelang rumgelaufen und gestanden, keine Ruhe, nie.“ Irgendwann hatte er
       die Branche gewechselt und viel Geld verdient und von da an lag er bekifft
       und regungslos in seinem lichtleeren Tank.
       
       „Hier“, drückte er Finn ein paar Scheine in die Hand. „Du läufst jetzt
       rüber ins Edeka und kaufst erst mal ein paar Fische. Und noch was für uns.“
       Finn wagte es erst gar nicht zu widersprechen und rückte eilig ab, während
       Miriam Aki mit festem Griff bändigte und Heinz Olga in sein Allerheiligstes
       führte. Vor Freude ongte Olga, als sie den Wassertank entdeckte. „Robb mal
       rüber, du Nebelhorn!“ Heinz half ihr vorsichtig hinein.
       
       ## Prall gefüllte Tüten
       
       „Die Bullen sind überall!“, rief Finn, zurück mit zwei prall gefüllten
       Tüten. In der einen waren Fische, in der anderen drei Flaschen Wein, drei
       Chipstüten, eine Weißwurst, eine grüne Paprika und eine Möhre. „Wofür sind
       denn die schlappen Dinger?“, kicherte Miriam, und Finn lief rot an. „He,
       ich bin Halbire, das sind die Farben von Irland.“ Miriam prustete los,
       allmählich gefiel ihr der Idiot, der vielleicht doch nicht so idiotisch
       war.
       
       „Wenn jetzt noch jemand anfängt, Gitarre zu spielen, wird mir ganz
       blümerant“, drückte Heinz eine kleine Träne weg. „Blümerant?“, fragte Finn.
       „Slay“, übersetzte Miriam. Mit seinen gichtigen Fingern strich Heinz über
       die alte Fender, die er lange nicht in Händen gehabt hatte. „Also ich
       könnte“, meinte Finn und stimmte auch schon die Saiten, um dann zögerlich
       zu singen: „I feel unhappy / I feel so sad / I've lost the best friend /
       That I ever had.“
       
       Heinz erkannte es sofort und dachte an Ozzy, der dieses Jahr gegangen war
       und bestimmt gerade, von weißen Fledermäusen umschwirrt, auf Wolke 666 die
       Engel in den Wahnsinn trieb. „She was my woman / I love her so / But it's
       too late now / I've let her go / I'm going through changes / I'm going
       through changes.“
       
       Miriam sah sich plötzlich umgekehrt auf Finn liegen, er hatte seinen Kopf
       tief in ihr vergraben und sie … Fisch, freute sich Olga und patschte ihre
       Flossen zusammen. Es gab keinen Schnee, keine Zimtsterne, nur ein paar
       Kerzen flackerten. Es war Weihnachten. Und irgendwo bellte Aki.
       
       24 Dec 2025
       
       ## AUTOREN
       
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