# taz.de -- Die Wahrheit: Der unheimliche Harfenmann
> Ein aufdringlicher Besucher verlangt nach Einlass. Seine düstere Seite
> gewinnt langsam die Oberhand. Und am Ende steht ein kalter Albtraum.
(IMG) Bild: Schauermusiker in seinem Iglu: Norbert Hofacker
Ich weiß gar nicht, wie es geschah. Es klingelte, ich öffnete und da stand
er: „Ich bin Norbert Hofacker!“, rief er und hielt mir irgendwas unter die
Nase. Es sah wie ein Ausweis aus, doch als ich genauer hingucken wollte,
zog er ihn schon wieder weg. Na ja, dachte ich mir, wird schon irgendwie
alles seine Richtigkeit haben, immerhin hat er so eine Art Ausweis dabei.
Er sah aus wie ein Beamter mit Anzug, Fliege und Aktentasche, also schöpfte
ich keinen Verdacht. Aber als er in meine Wohnung drängte, fing er schon
an, mir seltsam vorzukommen. „Aha!“, rief er. „Hier sind ja überall
Fingerabdrücke von Ihnen!“ Ich versuchte, mich zu verteidigen: „Ja, tut mir
leid, aber ich lebe und wohne nun mal seit schon fast zwanzig Jahren in
dieser Wohnung. Manchmal fasse ich versehentlich auch Möbelstücke an. Tut
mir leid!“
Norbert Hofacker runzelte seine Stirn. Dann fragte er mich bohrend: „Haben
sie deshalb ihren Großvater mit der Mistgabel erstochen, nur um an die
Diamanten aus Brasilien zu kommen? Da hätten sie doch besser den Anwalt
ihres verschollenen …“
Länger ließ ich ihn nicht rumquatschen, denn ich hatte schon längst im
Handy gegoogelt, dass Norbert Hofacker vor vierzig Jahren unter mysteriösen
Umständen bei einer streng geheimen Nasa-Mission im Weltall verschwunden
war. Das war wohl gelogen. Aber die Geschichte mit meinem Großvater hatte
er fast richtig recherchiert. Ja, ich hatte Opa getötet, aber nicht mit
einer Mistgabel, sondern mit einer Harpune aus Thailand, und es ging dabei
auch nicht um Erbschaftsstreitigkeiten, sondern um eine uralte
Familientradition, derzufolge jede Erstgeborene ein Familienmitglied
umbringen muss. Ich war zwar nicht die Erstgeborene, aber so genau hatte
meine Familie es mit Regeln noch nie genommen. Es war auch keine Harpune,
sondern eine Silvesterrakete, aber, wie gesagt …
## Nase wie Hefekranz
Doch Norbert Hofacker sah mich noch immer bohrend an, er würde wohl niemals
locker lassen! Fast wurde er mir ein bisschen unheimlich. Ich überlegte
kurz, ihm einen gewaltigen Schlag auf seine überaus entzückende Nase zu
geben, die mich ein bisschen an einen Hefekranz erinnerte, doch etwas hielt
mich zurück. Ich habe bis heute nicht erfahren, was das war! War ich
möglicherweise verliebt?
Er sah aus wie eine Kreuzung aus Pferd und Troll, zwei Spezies, die ich
sehr schätze. Er hatte die Zähne eines Pferdes und die Ohren eines Trolls,
ein bisschen Dackel spielte in die Physiognomie auch noch mit herein. Aber
ich glaube im Nachhinein, dass es eher sein Charme war, der mich
zurückhielt, ihm die Fonduegabeln direkt in den Brustkorb zu rammen. Nie
zuvor habe ich ein Lebewesen berückender auf einer Harfe spielen hören als
Norbert Hofacker! Wie er plötzlich in mein Wohnzimmer gelangt war und wo er
die Harfe her hatte, war mir egal. Er konnte mit seiner Saitenzupftechnik
selbst Mozart, Jürgen Drews, Beethoven und all die anderen in den Schatten
stellen.
## Geheime Klopfzeichen
Ach, wäre er nur nicht im Knast gelandet, hätte aus ihm sogar ein
Universalgenie werden können. Doch seine düstere Seite gewann irgendwann
die Oberhand. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als er plötzlich
wieder vor meiner Tür stand und abermals Einlass begehrte. Im traurigen
Monat November war es, ich hatte mit der ganzen Sache schon abgeschlossen,
als es dreimal klopfte. Das war unser geheimes Klopfzeichen.
Ich öffnete. Er sah komplett desolat aus: Die Fliege saß schief, ein Ohr
hing ihm fast am Kinn, eines seiner Augen war zwar noch in der Höhle, aber
er hatte nur noch ein Bein. Besorgt bat ich ihn herein und feuerte den
Kamin an. Das Erste, was er sagte, war: „Ich war das nicht!“
Ich glaubte ihm zwar, doch es fiel mir sehr schwer. Meinen Lügendetektor
wollte ich nicht unter dem Bett hervorkramen, der war bestimmt total
verstaubt, und das wäre mir peinlich gewesen.
Eine Weile starrten Norbert Hofacker und ich einander an. Wir wussten
offensichtlich beide nicht, wie diese Geschichte weitergehen sollte. Dann
sprach er plötzlich die kryptischen Worte: „Du hast mich erschaffen, jetzt
denk dir verdammt noch mal auch was aus!“
Plötzlich schlug ein Komet ein, und Norbert Hofacker riss sich die
Pfadfinderuniform vom Leibe. Darunter hervor kam ein Superman-Kostüm, das
allerdings ganz und gar in graubraunen Farben designt war. Ab da verliert
sich meine Erinnerung, ich weiß nur noch, dass ich irgendwo am Nordpol oder
Südpol wieder zu mir kam und Norbert Hofacker gerade dabei war, uns ein
gemütliches Iglu zu bauen. Pinguine und Eisbären halfen ihm dabei. Da
wusste ich, dass irgendwas nicht stimmen konnte. Ich kam nur nicht darauf,
was es war …
14 Nov 2025
## AUTOREN
(DIR) Corinna Stegemann
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