# taz.de -- Die Wahrheit: Drei Sekunden für die Menschheit
       
       > Einer gravierenden Gegenfrage von universeller Tragweite folgt ein kurzes
       > Schweigen des Gegenübers und eine Antwort, die nur ein Wort umfasst.
       
       Ich mag meine Schwester. Meine Schwester wiederum „mag Menschen“, wie sie
       mir neulich am Telefon sagte: „Ich mag Menschen!“ Diese Aussage provozierte
       mich zu einer blödsinnigen Gegenfrage von universeller Tragweite: „Tja,
       aber magst du auch die Menschheit?“ Ihre Antwort war ein tiefes Schweigen.
       Eine Stille von exakt drei Sekunden.
       
       Am Telefon ist das eine lange Zeit. Zuerst dachte ich, sie hätte meine
       Frage nicht verstanden, also rein akustisch, kann ja vorkommen. Aber so
       lang sind drei Sekunden auch wieder nicht, dass ich sofort nachfragt
       hätte, ob sie meine Frage auch richtig verstanden hätte. Schließlich war
       diese Frage, wie mir schon im Verlauf der ersten Sekunde dämmerte,
       eigentlich eine blanke Frechheit, eine kategoriale Überrumpelung.
       
       Sie hatte mir eben noch einfach eine Situation im Bus geschildert, in der
       irgendwelche Leute nett zu ihr gewesen waren, worüber sie sich offenbar
       gefreut hatte. Ich hingegen hatte um so etwas wie ihre Einschätzung einer
       moralischen und ethischen Gesamtbilanz unserer Spezies gebeten. Eine Frage
       also, auf die ich gar keine Antwort erwartete.
       
       Gegen Ende der ersten Sekunde also beschlich mich das schlechte Gewissen,
       meine Schwester aus purer Lust am neckischen Überschlag in ein wesentlich
       höheres Register gelockt zu haben. Was ist das überhaupt für eine Frage?
       Auf welcher Grundlage, fragte ich mich ungefähr im Verlauf der zweiten
       Sekunde, sollte es darauf einen Antwort geben?
       
       In der dritten Sekunde beschlich mich bereits ein schlechtes Gewissen für
       meine übergriffige Fahrlässigkeit, meiner Schwester eine Frage von solcher
       Tragweite überhaupt vorgelegt zu haben. Ob die Menschheit in Gänze als eher
       liebenswürdig oder eher verdammenswürdig zu betrachten sei, das würde
       sowohl Philosophen als auch Anthropologen überfordern.
       
       Ins Kalkül zu ziehen wäre die komplette Bilanz von rund 25.000 Jahren
       wechselhafter Menschheitsgeschichte, vom Feuerstein bis zur Raumstation,
       von der Keilschrift bis zu Whatsapp, von der Erfindung des Rades bis zur
       Erfindung des Fahrrades. Abgewogen werden müssten sämtliche
       Scheußlichkeiten, die wir einander und unserer Umwelt seit Anbeginn der
       Zeit und Zeitrechnung zumuten, und zwar gegen unsere wenigen, aber umso
       leuchtenderen Versuche, die schädlichen Auswirkungen der Präsenz unserer
       Gattung auf diesem Planeten irgendwie einzuhegen.
       
       Stellte man, dachte ich zuletzt, diese bekloppte Frage dem rechenstärksten
       Quantencomputer der Welt, fütterte man ihn mit allem Wissen der Menschheit,
       dem Inhalt aller Bibliotheken, Museen und Datenbanken, und ließe man diesen
       Superrechner dann mal in Ruhe zu einem Ergebnis kommen, er würde gewiss zu
       einem anderen Ergebnis kommen und auch ein wenig länger brauchen als nur
       die drei Sekunden konzentrierter Kontemplation, die meine Schwester für
       ihre Antwort brauchte.
       
       „Ja“.
       
       28 Nov 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Frank
       
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