# taz.de -- Mobilisierung in der Ukraine: Wenn die Schaufel zum besten Freund wird
       
       > In der Ukraine werden immer häufiger ältere Männer eingezogen. Die
       > Grundausbildung ist für viele hart. Ein Bericht aus dem Innenleben der
       > Armee.
       
 (IMG) Bild: So weit die Füße tragen: Rekruten in der Grundausbildung
       
       Schüsse, Explosionen, das Scheppern von Ausrüstung, laute Befehle und
       Hunderte von Männern in Militäruniformen. In diesem Ameisenhaufen ist jeder
       beschäftigt – ein typischer Tag auf dem Trainingsgelände der ukrainischen
       Streitkräfte.
       
       In der Ukraine wird die militärische Grundausbildung, die jeder Einberufene
       durchläuft, regelmäßig angepasst. Rekruten, personell verstärkte
       Kampfbrigaden und Ausbilder beklagen immer wieder die schlechte Qualität
       der Ausbildung. In Medien und soziale Netzwerken wird berichtet, die
       Unterweisung werde entweder schlecht durchgeführt oder sie sei weit
       entfernt von der Realität des Krieges.
       
       [1][Im Herbst 2025 sind in den Ausbildungszentren der ukrainischen
       Streitkräfte vor allem Männern anzutreffen, die von der Straße mobilisiert
       wurden]. Oft sind sie zwischen 45 und 60 Jahren alt. Die Ausbildung ist
       kein Zuckerschlecken: Der Tag beginnt um sechs Uhr auf dem
       Truppenübungsplatz – Sport, dann Frühstück. Für Neulinge ist es schwer,
       sich an diesen Rhythmus zu gewöhnen.
       
       Der Programmierer Dmytro sagt, dass er manchmal erst um diese Zeit ins Bett
       gehe, weil er nach dem Dienstplan seines US-Arbeitgebers arbeite. Er ist
       der Erste, der in der Kaserne nach dem Frühstück in der Kantine Kaffee
       kocht. „Er schmeckt 100-mal besser als zu Hause“, sagt Dmytro jeden Morgen
       und genießt sein Heißgetränk vor einem halbdunklen Fenster.
       
       ## Bienenstöcke ohne Aufsicht
       
       In den Gesprächen geht es meist um familiäre Dinge. Kyrils Familie aus
       Dnipro wird jede Nacht von Luftalarm geweckt. Viktors Bienenstöcke in
       Chmelnyzkyj sind unbeaufsichtigt: Er hat keine Kinder, seine Frau kümmert
       sich um den kranken Vater und andere Belange im Haushalt. Bohdan aus Luzk
       hat eine krebskranke Mutter, sein Bettgenosse ruft jeden Abend seine Frau
       und die beiden Töchter an. Die Gespräche beim Kaffee werden durch das
       Kommando „Holt eure Waffen!“ unterbrochen. Der Zug bricht auf.
       
       Ende 2024 wurde die Ausbildung für neue Rekruten verlängert. Sie beginnt
       mit einer Schulung im Umgang mit Drohnen, Maschinengewehren und
       Granatwerfern. Auch der Vermittlung medizinischer Kenntnisse wird mehr Zeit
       gewidmet. Die Ausbildungsdauer beträgt nun etwa 50 Tage.
       
       Müde laufen die Soldaten über den Schotter, ihre Beine hatten nach dem
       gestrigen Nachtmarsch keine Zeit zum Ausruhen, aber sie tragen die Rekruten
       erneut durch den Nebel zum Schießplatz. Der Zug setzt sich in Bewegung, die
       Soldaten erinnern sich an die Erzählungen der Ausbilder: Auf dem Weg könnte
       eine Mine liegen, die Lichtung ist ein guter Platz für einen
       Beobachtungsposten und an der Kreuzung könnte ein Hinterhalt lauern.
       
       Der Befehl ergeht: „Zug, Halt, Schweigeminute!“ Die Männer nehmen ihre
       Mützen ab und bleiben stehen. Dieses ist ein festes Ritual ist in der
       ukrainischen Armee: Um 9 Uhr morgens anhalten und die Gefallenen ehren. Der
       Kommandant sagt: „Ehre der Ukraine!“ Die Soldaten legen ihre Hände an die
       linke Brust und ein Sprechgesang hallt durch den Wald: „Den Helden sei
       Ruhm!“ Sie setzen ihre Mützen wieder auf und die Kolonne zieht weiter.
       
       ## Kreuze auf der Brust
       
       Das Gehen wird mit jedem Tag beschwerlicher.: Die Müdigkeit hindert die
       älteren Männer daran, der Belastung standzuhalten. Der Priester Ihor ist 52
       Jahre alt, hat sich aber nie über seine Einberufung beklagt. Vor dem Krieg
       diente er in Saporischschja in der orthodoxen Kirche der Ukraine. Während
       der Ausbildung unterstützt Ihor die Rekruten. Jeder hat sein eigenes
       Verhältnis zur Religion. Allerdings tragen die meisten Männer Kreuze auf
       der Brust.
       
       Der beste Freund eines Rekruten während der Ausbildung ist die Schaufel.
       Das Leben eines Soldaten hängt oft von der Tiefe eines Schützengrabens ab.
       Daher sind Spitzhacken und Schaufeln auf dem Übungsgelände wie eine zweite
       Waffe.
       
       „Ruht euch aus!“, lautet der Befehl. Ich bücke mich im Graben und sehe, wie
       mir der Schweiß von der Stirn auf die Schaufel tropft. „Ein Meer aus
       Schweiß spart einen Tropfen Blut“, wiederholt der Ausbilder. Sogenannte
       „Fuchslöcher“, Unterstände, Tunnel, Feuerstellungen – all das hat man
       bisher in den sozialen Medien nur in Videos von der Front gesehen. Die
       Realität im Wald erweist sich als schwieriger: Nach wochenlanger
       Trockenheit gibt der lehmige Boden nur noch unter Spitzhacken und Äxten
       nach. Auf den T-Shirts breiten sich schnell Schweißränder aus.
       
       Am widerstandsfähigsten in schwierigen Momenten sind oft ältere Männer, die
       vor ihrer Pensionierung für die Armee mobilisiert wurden. Es ist nicht so,
       dass sie besonders gerne Aktivitäten nachgehen, die körperlich für jüngere
       Männer geeignet sind. Aber sie beschweren sich selten.
       
       ## Shorts, ein T-Shirt und ein Telefon
       
       Wie zum Beispiel Valera. Er ist 56 Jahre alt und stammt aus einem Dorf in
       der Nähe von Nowa Kachowka, das von russischen Streitkräften besetzt ist.
       [2][Nach dem russischen Terroranschlag auf den Staudamm des
       Wasserkraftwerks] nahm Valera in seinem Haus mehrere Familien vom
       überfluteten linken Ufer auf, die von ukrainischen Soldaten heimlich mit
       Booten evakuiert worden waren.
       
       Im März desselben Jahres traf eine Lenkbombe sein Haus. Valera blieb nur
       noch das, was er am Leib trug: Shorts, ein T-Shirt und ein Telefon. Er zog
       zu seinem Sohn nach Luzk und wurde im Sommer, als er Bier holen ging, von
       einer Patrouille des Rekrutierungszentrums mobilisiert.
       
       Valera hat unglaubliches Heimweh und sagt, er könne noch immer mit
       geschlossenen Augen auf dem Moped von Cherson nach Nowa Kachowka und
       Beryslaw fahren. Doch jetzt kreisen seine Gedanken um die Armee – wie die
       Hunderter anderer Männer auch, die sich auf dem Truppenübungsplatz auf
       ihren Einsatz im Krieg vorbereiten.
       
       „Glaubt nicht, dass Drohnen die neue Wunderwaffe sind und bald ohne
       Menschen gekämpft werden kann. Es ist die Infanterie, die die Frontlinien
       hält, Drohnen werden ebenfalls von Menschen gesteuert und sie können bei
       schlechtem Wetter nicht eingesetzt werden“, erklärt ein Oberstleutnant mit
       Kampferfahrung die Besonderheiten von Drohneneinsätzen in der modernen
       Kriegsführung.
       
       ## Leben schützen
       
       Dieser Kurs wurde für Rekruten eingeführt, um ihnen beizubringen, wie sie
       Leben schützen können. Drohnen sind derzeit für bis zu 80 Prozent der Opfer
       verantwortlich: Kamikaze-Drohnen (FPVs) und größere Modelle, die
       Sprengstoff abwerfen.
       
       Drohnen haben die Kampftaktik verändert. Während es in den ersten
       Kriegsjahren möglich war, mit dem Auto zu einer Stellung zu fahren, müssen
       die Soldaten heute mehrere Kilometer in voller Montur dorthin zu Fuß
       laufen.
       
       Männer, die in der Sowjetzeit oder der alten ukrainischen Armee gedient
       haben, sind von den Veränderungen in der Ausbildung überwältigt – zumindest
       hat ihnen niemand von Drohnen erzählt. Früher konnte ein neuer Rekrut
       während der Ausbildung höchstens zehn Schüsse abfeuern. Heute sind es über
       tausend. Darüber erhalten sie detaillierten Unterricht in Erster Hilfe, zur
       Entminung und zum Überleben in der Natur.
       
       Um Neulinge nicht mit der harten Realität der Front zu überfordern, machen
       die Ausbilder gerne Witze. „Die Schnur sollte nicht mit den Zähnen am
       Zünder befestigt werden, da kann Ihnen dann auch kein Zahnarzt mehr
       helfen“, sagt einer von ihnen.
       
       ## Molche, Mäuse, Frösche und Schnecken
       
       Oft sind Witze von harten Wahrheiten über das Überleben im Krieg nur schwer
       zu unterscheiden. Beispielsweise die Vorstellung, dass Soldaten ohne
       Proviant Molche, Mäuse, Frösche und Schnecken essen oder sogar wie Bären in
       einen Ameisenhaufen kriechen können. Rekruten lernen, wie man Tau und
       Kondenswasser mithilfe eines Umhangs richtig auffängt.
       
       Mit 55 Jahren noch kämpfen zu lernen, ist hart. Während der medizinischen
       Ausbildung wird den Rekruten immer wieder gesagt: „Die dümmste Frage in der
       Ausbildung ist die, die man nicht gestellt hat.“
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       10 Oct 2025
       
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