# taz.de -- „Ich will in dieser Stadt ein Fenster haben“
       
       > In Deutschland stehen Juden und Nichtjuden historisch in einem Zustand
       > dauerhafter Nichtverbindung, beobachtet die Psychologin Marina
       > Chernivsky. Der 7. Oktober hat Vergangenheiten aufbrechen lassen und die
       > zeitlichen wie die generationalen Grenzen durchlässiger gemacht, so
       > schreibt sie in ihrem neuen Buch „Bruchzeiten“. Mit der taz spricht sie
       > über diese Brüche, die Schatten der Vergangenheit und was sie sich frei
       > fühlen lässt.
       
 (IMG) Bild: Marina Chervinsky an einem Oktobertag in Berlin während des Gesprächs mit der taz
       
       Von Amelie Sittenauer
       
       Ich treffe Marina Chernivsky Mitte Oktober. In jenen Tagen ist der
       „Friedensplan“ bereits beschlossen, die lebenden israelischen Geiseln sind
       aber noch nicht frei. Nahe der Kastanienallee im Berlin-Prenzlauer Berg
       sind wir zum Spazierengehen verabredet. Chernivsky ist eine kleine,
       elegante Person, mit resolutem Gang. Ihre langen dunklen Haare und die
       große Brille, die ihr Gesicht rahmen, können dabei nicht ganz verstecken,
       dass sie eigentlich stark erkältet ist. Sie wollte das Gespräch nicht
       absagen, ihr Terminkalender sei in den kommenden Wochen ansonsten zu voll,
       sagt sie. 
       
       taz: Frau Czernivsky, Sie sind in Lwiw geboren, in Israel aufgewachsen und
       leben seit über 20 Jahren in Berlin. Orte spielen in Ihrem Buch
       „Bruchzeiten“ eine große Rolle, durch sie treten Sie mit Ihrer
       Vergangenheit in Verbindung. Was bedeutet es für Sie, hier in Berlin zu
       leben? 
       
       Marina Chernivsky: Als Mensch mit mehrfacher Migrationserfahrung habe ich
       mich oft gefragt, wie es wäre, Straßen entlangzulaufen, die ich schon als
       Kind gelaufen bin. Meine Verbindung mit dem Ort war einmal abgebrochen; von
       da an waren es immer neue Straßen. Vielleicht habe ich paradoxerweise genau
       das in Berlin gesucht. In meiner Biografie spielte Berlin eine Rolle –
       obwohl ich hier nie gewesen bin – in jüdischen Biografien gab es diese
       deutsche Spur. Damals stand ich in der Kastanienallee vor einem bröckelnden
       Gründerzeithaus (Chernivsky deutet nach Norden) und dachte: „Ich will in
       dieser Stadt ein Fenster haben.“
       
       taz: Sie schreiben, Sie seien auch nach Berlin gegangen, um den Krieg, den
       Nationalsozialismus und die Schoah zu verstehen. 
       
       Chernivsky: Ich habe mich schon davor intensiv damit beschäftigt, wie der
       Krieg und die Schoah nachwirken. Ich wollte verstehen, wie die deutsche
       Gesellschaft mit diesem Erbe umgeht. Geboren in einer Stadt, die mehrfach
       zwischen Regimen hin- und hergeschoben wurde und ihre Menschen verlor –
       deren jüdische Geschichte während der deutschen Besatzung und dann in der
       sowjetischen Ära nahezu ausgelöscht wurde –, wollte ich verstehen, wie all
       das weiterwirkt; und in Berlin fühlte ich mich meiner Geschichte nah.
       
       taz: Plötzlich gab es aber wieder neue Kriege: Der russische Angriff auf
       die Ukraine 2022, eineinhalb Jahre später der Terrorangriff der Hamas am 7.
       Oktober 2023.
       
       Chernivsky: Im Februar 2022 legten sich die Bilder eines neuen Krieges auf
       mein Bilderarchiv. Der Angriff auf die Ukraine folgte Skripten, die im
       europäischen und jüdischen Gedächtnis tief gespeichert sind.
       Selbstverständlich gibt es viele Kriege auf der Welt. Für Juden mit Bezügen
       dahin ist plötzlich etwas real geworden, das überwunden geglaubt wurde. Für
       mich war der Ukrainekrieg der Moment, in dem ich wirklich begriffen habe,
       was es heißt, wenn etwas Großes in das Leben von Einzelnen einwirkt. Das
       Ereignis des 7. Oktober hat jedoch vieles noch mal überdeckt.
       
       taz: Über den 7. Oktober schreiben Sie: „Dieses dokumentierte Massaker hat
       mir jede Illusion genommen, dass die Vergangenheit der Zeit erliegt.“
       
       Chernivsky: Ja, der genozidale Angriff des 7. Oktober hat etwas sichtbar
       gemacht, das wir für kontrollierbar geglaubt haben. Eine Bedrohung, die
       nicht neu ist, die aber in dieser extremen Form lange nicht gespürt worden
       war. Nachträglich waren es die Reaktionen der Welt – die Indifferenz, aber
       auch die Freude an den Massakern, die Lust an der Enthemmung, am
       Antisemitismus –, die tief verstörten. Das weckt Erinnerungen,
       reaktualisiert das historisch vertraute Gefühl der Schutzlosigkeit.
       
       Wir machen halt in einem Café und trinken Tee. Marina Chernivsky checkt
       immer wieder ihr Handy – es geht um die Geiseln, die in diesen Tagen
       freigelassen werden sollen. „Einen Moment, bitte“, sagt sie. „Sind sie
       jetzt frei?“, murmelt sie vor sich hin. „Nein, noch nicht“, und sie legt
       ihr Handy wieder zur Seite. 
       
       Chernivsky: Da geht etwas zu Ende, was seit zwei Jahren schwelt und
       unlösbar wirkt. Das Bangen um die Geiseln wird hier in Deutschland nicht
       ganz verstanden. Doch die Frage nach den Verschwundenen ist für die
       israelische Gesellschaft wie auch für die jüdische Diaspora existenziell.
       
       Kurz herrscht Stille.
       
       taz: In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie wollten schreiben, um zu verstehen.
       
       Chernivsky: Ich wollte Sprache suchen als ein Mittel gegen die Ohnmacht, um
       zu begreifen, was geschieht. Der Angriff traf uns mit einer Wucht, die sich
       nicht allein aus biografischen oder historischen Bezügen erklären lässt. Es
       ist das Gedächtnis von Vernichtung, das Wissen um die Zerbrechlichkeit des
       kollektiven, jüdischen Lebens. Die Frage danach, wer schützt und wer sich
       enthält, ist ein sehr grundlegender Teil der jüdischen Erfahrung. Viele
       Menschen in Deutschland verstehen nicht, warum die Erfahrung der Massaker
       und Geiselnahmen – und dann die Bilder des enthemmten Antisemitismus – für
       Jüdinnen und Juden so groß, so gravierend waren.
       
       taz: Was genau verstehen diese Menschen nicht? 
       
       Immer wieder hält Chernivsky kurz inne. Man merkt, dass sie genau die
       richtigen Worte finden will. 
       
       Chernivsky: Der 7. Oktober hat grundlegende Fragen aufgeworfen – für die
       jüdische Diaspora, aber vor allem auch für Israel. Wie verstehen wir uns
       als Gemeinschaft nach dem 7. Oktober? Wie lässt sich über das sprechen, was
       in Israel und Gaza geschieht? Aber auch: Warum gelingt es der deutschen
       Gesellschaft bis heute nicht, Juden wirklich als Teil ihrer selbst zu
       begreifen? Was trägt dazu bei, dass so viele Jahre öffentlicher Debatten
       nicht zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Erbe des
       Nationalsozialismus geführt haben? Die jüdische Community hat nicht nur den
       7. Oktober (nach)erlebt, sondern auch Veränderungen in ihrer Beziehung zur
       deutschen Gesellschaft, in der Beziehung von Nachbarinnen, Nachbarn und
       Arbeitskollegen, zu Kommiliton:innen erfahren.
       
       taz: Die Zahl antisemitischer Straftaten ist nach dem 7. Oktober stark
       angestiegen …
       
       Chernivsky: Und das sollte nicht verwundern. Die Geschichte der
       Bundesrepublik und auch der DDR sind geprägt von antisemitischen Strukturen
       und Angriffen. Letztens habe ich ein altes Interview gefunden, das ich nach
       dem Anschlag von Halle gegeben habe. Ich sagte, dass es hoffentlich keine
       weiteren Anschläge dieser Art geben werde. Antisemitismus ist eine
       historische Feindschaftskonstruktion – und es wird auch in Zukunft zu
       Enthemmungen und Anschlägen kommen.
       
       taz: Die Beziehung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in
       Deutschland beschreiben Sie als dauerhafte Nicht-Verbindung. Was heißt das? 
       
       Chernivsky: Die Beziehung zwischen einstigen Tätern und Opfern – ebenso wie
       zwischen ihren Nachkommen – stellt eine ganz eigene Form von Beziehung dar.
       Es gibt ein gegenseitiges Interesse, doch wenig gemeinsame Erfahrung und
       kaum geteilten Alltag. Die jüdische Präsenz in Deutschland wird nach wie
       vor vornehmlich historisch betrachtet; es herrscht die Annahme einer
       „jüdischen Nichtpräsenz“. Jüdinnen und Juden werden häufig als historische
       „Andere“ wahrgenommen. Damit gehen eine gewisse Kälte und Distanz einher,
       aber begleitet von einer intensiven historischen Thematisierung.
       
       taz: In der öffentlichen Debatte, schreiben Sie, wurden Jüdinnen und Juden
       in den letzten Jahren von vielen Seiten instrumentalisiert. Wie gehen Sie
       damit um? 
       
       Chernivsky: Dieses Bedürfnis, Juden zu kategorisieren, sie mit Etiketten zu
       versehen und in der Öffentlichkeit noch gegeneinander auszuspielen, ist
       schon sehr bezeichnend. Menschen sind jenseits von Etiketten Subjekte. Die
       Kategorisierung des Jüdischen von außen nimmt den Einzelnen jedoch die
       Subjektposition und verwandelt sie in Objekte einer Fremdthematisierung.
       Die politische Linke in Israel unterscheidet sich grundlegend von der
       Linken hier. In beiden Kontexten stellen sich unterschiedliche Fragen, auch
       wenn es gemeinsame Schnittstellen gibt.
       
       taz: Von Palästinenser:innen in Deutschland hört man wiederum, dass
       sie oft den Eindruck haben, dass ihnen pauschal Antisemitismus unterstellt
       wird, um sie zum Schweigen zu bringen. Wie kann die deutsche Gesellschaft
       der Vergangenheit und Gegenwart in ihrer Komplexität gerechter werden?
       
       Chernivsky: Es gibt palästinensische Stimmen, die wir nicht hören, die
       nicht durchdringen oder die auch vereinnahmt werden. Das ist ein wichtiges
       Projekt für die Zukunft, Beziehungsnetze aufzubauen, die fern von
       Radikalisierung und Polarisierung sind. Hierfür braucht es geschützte
       Räume, die wir noch bauen müssen.
       
       Wir laufen weiter die Kastanienallee entlang, mittlerweile ist es dunkel
       geworden. Chernivsky schaut konzentriert nach vorne, die Erkältung schlägt
       langsam durch. Doch sie will noch zur Buchhandlung „Zur Schwankenden
       Weltkugel“. Dort, im gut beleuchteten Schaufenster, liegt „Bruchzeiten“. 
       
       Chernivsky: Ich habe bis zu „Bruchzeiten“ noch nie ein persönliches Buch
       geschrieben. Das Buch ist zugleich auch ein Sachbuch, nur etwas durchzogen
       von biografischen Fragmenten und literarischer Sprache. Beim Schreiben
       hatte ich das Gefühl, die Zeit ein wenig austricksen zu können – als würde
       sie für einen Moment länger stehen bleiben.
       
       taz: Bei Ihnen ist immer wieder auch die Rede vom Tanzen. Sie tanzen Tango. 
       
       Chernivsky: Im Tango spüre ich Leben, er macht mich lebendig. Ich lerne
       beim Tango auch meine eigene innere Achse wieder zurückzugewinnen. Ohne die
       können wir dem Alltag nicht gerecht werden.
       
       13 Nov 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Amelie Sittenauer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA