# taz.de -- Unterwegs am Mittelmeer: Wie Europäer auch auf Reisen neue Grenzen ziehen
       
       > Unser Autor setzt ins mythisch aufgeladene Kreta über und wundert sich,
       > wie Arroganz alle Grenzen überschreitet.
       
 (IMG) Bild: Auch Blicke schaffen Grenzen
       
       Ich stehe auf dem Deck einer Fähre. Vor mir [1][schwarzes Nichts], hinter
       mir verglühen die Lichter Athens. Möwen folgen dem Schiff wie Geister einer
       anderen Zeit.
       
       Irgendwo hier wurde Europa vergewaltigt. Also dort, wohin Zeus die
       phönizische Königin Europa entführte: nach Kreta. Dorthin steuert auch die
       „Blue Galaxy“. Es ist ein bisschen umheimlich. Sie dringt immer weiter ins
       Nichts vor. Senior*innen trinken Bier und singen Lieder. Eine
       aussterbende Kunst. Dabei wurde Sein hier erfunden – die alten Griechen
       gaben so dem Wandel eine Form. Heute wird Wandel bekämpft – an Europas
       Grenzen.
       
       Gegen Mitternacht schlafen viele. Auch die Polizisten, die eben noch
       unnötig aggro filzten, sehen müde aus. Meine Chance. Ich gehe raus und
       rauche den Joint zu Ende. Das Weed kaufte ich am Vortag von einem Mann, der
       geflüchtet ist. Wir spielten uns Cloud Rap vor, sprachen über Politik. Er
       setzte sein Leben aufs Spiel, um herzukommen – ich buchte ein Ticket. Uns
       verbindet eine illegale Transaktion, kein Recht auf Bewegung. In Europa
       chillen die einen am Strand, andere ertrinken.
       
       Später im Hochbett. Die Männer in der Kabine schnarchen, als wären sie
       alleine. Europäische Körper tun so, als wären sie Inseln. Halten sich für
       die Geilsten, schotten sich ab; in Deutschland vor der „irregulären
       Migration“ – derzeit völlig überdramatisiert. Der [2][Dichter Glissant]
       erkannte darin den Kern westlichen Denkens: Es zieht Grenzen, auch zwischen
       Körpern – und nennt es Identität. Eine uralte Lüge, die bei Rechten wieder
       in ist.
       
       ## Lümmeln vor Frappés
       
       Um 6.11 Uhr verlasse ich das Schiff. Zusammen mit Hunderten Lkws. Dichte
       Dieselluft. Klimakrise in den Lungen. Ich gehe die Straße rauf – zu einem
       Café. Bauarbeiter lümmeln vor Frappés, ignorieren mein Nicken.
       
       Finden die mich lächerlich oder den hässlichen Rucksack? Warum ist mir das
       nicht scheißegal? Politik der Blicke: Ständig darüber nachdenken, was
       andere denken, und überall Zugang beanspruchen, ist das nicht auch
       europäisch?
       
       Auch Blicke schaffen Grenzen. Zu Hause in Neukölln scannen sie mich wie den
       QR-Code für ein Undergroundevent: welche Sneaker? Droppt er die richtigen
       Insta-Bekenntnisse? Dass ich weniger als Busfahrer*innen verdiene –
       egal. Hier bin ich Tourist, also Mittelklasse.
       
       Ich bin unter denen, die anderen Welten bauen, damit sie die eigene
       vergessen. Die arbeiten, damit andere reisen können. Und die Ruinen der
       Götter pflegen, die sich gegenseitig folterten. Europa ist ein
       Gewaltprojekt – und hält sich für zivilisiert.
       
       ## Thymian in der Luft
       
       [3][Als Tourist bin ich Teil dieses Systems.] Es predigt Freiheit, setzt
       andere fest. Doch ich sehe überall osmanische Minarette neben orthodoxen
       Kirchen – Zeichen des Austauschs, älter als jede Grenze.
       
       Tage später, auf einer Klippe. Thymian in der Luft, Sonne streichelt das
       Gesicht. Das Meer glitzert wie Ideen auf Gras. Ich denke an meinen Freund,
       die Bauarbeiter, die Fähre, das Nichts am Horizont. Getrennte Welten, die
       doch zusammenhängen.
       
       Glissant sprach vom archipelagischen statt kontinentalen Denken –
       Kontinente definieren sich über Grenzen, Archipele über ihre Verbindungen.
       
       Die EU war mal eine Vision – nicht ideal, aber mehr Archipel als inselhafte
       Nationen, wie sie Europas Rechte zurückwollen. Nicht alles bewegt sich
       frei.
       
       Cloud Rap und Weed schon, Menschen nicht. Vielleicht liegt Europas Zukunft
       in jeder Verbindung, die Grenzen überschreitet.
       
       19 Feb 2025
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Philipp Rhensius
       
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