# taz.de -- Landbesetzung in Kenia: Die Gärten am Fluss
       
       > In einer von Nairobis größten Slums bewirtschaften Menschen illegal
       > Felder. Die Regierung vertreibt sie immer wieder. Und dann ist da der
       > Regen.
       
 (IMG) Bild: Bedrohte Oase: Am Ufer des Mathare machen es sich die Leute schön und bauen Lebensmittel an. Doch der Garten ist gefährdet
       
       Nairobi Kleine grüne Oasen wachsen zwischen dem tristen Grau der Überreste
       von einst Tausenden Wellblechhütten. Der Mathare-Fluss schlängelt sich
       hindurch, seine Fluten und die Bulldozer der Regierung, die danach kamen,
       haben die Menschen, die hier in einem der größten Slums von Kenias
       Hauptstadt Nairobi lebten, vertrieben. Aber die Bewohner:innen kommen
       zurück, sie besetzen das Land wieder. Vernachlässigt von ihrer Regierung
       legen sie Gemeinschaftsgärten an, um sich selbst zu ernähren. Mehr als 70
       schrebergartengroße Felder sind es mittlerweile, auf denen verschiedenstes
       traditionelles kenianisches Blattgemüse angebaut wird.
       
       Auf einem dieser Felder pflanzt die über 80-jährige Monicah Waithera Reihe
       für Reihe Setzlinge Kohl ein. Ihre vier Freundinnen graben mit Hacken den
       harten Boden um, um das Feld zu erweitern. Das Gemüse, das hier wächst,
       soll irgendwann 20 Frauen ernähren. Beim Pflanzen singen die grauhaarigen
       Frauen Lieder der Unabhängigkeitsbewegung Mau Mau. Sie erzählen von ihrem
       Widerstand gegen den britischen Kolonialismus in den 50er Jahren. „So wie
       die Kolonialisten meine Familie vor hundert Jahren von unserem Land
       vertrieben, hat die Regierung mich erneut aus meinem Zuhause gejagt“,
       erklärt Monicah.
       
       Sie deutet auf die Überreste eines Fundaments am anderen Flussufer. Früher
       stand dort das Wellblechhaus, in dem sie bis vor Kurzem lebte. Dicht an
       dicht gedrängt standen hier früher die drei mal drei Meter kleinen Häuser.
       Im April vergangenen Jahres überschwemmte der kleine Fluss nach starken
       Regenfällen ihr Haus und fegte so gut wie alles hinweg, was sie besaß. „Das
       Wasser hätte mich fast mitgerissen, hätten meine Nachbar:innen mich
       nicht im letzten Moment aus meinem Haus geholt“, erinnert sie sich. Einige
       ihrer Nachbar:innen überlebten die Nacht nicht. Über 200.000
       Kenianerinnen und Kenianer verloren durch die Überschwemmungen ihr Zuhause.
       
       Monicah war sich der Gefahr des Flusses bewusst, doch wie viele andere
       Land- und Mittellose hatte sie keine andere Wahl, als sich am Ufer
       niederzulassen. Da das Land entlang von Flüssen weder privatisiert noch
       legal bebaut werden kann, bleibt es oft die einzige Option für den Bau
       illegaler Siedlungen.
       
       ## Bulldozer im Schlamm
       
       Weil diese Siedlungen ohne rechtlichen Status entstehen, sieht der Staat
       sich nicht in der Verantwortung, Kanalisation oder Abfallentsorgung
       bereitzustellen. Beides begünstigt Überschwemmungen, da Regenwasser nicht
       ablaufen kann und Müll die wenigen Abflusswege blockiert. Auch am Morgen
       nach der Flut blieben die Bewohner:innen größtenteils auf sich
       gestellt. Sie suchten barfuß im Schlamm nach Überlebenden, sie bargen die
       toten Kinder. Die Polizei erschien nur, um die Leichen abzuholen.
       
       Und dann ließ sich die Regierung plötzlich doch im Viertel blicken. Noch
       bevor der Regen aufgehört hatte und die Menschen ihr letztes verbliebenes
       Shirt trocknen konnten, rückten die Bulldozer an und fegten weg, was übrig
       geblieben war. „Ich konnte nicht mal meine letzte Tasse aus meinem Haus
       retten“, erinnert sich Monicah.
       
       Ohne jede Vorwarnung ließ die Regierung Monicahs Haus sowie die Unterkünfte
       von mindestens 181.000 Menschen abreißen, die in einem 30-Meter-Umkreis
       entlang der Flüsse im ganzen Land lebten. Besonders die Slums wurden dabei
       rigoros zerstört, während wohlhabende Viertel an den Flussufern weitgehend
       verschont blieben. Die Anweisung für die Abrisse kam direkt von höchster
       Stelle. „Wir möchten ihr Leben retten“, rechtfertigte Präsident William
       Ruto sein Vorgehen.
       
       Wenige Tage später wurde ein 17-Jähriger, der in den Trümmern nach
       verwertbaren Gegenständen suchte, von einem Bulldozer überfahren und
       getötet. „Die Menschen wurden wie Müll behandelt“, kritisierte Richterin
       Jacqueline Mogeni später in einem Urteil des Obersten Gerichts. Die
       Zwangsräumungen waren nicht nur grausam, sondern auch rechtswidrig: Bereits
       2018 hatte [1][das Oberste Gericht entschieden], dass landlose Menschen,
       die auf öffentlichem Land wie Ufergebieten Häuser errichten, ein
       schutzwürdiges Recht auf Wohnraum an genau diesen Orten besitzen.
       
       ## Gebrochene Versprechungen
       
       Wenige Tage nach dem Abriss steht Präsident Ruto in Gummistiefeln im
       Schlamm des abgerissenen Viertels und hält eine Rede. Er verkündet, hier
       5.000 Wohnungen zu bauen, in denen die Ärmsten der Armen für lediglich
       umgerechnet 22 Euro Monatsmiete ein neues Zuhause finden sollen. Dieses
       Vorhaben ist Teil eines groß angelegten Programms für bezahlbaren Wohnraum,
       das jährlich 200.000 neue Wohnungen schaffen und damit den derzeitigen
       Mangel von zwei Millionen Wohneinheiten ausgleichen soll.
       
       Doch acht Monate später ist in Mathare von dem ambitionierten Projekt noch
       nichts zu sehen. Der Grund sind Rechtsstreitigkeiten über die kontroverse
       Steuer, die das Bauprogramm finanzieren soll. Auch ist klar, dass das
       Programm weit weniger den Ärmsten zugutekommen wird als angekündigt: Nur
       ein Drittel der vorgesehenen Mittel wird [2][in den Bau von Wohnungen für
       Geringverdiener] mit einem Einkommen unter 230 Euro im Monat fließen.
       
       Heute lebt Monicah etwa 50 Meter vom gefährlichen Fluss entfernt in einer
       kleinen Wellblechhütte. Der Regen der vergangenen Tage tropft noch immer
       durch die Löcher im verbogenen Dach. Ihr letztes verbliebenes Hab und Gut
       hat sie ordentlich in einem Reissack verstaut. Es gibt keinen Stuhl, um
       sich zu setzen, also legt Monicah ein zerfetztes Kissen auf einen Stein vor
       dem Eingang ihrer Hütte und setzt sich – sie erzählt:
       
       „Die weißen Siedler nahmen meiner Familie das Land, auf dem sie seit
       Generationen lebte.“ Weil die koloniale Stadtplanung kaum Wohnraum für
       Afrikaner:innen vorsah, wurde die Familie wie Tausende andere
       Afrikaner:innen an die Randgebiete der Hauptstadt gedrängt. In dem neu
       entstehenden Slum entlang des Mathare-Flusses wächst Monicah auf. „Ich habe
       kein Land, zu dem ich zurückkehren kann. Mathare ist seitdem mein Zuhause.“
       
       ## Die Mau-Mau gingen leer aus
       
       Unter dem Bund ihres langen Rockes zieht Monicah ihren Mau-Mau-Ausweis
       hervor – eines der wenigen Dinge, die sie vor der Flut retten konnte. Wie
       sie schlossen sich 20.000 enteignete Bauern in den 1950er Jahren dem
       bewaffneten Aufstand gegen den britischen Kolonialismus an. „Wir kämpften
       für Land, auf dem wir unsere Kinder großziehen und ernähren könnten eines
       Tages“, erklärt Monicah. Die Aufgabe der jungen Monicah war es, die
       Kämpfer:innen, die sich im Viertel und in den umliegenden Wäldern versteckt
       hielten, mit Lebensmitteln zu versorgen.
       
       Während Monicah davonkam, wurden viele ihrer Mitstreiterinnen in britische
       Internierungslager verschleppt, in denen sie gefoltert und verhört wurden.
       „Es ist nicht meine Geschichte, zu erzählen, was dort geschah“, beendet
       Monicah das Thema. Trotz der brutalen Niederschlagung des Aufstands
       leistete der bewaffnete Guerillakrieg einen entscheidenden Beitrag zur
       Unabhängigkeit Kenias.
       
       Als das Kolonialregime 1964 endlich abzog, gingen die meisten
       Mau-Mau-Mitglieder leer aus: Die neue Elite um Präsident Jomo Kenyatta, den
       sogenannten Vater der Nation, sicherte sich den Großteil des Landes. Bis
       heute ist der Zugang zu Land eine der drängendsten sozialen Fragen in
       Kenia. Monicah blieb in Mathare und zog dort ihre zehn Kinder groß, von
       denen sieben inzwischen verstorben sind. „Ich konnte sie nicht gemäß
       unserer Tradition auf dem Land unserer Vorfahren begraben, sondern musste
       sie auf einem öffentlichen Friedhof bestatten“, erzählt sie. Auch nach 80
       Jahren kämpft Monicah noch immer für ein Stück Land, auf dem sie wohnen,
       sich ernähren und eines Tages ihre letzte Ruhe finden kann.
       
       Im Juni 2024, einen Monat nach den Bulldozerräumungen, zog Monicah mit
       ihren Freundinnen vors Parlament in Nairobi. In traditionelle erdfarbene,
       mit Muscheln bestickte Gewänder gekleidet, forderten sie Land und
       Kompensation. „Ich bin wütend auf unsere Politiker“, ärgert sich Monicah.
       „Sie schlagen sich die Bäuche voll, während wir hungrig schlafen.“ Die
       Mau-Mau-Veteran:innen schlossen sich damit den Massenprotesten an, die zu
       der Zeit im ganzen Land ausbrachen. Vor allem junge Menschen demonstrierten
       gegen die hohen Lebenshaltungskosten und die geplante Steuererhöhung auf
       Grundnahrungsmittel wie Brot und Öl und Hygieneartikel wie Damenbinden.
       
       ## Mütter und Töchter aufs Land
       
       Nach etwa einem Monat wurden die Proteste mit mindestens 50 toten
       Demonstrant:innen und zahlreichen Entführungen von
       Regimekritiker:innen niedergeschlagen. Die Mau-Mau-Frauen wurden mit
       Tränengas vertrieben – ohne Kompensation für den Verlust ihrer Häuser.
       Gemeinsam mit ihren Genossinnen fasste Monicah damals den Entschluss: „Bis
       die Regierung uns unser Land gibt, werden wir Mütter und Töchter der Mau
       Mau uns das Land einfach nehmen und Gemüse anbauen, um zu essen.“
       
       Und damit sind sie nicht die einzigen: Eine Genossenschaft für Wäscherinnen
       und zahlreiche Gruppen von Kindern und Jugendlichen beginnen, Gemüse
       entlang des Flusses anzubauen. Künstlerkollektive schaffen kreative Räume,
       das selbstorganisierte Mathare Social Justice Center baut Spielplätze und
       Parks, hält Nachbarschaftsversammlungen am Fluss ab. Die Nachbarschaft
       haucht dem zerstörten Land neues Leben ein.
       
       500 Meter flussabwärts vom Feld der Mau-Mau-Frauen, unter hohen
       Eukalyptusbäumen, findet man den Garten von Job Omondi und seiner
       Jugendgruppe Red City. Es ist der wohl üppigste Garten in der Umgebung.
       Früher waren die Jungs Teil einer kriminellen Gang, heute sind sie
       engagierte Gemüsegärtner. „Wir haben das Land besetzt, weil die Regierung
       selbst nichts Sinnvolles damit anstellt“, sagt der 19-Jährige, während er
       ein Büschel Spinat pflückt und es einer Nachbarin verkauft.
       
       Auch er und seine Freunde verloren alles durch die Fluten und Bulldozer.
       Auch sie gingen bei den Massenprotesten vergangenes Jahr auf die Straße.
       „Wir haben unsere Häuser verloren und dann will Präsident Ruto auch noch
       die Preise für Lebensmittel erhöhen?“, empört sich Job. Und auch sie
       suchten nach dem Scheitern der Proteste nach eigenen Wegen, um zu überleben
       – ohne Unterstützung vom Staat.
       
       ## Ansage von Sarah
       
       Und da trafen sie auf Sarah Wangari. Ihr Sohn wurde 2017 durch die Polizei
       getötet. Heute versucht sie, kriminellen Jugendlichen im Viertel andere
       Perspektiven aufzuzeigen. „Damit ihnen nicht dasselbe passiert wie meinem
       Sohn“, erklärt die 49-Jährige. Sie ermutigte die Jungs, Land entlang des
       Flusses zu besetzen und gab ihnen die ersten Samen. Regelmäßig kommt sie
       vorbei, um nach ihnen zu sehen und selbst mit anzupacken. Wenn die magere
       kleine Frau mit ihrer bestimmten Stimme eine Ansage macht, verstummen die
       zehn Jungs und hören aufmerksam zu. „Dieses Land ist öffentliches Land, das
       steht in unserer Verfassung. Lasst euch also nicht von der Polizei oder den
       Politiker:innen vertreiben!“
       
       Früher stahlen die Jugendlichen Handys, um sich über Wasser zu halten –
       hier im Viertel gibt es kaum andere Arbeit. Eine gefährliche
       Einkommensquelle, wie Job erklärt: „Jeder von uns hat einen Freund oder
       Bruder durch die Kugeln der Polizei verloren.“ Das „Red“ im Namen der
       Jugendgruppe steht für das Blut von Gangmitgliedern, das durch
       Polizeigewalt vergossen wurde. Die Organisation Missing Voices
       dokumentierte 2023 im Schnitt alle drei Tage eine Tötung durch die Polizei,
       viele davon in den Slums von Nairobi.
       
       Um nicht auch Opfer von Polizeigewalt zu werden, entschied sich die Gang,
       die Kriminalität hinter sich zu lassen und stattdessen gemeinsam Gemüse
       anzubauen. „Wir wollten auch mal was Gutes für unsere Nachbarschaft
       machen“, erklärt Job. Viele Nachbar:innen sind froh, dass die
       Jugendlichen beschäftigt sind, und berichten, dass die Zahl der
       Raubüberfälle am Fluss seit der Entstehung der vielen Gärten zurückgegangen
       sei.
       
       „Auf einem der geklauten Handys haben wir uns auf Youtube Anleitungen zum
       Gemüseanbau angeschaut.“ Neben dem Eigenbedarf verdient die Gruppe täglich
       nur etwa 1,50 Euro durch den Verkauf ihrer Ernte. Aber 1,50 Euro bedeuten
       umgerechnet auch etwa drei Kilogramm Maismehl – ausreichend, um eine
       vollwertige Mahlzeit für die gesamte Gruppe zuzubereiten. Job ist
       hoffnungsvoll: „Eine andere Jugendgruppe konnte inzwischen sogar in einen
       Fischteich investieren.“ Oft jedoch müssen sie das Geld auch dafür
       verwenden, ihre Freunde von der Polizei freizukaufen.
       
       ## Plastik im Gemüse
       
       Einmal zum Beispiel besuchte ein Polizist die Jugendlichen unter dem
       Vorwand, Gemüse zu kaufen, und nahm einen der Jugendlichen fest. „Solche
       Schikanen sind Alltag“, erklärt Job und deutet flussabwärts. „Letzte Woche
       haben sie das gesamte Gemüse der Jungs dort zerstört.“ Auch Sarah Wangari
       wurde von Polizisten bedroht, die ihr Haus nach Beweisen dafür
       durchsuchten, dass sie der Kopf hinter den zahlreichen Besetzungen sei.
       
       Nach einer regnerischen Nacht tritt der Fluss wieder über die Ufer. Während
       alle anderen, höher gelegenen Gärten verschont bleiben, verwüstet die Flut
       den Garten von Job und seinen Freunden. Das Wasser, beladen mit Müll und
       Unrat, verschlingt das Feld, auf dem sie gerade noch gearbeitet haben.
       
       Als der Regen schließlich aufhört, hängen Plastikfetzen in den
       Gemüsepflanzen. Die Gruppe sitzt schweigend auf einer Bank, die Füße im
       Schlamm, die Köpfe gesenkt. Einer von ihnen fehlt. „Er hat die Zerstörung
       gesehen und den Garten aufgegeben“, sagt Job schließlich leise. In seiner
       Frustration habe er ein Handy gestohlen und sei bei der Flucht von der
       Polizei erschossen worden.
       
       Eine nachhaltige Lösung für Hunger und Armut sind die Gärten hier direkt am
       Flussufer nicht. Aber sie können Job, Monicah und anderen
       Slumbewohner:innen helfen, sich Tag für Tag über Wasser zu halten.
       „Langfristig muss die Regierung dafür sorgen, dass wir jungen Menschen
       Arbeit finden. Und dass Maismehl und Öl wieder günstiger werden“, fordert
       Job. Bis dahin wird er mit seinen Freunden den Plastikmüll aufsammeln und
       den Garten wieder aufbauen – Setzling für Setzling.
       
       15 Mar 2025
       
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