# taz.de -- Gaza-Tagebuch: „Unter den Toten ist auch mein Cousin“
       
       > Flucht aus Beit Lahia: Unsere Autorin berichtet vom Verlust des Vaters,
       > endlosen Bombennächten – und der Suche nach einem letzten Rest
       > Sicherheit.
       
 (IMG) Bild: Beit Lahia am 15. Mai. Trauer um Getötete Palästinenser, die durch einen israelischen Luftangriff gestorben sind
       
       Beit Lahia, 13. Mai: Eine gewaltige Explosion erschüttert den Boden unter
       uns, wie ein Erdbeben. Wir wachen panisch auf und blicken um uns – ist
       jemand verletzt? Es ist dunkel, Schreie um uns herum, weinende Kinder. Ein
       Haus in der Nähe ist getroffen worden. Die Nachricht verbreitet sich
       schnell – es gibt Tote und Verletzte. Viele eilen hin, um zu helfen. Wir
       denken, es sei vorbei, legen uns wieder schlafen. Doch es ist erst der
       Anfang.
       
       [1][Die Bombardierungen] halten in den nächsten Tagen unerbittlich an, Tag
       und Nacht, das Summen der Drohnen, die Geräusche von Schüssen und
       Artilleriefeuer. Dann bricht die Nacht zum Freitag, dem 16. Mai, an – die
       letzte, die ich in meiner Heimatstadt Beit Lahia verbringe. Wegen der
       Intensität und Nähe der Angriffe können wir nicht schlafen. Um uns herum
       gehen Granatsplitter nieder, in unseren Zelten sind wir ungeschützt. Alle
       um uns herum beten nur darum, dass der Morgen kommt – bevor der Tod sie
       erreicht. Der Morgen kommt, doch die Katastrophe bleibt. Die Menschen
       wissen nicht, wohin.
       
       Es herrscht Chaos, die Straßen sind voller Vertriebener. Mein Onkel und
       meine Freunde rufen an und drängen uns: Wir sollen sofort in den Westen von
       Gaza-Stadt fahren – dort scheint es sicherer zu sein. Um neun Uhr früh
       schlagen einige Granaten in der Nähe unseres Flüchtlingslagers ein. Meine
       Mutter und meine jüngeren Geschwister werden unruhig. Sie fragen mich, was
       wir tun sollen. Ich beruhige sie, plädiere dafür, zu warten.
       
       Denn für unser [2][Gebiet gibt es keine Evakuierungsbefehle], und wir
       befinden uns in einem bekannten Flüchtlingslager. Die israelische Armee ist
       noch kilometerweit entfernt. Nur 15 Minuten nach dem ersten Angriff
       schlagen etwa sechs Granaten nahe unserem Flüchtlingslager ein, in einem
       belebten und dicht besiedelten Gebiet an der Hauptverkehrsstraße von Beit
       Lahia nach West-Gaza. Die Nachricht verbreitet sich schnell – viele Tote
       und Verletzte. Die Geschwister meiner Mutter und ihre Kinder leben in
       dieser Gegend. Zuvor haben wir noch telefoniert, sie erzählten uns, dass
       sie sich auf die Evakuierung vorbereiten.
       
       ## Es wird Tag und Nacht bombardiert
       
       Nach dem Angriff versuchen wir sie zu erreichen – und hören nur Schreie:
       Sie sind getroffen worden. Die Panik wächst. Wir wissen nicht, was mit
       ihnen geschehen ist. Junge Männer eilen herbei, um den Verletzten zu
       helfen. Unter ihnen ist auch mein Cousin. Er ist tot. In diesem Moment muss
       ich an den Tod meines Vaters denken: Im März verließen wir nach einer
       Evakuierungsanordnung unser Haus im Viertel Al-Sheikh Zayed in Gaza-Stadt.
       Zwei Tage später, am 22. März, kehrten mein Vater und meine beiden jüngeren
       Brüder noch einmal zurück, sie wollten einige wichtige Dinge holen, die wir
       zurückgelassen hatten. Sorgen machten wir uns erst keine. Dann hörte ich
       Explosionen und wurde unruhig. Ich rief meinen Vater zweimal an – keine
       Antwort. Beim dritten Anruf ging mein Bruder ran. Nur Schreie waren zu
       hören, dann legte er auf.
       
       Meine Angst wuchs – und dann zeigten die Nachrichtensender die ersten
       Videos. Ich erkannte meinen Vater an seiner Kleidung, sein Gesicht war
       nicht zu sehen. Alle sagten, er sei nur verletzt. Doch mein Herz kannte
       bereits die Wahrheit – ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde.
       Meine Mutter fuhr ins Krankenhaus.
       
       Dann kam die Bestätigung – er war getötet worden. Ich rannte zum Friedhof,
       ohne den Boden unter meinen Füßen zu spüren. Ich schrie und weinte und
       flehte meine Mutter an, mich ihn noch ein letztes Mal küssen zu lassen. Ich
       saß neben ihm in seinem Grab, küsste seine Hand immer wieder, und prägte
       mir noch einmal sein Gesicht ein. Für immer wird mich dieser Moment
       begleiten.
       
       Für meinen Cousin halten wir eine kurze Trauerfeier ab, denn die Situation
       lässt nichts anderes zu. Ich muss schützen, was von meiner Familie übrig
       ist: Wir packen schnell das Nötigste zusammen – Nahrung, Kleidung, Decken.
       Wir bauen die Zelte ab, laden sie ins Auto. Es passt nicht alles hinein,
       vieles muss zurückbleiben. Dann verlassen wir Beit Lahia. Es ist das erste
       Mal, dass wir ohne meinen Vater evakuieren müssen. Mein Onkel fährt sein
       Auto. Der Verkehr ist dicht, die Straße holprig, auf beiden Seiten liegen
       Trümmerhaufen.
       
       Die Fahrt ist lang und anstrengend. Die Nacht zieht herauf. Die
       Bombenangriffe setzen wieder ein. Schließlich kommen wir im [3][Westen
       Gazas] an, in einer Wohnung, in der die Familie meines Onkels bereits
       wartet. Wir tragen unsere Habseligkeiten hoch in den sechsten Stock, ohne
       Aufzug, ohne Strom. Mich überwältigen die Gefühle: Erleichterung, dass ich
       es mit meiner Familie aus Beit Lahia herausgeschafft habe. Stolz, dass wir
       unsere erste Prüfung ohne meinen Vater gemeistert haben. Trauer, unsere
       Heimatstadt verlassen zu haben. Und um meinen Vater – und das Gefühl der
       Sicherheit, welches ich immer an seiner Seite empfunden hatte.
       
       Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia. Sie ist die Cousine unserer Reporterin
       Malak Tantesh und wurde insgesamt acht Mal vertrieben. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in
       den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen
       wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der
       taz.
       
       20 May 2025
       
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