# taz.de -- Lage der Alawiten in Syrien: Eine Stadt im Zwielicht
       
       > Im syrischen Küstenort Tartus leben viele Alawit*innen. Auch
       > Ex-Diktator Assad ist Alawit. Jetzt fürchten viele von ihnen Rache. Ein
       > Besuch.
       
 (IMG) Bild: Außen ruhig, innerlich aufgewühlt: Die Stimmung in der alawitisch geprägten Hafenstadt Tartus ist angespannt
       
       Es ist ruhig, so ruhig wie die Oberfläche des Meeres, das am Horizont
       hinter der Promenade schimmert. Warm wie die Sonne, die noch im Dezember
       bei Tageslicht die Haut umschmeichelt. Doch kleine Risse, winzige
       Kräuselungen, werden schnell sichtbar.
       
       In der Küstenstadt Tartus, knapp eine halbe Million Einwohner*innen, die
       meisten von ihnen Alawit*innen, ist die Promenade fast menschenleer. In
       den Cafés und Restaurants, die mit ihren glänzenden Neonschildern die
       Flaniermeile säumen, bleiben die meisten Tische unbesetzt. Die privaten
       Generatoren, die gegen die allgegenwärtige Dunkelheit des Himmels
       ankämpfen und die Lokale mit grellem Licht füllen, rotieren quasi umsonst.
       
       Ungewöhnlich sei das, sagen die Einheimischen in dem Touristenort. Selbst
       in der Nebensaison. Doch nicht so ungewöhnlich, wenn man die Ereignisse der
       letzten Tage bedenkt. Bis vor wenigen Wochen regierte in Syrien Baschar
       al-Assad, und zwar mit eiserner Faust: außergerichtliche Tötungen,
       Verschwindenlassen von Dissident*innen, Massenhinrichtungen und Folter
       werden ihm vorgeworfen. Assad gehört der Minderheit der Alawit*innen an,
       ebenso wie viele Militärangehörige und die regimetreuen Milizen, die für
       ihre Brutalität berüchtigt waren.
       
       Jetzt regiert in Syrien eine Übergangsregierung, die fast ausschließlich
       aus Funktionären aus Idlib besteht, der Hochburg der islamistischen
       Rebellengruppe HTS im Nordwesten des Landes. Bereits auf der Autobahn M 1
       nach Tartus treffen Reisende am einzigen übriggebliebenen Checkpoint auf
       einen bärtigen Mann in Tarnfleck mit Kalaschnikow in der Hand, der in den
       Bus steigt und die Ausweise kontrolliert. Freundlich ist er. „Ich mache es
       ganz kurz, nur die Männer“, sagt er lächelnd. Eine Anspielung auf die
       endlosen Kontrollen der Assad-Ära. Was er wohl meint: Wir sind anders. Dann
       winkt er den Bus durch.
       
       ## Freundlicher Typ mit Kalashnikow
       
       „Als ich in Damaskus war, habe ich die Stadt zunächst nicht wiedererkannt.
       Ich dachte, sie feiern die HTS, die uns nicht repräsentiert. Aber jetzt,
       hier in Tartus, erkenne ich alles wieder. Es ist meine Stadt“, sagt ein
       junger Mitreisender, der zum ersten Mal nach dem Machtwechsel in seine
       Heimatstadt zurückkehrt. Doch etwas ist anders in der kleinen Küstenstadt
       im Westen des Landes.
       
       Die berüchtigten Checkpoints, mit denen die Stadt gesäumt gewesen sei, wie
       die Einheimischen erzählen, sind weg. Stattdessen sitzen bärtige Kämpfer in
       Camouflage und mit Sturmgewehr in Jeeps an der Hauptstraße. Eine Gruppe
       steht auf einem Felsen vor dem Meer, in der brackigen Luft, einer nimmt das
       Gewehr in Anschlag, macht Anstalten, auf die ruhige Oberfläche zu schießen
       oder vielleicht auf die Schiffe in der Entfernung, dann legt er die Waffe
       wieder beiseite.
       
       Von der vorsichtigen, teils unbeschwerten, euphorischen Leichtigkeit, die
       in diesen Tagen in Damaskus herrscht, ist hier in Tartus kaum etwas zu
       spüren. Die Stadt ist für ihren Hafen bekannt. Hier hat die russische
       Marine seit 1971 einen Stützpunkt. Nach 2015 hat Russland dazu beigetragen,
       dass Assad mit an der Macht blieb.
       
       Nun zieht die ehemalige Schutzmacht ihre Kriegsschiffe ab, eine Auswertung
       von Satellitenbildern durch die BBC zeigt es, Insider bestätigen den Abzug.
       Militärisches Personal ist allerdings noch an der Basis stationiert – laut
       informierten Quellen soll es auch durchaus Kontakt zwischen ihnen und den
       neuen Machthabern geben, und offenbar ohne bisherige Zwischenfälle. Wie
       lange noch sie dort bleiben werden, ist unklar.
       
       ## Misstrauen gegen Alawiten
       
       Viele Alawit*innen sind besorgt. Nicht zuletzt, weil Israel Assads
       Militärbasen im ganzen Land bombardiert. Manch einer fürchtet sich nun vor
       einer israelischen Invasion. Und vor der willkürlichen Rache im eigenen
       Land.
       
       Alawit*innen sind eine religiöse Minderheit, die vorwiegend in Syrien
       lebt, mit kleineren Gruppen in der Türkei und dem Libanon. In Syrien machen
       sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Ihr Glaube hat sich aus dem
       schiitischen Zweig des Islam entwickelt, doch die Beziehung zu anderen
       muslimischen Gruppen, vor allem den Sunnit*innen, war in der Vergangenheit
       teils angespannt. Andere muslimische Gruppen betrachten sie oft als
       „Ungläubige“. Das Geheimnis um ihre Rituale trug zum Misstrauen bei.
       Alkohol etwa ist bei ihnen erlaubt, Weihnachten sowie das zoroastrische
       neue Jahr werden zelebriert.
       
       Im Jahr 1971 riss der Alawit Hafis al-Assad, Baschars Vater, die Macht an
       sich. Damit übernahm also eine Minderheit quasi die Kontrolle über die
       sunnitische Mehrheit. Alawit*innen bekamen leichter als andere Gruppen
       staatliche Stellen und stellten die Mehrheit im Militär. Massaker wie in
       Hama 1982, bei dem syrische Streitkräfte zwischen 10.000 und 40.000
       Einwohner*innen töteten, schürten Ressentiments gegen die Gruppe.
       
       Die jetzigen Machthaber*innen sind sunnitischen Glaubens, HTS hat ihre
       Herkunft in einer Terrorgruppe, die al-Qaida nahestand – wenn auch ihr
       Anführer, Ahmed al-Scharaa, sich in den letzten Jahren vom Dschihadismus
       distanziert hat und nun den Schutz aller Minderheiten propagiert.
       
       ## Che Guevara ohne Chancen
       
       „Woran erkennt man einen Alawiten auf der Straße? Er sieht traurig aus“,
       witzelt ein junger Mann auf den Straßen der Stadt. Sunnit*innen hingegen
       würden jetzt mit der Sonne um die Wette strahlen. Der junge Mann, wir
       werden ihn Ali nennen, stammt aus einer alawitischen Familie. Sein Vater
       war unter Hafis und dann Baschar al-Assad beim Militär, Luftwaffe. Der Sohn
       arbeitet jetzt für eine islamische Rebellengruppe, die mit der HTS
       sympathisiert. „Aber nicht als Soldat“, betont er mehrfach. Wo genau sie in
       der Region leben, sollen wir im Text lieber nicht verraten.
       
       Ali sitzt jetzt im Halbdunkel auf einem Sofa aus rotem Samt im Wohnzimmer,
       das Gesicht durch den grellen Bildschirm seines Smartphones grünlich
       beleuchtet. Nur zwei Stunden Strom pro Tag gibt es derzeit in der Region.
       Er trägt einen akkurat gestutzten Bart. „Ich wünsche, ich wäre Sunnit“,
       sagt er provokativ. „Denn das Regime nutzte die Alawit*innen zum Kämpfen
       aus. Sie haben viele Syrer*innen getötet.“
       
       Ali trinkt einen Schluck ungesüßten Kaffee und zündet sich eine Zigarette
       an. Erleichtert sei er, dass Assad weg ist. Doch auch traurig, dass jetzt
       „Hardliner“ an der Macht seien. Ali sagt, er sei erschrocken und fühle
       zugleich ein Gefühl von Macht: „Sie denken, ich sei einer von ihnen.“
       
       Seit Jahren in einer kommunistischen Organisation, hat Ali seine
       Kommiliton*innen in Sednaya und den anderen Gefängnissen Assads
       verschwinden sehen. Der Durst nach Rache an Assad sei stark gewesen. Er
       zieht den Pullover hoch und zeigt ein Che-Guevara-Tattoo, dann geht er in
       sein Zimmer und holt einen Sweater mit der Aufschrift „Anarchie“ aus dem
       Schrank. Ein eingerahmtes Bild von Che Guevara steht auf einem Regal, auf
       dem Bett daneben lag bis eben ein Maschinengewehr. Das seines Vaters aus
       der Militärzeit. „Er wollte es mir geben, aber ich lehnte ab“, sagt Ali. Er
       will nicht kämpfen. Lieber getötet werden als töten.
       
       ## Angst vor der Scharia
       
       Doch kommunistisches Gedankengut, Pazifismus, Trennung von Religion und
       Staat entsprechen nicht gerade der Ideologie der jetzigen Machthaber –
       selbst, wenn sie sich nun moderat geben. „Vielleicht hätte ich lieber
       neutral bleiben sollen“, sagt Ali nachdenklich. „Sie überzeugen die
       Menschen, dass sie moderat sind, aber ich denke nicht, dass es stimmt“,
       führt er fort. „Aber vielleicht irre ich mich.“
       
       Ali sieht mal nervös aus, ein wenig hektisch, dann wieder fröhlich, fast
       übermütig und kurz darauf wieder todernst. Alle, die ihn gefragt haben,
       habe er beruhigt: Alles werde gut sein, die Neuen seien Brüder. Doch es
       scheint, als sei er selbst nicht ganz überzeugt davon.
       
       Er fürchte sich vor einer Regierung, die islamisch geprägt sein könnte,
       sagt Ali, und in der Minderheiten keinen Platz haben. Er habe Angst vor
       einem Scharia-Gesetz. Vor einer Lage wie in Afghanistan, in dem sich die
       Machthaber zunächst gemäßigt zeigten, um dann wieder radikal-islamistische
       Politik zu betreiben. Vor einer weiteren Diktatur, nur unter anderer
       Flagge. Manche bei den Rebellen hätten noch alte „Al-Qaida-Ideen“.
       
       Ob Alis Sorgen gerechtfertigt sind, ist derzeit schwer zu sagen. Noch
       herrscht Ruhe an der Oberfläche. Bisher geben sich die neuen Machthaber
       äußerst konstruktiv: Bereits wenige Tage nach der Machtübernahme der HTS
       stand die neue Übergangsregierung fest, die bis März regieren soll. Die
       Minister sind größtenteils männliche Sunniten. HTS-Chef Ahmed al-Scharaa
       hatte am Sonntag in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Arabiya zudem
       Wahlen in Aussicht gestellt und angekündigt, die HTS in einem „nationalen
       Dialog“ auflösen zu wollen: Drei Jahre brauche man, um eine Verfassung zu
       erarbeiten, ein weiteres Jahr, um Wahlen zu organisieren.
       
       ## Treffpunkt für Interellektuelle
       
       Doch es gab auch bereits beunruhigende Nachrichten: Drei alawitische
       Richter sind in der Nähe der östlich von Tartus gelegenen Stadt Hama durch
       unbekannte Bewaffnete getötet worden. Das sorgte für Empörung unter der
       alawitischen Bevölkerung, obwohl noch unklar ist, aus welchen Gründen die
       Täter gehandelt haben. Ein Vorfall mit Alawiten, die offenbar aus einem Bus
       gezerrt und geschlagen wurden, war ebenfalls in den Medien. Die Täter
       sollen nicht dem HTS angehören.
       
       Ali ist nicht der einzige Alawit, der sich nun Sorgen macht. „Als ich von
       Assads Sturz erfahren habe, am Sonntagmorgen, habe ich zunächst eine
       Flasche Wein geöffnet und getrunken“, erzählt Maysa al-Khalil und lacht.
       Dann habe sie ihrem achtjährigen Sohn in einfachen Worten erklärt, was
       Assad getan hatte und was gerade passiert. Er habe nur gefragt, ob sie nun
       aufhören können, „Lang lebe Assad“ in der Schule aufzusagen.
       
       Maysa al-Khalil, 45 Jahre alt, leitet zusammen mit Ehemann Fadi Suleiman
       ein Café im Zentrum von Tartus. Al-Khalil, lockige, schwarze Haare und ein
       karierter Wollschal auf den Schultern gegen die Kälte, sitzt vor einem Glas
       Mate in ihrem Café. Neben ihr sitzt Suleiman, daneben Freunde des Paares.
       Alle wollen jetzt reden. Einige sind Intellektuelle, andere politische
       Aktivist*innen.
       
       Auf diesen Augenblick haben sie lange gewartet. Ein Traum war es, sagt
       Suleiman. In dem Café verneinen sie vehement, unter Assad freier gewesen zu
       sein als andere Ethnien. Nein, nein!, rufen sie alle im Einklang. „Wir
       hatten kein Recht auf Meinungsäußerung, noch weniger als andere.“
       
       ## Nur Schach, keine Revolution
       
       Man könnte denken, die Gemeinschaft nehme die Opferrolle ein, um sich zu
       schützen. Doch frühere Berichte zeigen, dass Dissens durch die
       Alawit*innen kaum toleriert wurde. „Ich war 38 Jahre lang gegen das
       Regime“, sagt der 57-jährige Suleiman, schlichte Brille, grauer Bart und
       glattes Haupt, mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wusste sehr wohl, was
       in den Gefängnissen passierte.“
       
       Sieben Menschen, darunter eine Frau, hätten vor Jahren mal im Café über
       Politik geredet und freitags an Protesten gegen Assad in Hama teilgenommen,
       erzählt er. Die Polizei sei gekommen und habe sie verhaftet. Alle seien
       gefoltert worden, hätten sie ihm später berichtet, unter anderem mit
       Elektroschocks.
       
       Das Café, so wünschen es sich die Betreiber, soll ein freier Raum sein.
       Jede Identität, jedes Gender erlaubt, eine „Zivilisierungsgemeinschaft“.
       Die Einrichtung besteht fast ausschließlich aus Holz. Handgemacht, sagt
       Suleiman. Bücher füllen die Regale, Kunstbilder hängen an der Wand,
       Handschriften zieren die Fenster. Nur Schach ist als Brettspiel erlaubt,
       nur Jazz, Flamenco und klassische Musik werden gespielt. Keine
       Revolutionslieder, sicher ist sicher.
       
       Jeden Tag komme jemand vom Geheimdienst vorbei. Die HTS formiert den
       Sicherheitsdienst gerade neu, die Spitzen wurden bereits durch treue eigene
       Gefolgsleute ausgetauscht. Der neue Geheimdienstchef, [1][Anas Chattab],
       arbeitete laut Medienberichten im Irak für den IS und steht auf der
       Terrorliste der USA. Doch jetzt haben sie keine Angst mehr. Nach mehr als
       30 Jahren Diktatur, was kann noch schlimmer werden?
       
       ## Frauenrechte in Gefahr
       
       Al-Khalil sagt, sie mache sich Sorgen wegen der künftigen Frauenpolitik.
       Das einzige weibliche Mitglied in der Übergangsregierung, [2][Aysha
       al-Dibs], hat bereits verlauten lassen, Frauen sollten nicht „die
       Prioritäten ihrer natürlichen, gottgegebenen Natur überschreiten“ und sich
       ihrer „erzieherischen Rolle in der Familie“ bewusst sein.
       
       Bislang, sagt Al-Khalil, sei zwar nichts Schlimmes passiert. Aber wenn,
       dann „werden wir eine neue Revolution organisieren“, gibt sie sich
       zuversichtlich. Draußen fährt ein Pickup mit Gasflaschen am Café vorbei,
       die Gäste stehen auf und rennen auf die Straße. „Sorry, aber es gibt kaum
       Gas“, murmelt ein Mann. Ein weiterer Riss in dem ruhigen Bild der kleinen
       Küstenstadt.
       
       In einem Wohngebäude im Zentrum der Stadt geht Asmaa, die in Wahrheit
       anders heißt, still und in der Dunkelheit die Treppen hinauf. Nur das Licht
       der Handylampe wirft seinen Strahl auf die vernachlässigten Mauern, den
       staubigen Boden.
       
       In der schlichten, doch liebevoll eingerichteten Wohnung zieht die Kälte
       durch die undichten Fenster, der Kühlschrank steht gefüllt in der Küche –
       doch eher als Dekoration denn als Kühlgerät. Der Strom, um ihn am Laufen zu
       halten, fehlt den größten Teil des Tages. Gas gibt es gar nicht. Auf dem
       Küchentisch steht ein kleiner Vierfuß aus Eisen, in der Mitte ein paar
       Holzplatten mit einem Loch für ein Feuer: eine Art Campingherd, den Asmaas
       Mann zum Kochen gebaut hat. Es liegt ein Geruch von verbranntem Holz in der
       Luft.
       
       ## Arm waren auch die Alawiten
       
       Asmaa, perfekt geschminkt und mit einem sanften Lächeln sagt, es sei eine
       Angst vor dem Ungewissen. Assad hatte sich schließlich Jahre lang als
       Beschützer der Minderheiten inszeniert. „Die HTS gibt Statements ab, aber
       das, was wir sehen, ist anders. Die Regierung besteht nur aus einer Gruppe,
       alle anderen sind marginalisiert. Führt dies zu einer islamischen
       Regierung?“
       
       Asmaa gehört eigentlich der oberen Mittelschicht an. Sie arbeitet in einer
       Bank, der Ehemann hatte eine staatliche Stelle. Doch ein guter Lohn in
       Syrien bedeutet nur etwa 25 US-Dollar im Monat, viele stocken durch
       Nebenjobs auf, um sich über Wasser zu halten. Oder sie leben von dem Geld,
       das nach Europa und in die Golfstaaten emigrierte Verwandte nach Hause
       schicken.
       
       Auch unter den Alawit*innen leben viele unter der Armutsschwelle.
       Traditionell arbeiteten sie als Landwirt*innen, Schäfer*innen. Nur einige
       hätten von Assads Regime profitiert, erzählen sie. Verlässliche Statistiken
       sind schwer zu finden, doch ein Blick in die Stadt, in der schicke Hotels
       neben maroden Wohnhäusern und aufgetürmten Müllsäcken existieren, ergibt
       ebenfalls ein Bild.
       
       Diese Armut, finden manche Alawit*innen, sei kein Zufall. Sie diente dem
       Regime, trieb die Männer in die Armee. Das findet auch der 26-jährige G. T.
       Der junge, schlaksige Mann in Sweater und Sportjacke war vier Jahre bei
       Assads Militär. Zuletzt, als das Regime fiel, in Deir ez-Zor im Osten des
       Landes. „Ich schäme mich ein wenig. Aber ich hatte Träume. Ich wollte Musik
       machen. Und Ausstattung ist teuer für uns.“
       
       ## Vom Haschdealer zum Soldaten
       
       Aus einer Familie stammend, die seine kreative Seite stets unterstützte und
       Wert auf Bildung legte, erzählt T. in makellosem Englisch von Kämpfen mit
       seinen Eltern, die über seine Berufswahl besorgt waren, die wollten, dass
       er Ingenieur werde und dann ins Ausland gehe. Dass er sich an der Uni
       immatrikuliert habe, nur um den Militärdienst zu umgehen. Doch dann fällt
       er durch die Prüfungen, der Wehrdienst droht. Zehn Monate lang versucht T.
       nicht aufzufallen, reist nicht, um nicht an den Checkpoints kontrolliert zu
       werden. Dann fing das mit den Drogen an.
       
       T. erzählt lang und detailreich. Syrien ist als Captagon-Land berüchtigt,
       mit dem [3][Schmuggel der Aufputschdroge] soll sich das Regime finanziert
       haben. „Ich mochte es nie. Aber ich begann mit Haschisch. Es nahm mich aus
       dieser Scheißrealität raus, in der ich lebte.“ Haschisch war günstig, T.
       wittert seine Chance, damit Geld zu verdienen. Und wird mit 20 Jahren zum
       Dealer. „Ich war meinem Traum so nah“, sagt er. Hunderttausend syrische
       Pfund pro Woche, umgerechnet etwa 7 US-Dollar, verdiente er. Doch dann wird
       er erwischt, jemand hat ihn verpetzt. Er wird verhört, mit Plastikrohren
       geschlagen.
       
       T. nimmt einen Zug von seiner Zigarette. „Ich war dumm“, sagt er jetzt.
       Dann bringt ihn die Polizei zur Militärbasis in Deir ez-Zor. Sechs Monate
       lang muss er sich einem harten Training unterziehen, wird nackt mit kaltem
       Wasser übergossen, gedemütigt. „Sie wollen dich brechen.“ Dann wird er auf
       der Basis stationiert. Ein Glück. Denn jetzt wird T. gut behandelt.
       
       „Ich hatte bessere Bedingungen als zu Hause. Ich habe mein Leben aufgebaut.
       Es war das Beste, was mir je passieren konnte.“ Es gibt Strom rund um die
       Uhr, T. schmuggelt einen Laptop rein. Außerhalb seiner Wachdienste arbeitet
       er an seiner Musik und testet über Proxy-Server, die seine Identität
       verschleiern, für US-amerikanische Unternehmen Webseiten auf
       Kundenfreundlichkeit. Er verdient gutes Geld, mehrere hundert Dollar pro
       Monat, lebt „sein bestes Leben“. Doch dann fällt Assad.
       
       ## Bedrängt in der Wüste
       
       „In unseren Köpfen war das Wort „Rebell“ mit Menschen verbunden, die dir
       die Kehle durchschneiden“, erinnert er sich. Wenige Stunden bevor [4][das
       Assad-Regime zusammenbricht, am 8. Dezember], telefoniert T. mit seiner
       Freundin in Homs: „Homs ist gefallen“, sagt sie. Die Soldaten in Deir
       ez-Zor beginnen einzupacken, machen sich für die Flucht bereit. Sie suchen
       nach Wagen, einige Generäle sind bereits geflohen. „Panik brach aus“,
       erinnert sich T. Menschen springen auf Lkws, um zu fliehen, alle sind dicht
       zusammengepfercht. Doch bald muss der Konvoi umkehren, die Straße ist
       gesperrt, sie werden eingeholt – von den Rebellen.
       
       Die Soldaten geben Gas, aber die Straße mitten in der Wüste ist eng. Die
       Wagen schwanken auf der Straße, Soldaten fallen aus den überfüllten
       Pickups. Die Rebellen schießen in die Luft, holen die Wagen ein, befehlen
       anzuhalten. „Alle hatten Angst. Sie stoppten fünf, sechs Wagen, und wir
       fuhren zurück nach Deir ez-Zor.“ T. sagt, einige Soldaten seien im Chaos
       überfahren worden. Manche würden heute noch vermisst. „Es war das erste
       Mal, dass ich so was in meinem ganzen Leben sehe.“ In der Wüstenstadt
       bleibt T. neun Tage. Dann, endlich, kehrt er auf Umwegen über den Norden
       des Landes nach Hause zurück.
       
       Seit zwei Tagen ist T. nun wieder hier in Tartus. Noch hat er seine
       Erlebnisse nicht ganz verarbeitet. T. zeigt ein Bild vom 8. Dezember von
       Soldaten in einem offenen Pickup, die trockene Fertignudeln aus der Packung
       essen. Er gestikuliert viel beim Erzählen. Jetzt will er als Rapper
       arbeiten, als Musikproduzent. Doch keine einzige Zeile hat er geschrieben,
       seit er zurück ist. „Ich muss es noch begreifen. Aber ich bin
       hoffnungsvoll.“
       
       Vor dem Regierungsgebäude in Tartus stehen jeden Tag dutzende Männer wie er
       Schlange, teilweise älter, ärmer. Sie waren Soldaten und wollen jetzt ihre
       Waffen abgeben, einen Ausweis für Zivilisten bekommen. Die
       Übergangsregierung hat dies angeboten, eine Versöhnungs- und Kontrollgeste.
       
       ## Vater-und-Sohn-Gespräche
       
       Ali ist inzwischen von seiner Schicht nach Hause zurückgekehrt. Sein Vater
       schaut gerade fern, in den Nachrichten laufen die Bilder aus dem
       [5][Foltergefängnis Sednaya]. Er verteidigt das Regime. „Schau auf Sednaya,
       was sie getan haben!“, sagt der Sohn. Der ältere Mann mit grauem
       Schnurrbart blickt mürrisch und schüttelt den Kopf.
       
       Der Vater widerspricht dem Sohn: „Wir gingen nicht zur Armee, um Menschen
       zu töten. Wir taten es, um uns und unsere Familien zu verteidigen. Wir
       kämpften gegen Israel, nicht gegen das syrische Volk.“ Der Sohn erwidert:
       „Wir sind im Namen Alawit*innen, aber vor allem eines: Syrer*innen.“ Der
       Vater, mit einem Schmunzeln: „Mein Sohn ist Sunnit geworden.“
       
       Er steht auf und holt ein Buch über die Geschichte des Militärs aus einem
       Regal, auf der Rückseite lächelt Hafis al-Assad. Der Vater betont, er sei
       mehrere Jahre vor dem Krieg in Rente gegangen. Damit habe er nichts zu tun
       gehabt. „Assad ist jetzt weg“, antwortet er auf die Frage, was er von ihm
       hielt. Das Buch verschwindet wieder schnell in die hinteren Reihe des
       Regals.
       
       Vater und Sohn reden über die Sorge, dass Angehörige von im Kampf getöteten
       Soldaten ihre Renten und Jobs verlieren könnten, womöglich ohne eine
       Entschädigung zu erhalten. Sohn: „Hattest du Mitleid mit den [6][Menschen
       in Idlib], als sie bombardiert wurden?“ Vater: „Hatten sie Mitleid mit uns?
       Meinen Cousin habe ich in Stücken zurückbekommen.“ Sohn: „Wer hat es
       getan?“ Vater: „Der IS.“ Sohn: „Die HTS-Rebellen haben nichts mit dem IS zu
       tun.“
       
       Plötzlich ist der Strom weg, die Geräte hören auf zu surren. Die Debatte
       ist zu Ende. Vater: „Was hat sich jetzt mit der Revolution geändert? Wir
       haben immer noch keinen Strom, es gibt keine Medikamente.“ Und auf die
       Frage, ob dieses Gezänk bei jedem Familientreffen stattfinde, seufzt der
       ältere Mann: „Jedes Mal.“
       
       2 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://en.wikipedia.org/wiki/Anas_Khattab
 (DIR) [2] https://syrianobserver.com/society/controversy-after-aisha-al-dibs-statements-on-role-of-syrian-women.html
 (DIR) [3] /Drogenschmuggel-aus-Syrien/!6003212
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