# taz.de -- Demonstration in Damaskus: Zwischen Bewaffneten nach Freiheit rufend
       
       > Nach über 50 Jahren genießen viele Menschen in Syrien die Freiheit, zu
       > demonstrieren. Und nutzen ihr Recht: Für einen säkularen Staat, für
       > Pluralismus.
       
 (IMG) Bild: Damaskus, Syrien, 19. Dezember: auf dem Umayyad-Platz demonstrieren Menschen für die Freiheit der Frauen und die Inklusion
       
       Damaskus taz | Ein Mann mit Luftballons läuft auf dem Gehweg neben einer
       matschigen Wiese hin und her. Nicht weit entfernt haben Jugendliche, noch
       im Teenager-Alter, einen Stand mit schwarz-weiß-grünen Flaggen aufgebaut.
       Kinder drängen sich mit Kartons durch die Menge, verkaufen abgepackte
       Süßgebäcke für 4.000 syrische Pfund, etwa 30 Cents pro Stück. Fast könnte
       man an einen Rummel denken, wären da nicht die Milizionäre in
       Militärtarnung mit den AK-47 um die Schultern, die die Menge beobachten.
       Und die Menschen – vor allem junge Frauen und Männer –, die vor dem
       Opernhaus in Damaskus mit handgemalten Protestschildern in den Händen
       stehen.
       
       Es ist Donnerstag, elf Tage nach dem [1][Sturz des syrischen Ex-Diktators
       Baschar al-Assad]. Und die Menschen in der syrischen Hauptstadt tun etwas,
       das sie sich in den letzten zwölf Jahren kaum getraut haben: Sie
       protestieren. Für ein „ziviles, freies Syrien“, wie sie schreien und
       singen. Es sind nur einige Hunderte, sie haben kaum Lautsprecher,
       verglichen mit anderen Protesten sind sie leise, fast ein Flüstern.
       
       „Ich bin heute hier, um meine Meinung zu sagen: Darüber, was wir für unser
       Land wollen. Weil unser Präsident uns nie die Gelegenheit dazu gab. Jetzt
       wollen wir uns ausdrücken, auf eine sehr freie Art: Wir wollen keine
       islamische Gesellschaft“, sagt Mary Toumah, eine 39-jährige Demonstrantin
       mit pinkem Kopftuch und Brille. „Wir wollen eine freie und gebildete
       Gesellschaft. Wir wollen Gleichberechtigung.“ Eine 26-jährige Filmstudentin
       mit halbzusammengebundenen Haaren, übergroßem Pullover und weißgeränderter
       Sonnenbrille fügt hinzu: „Wir wollen keine Einmischung von Islam in Kunst
       und Leben. Oder in die Kunsteinrichtungen. Wir wollen ein freies Syrien!“
       
       Viele bei diesem Protest am späten Donnerstag sind jung, Student*innen,
       Lehrer*innen, viele Frauen. Sie schreien „Unser Land ist für uns alle“,
       recken Schildern in die Luft, darauf zu lesen: „Ich werde dir nicht
       erlauben, ‚das biologische Wesen‘ zu sagen“. Das ist eine Anspielung auf
       das Interview des neuen Regierungssprechers Obaida Arnaout, in dem er von
       einer „biologischen Natur“ der Frau sprach, die sie für gewisse Rollen
       weniger fähig mache als Männer – etwa als Verteidigungsministerin.
       
       ## Patroullierende HTS-Kämfper sind um Entspannung bemüht
       
       Es ist eine Kritik an den jetzigen, neuen Machthabern und ihrer
       ideologische Einstellung. Nicht direkt, doch deutlich. So wie es in jeder
       Demokratie erlaubt sein sollte. Viele, die auf dem Platz im Zentrum der
       syrischen Hauptstadt jetzt stehen, sehen jedoch noch etwas zögerlich aus.
       Fast ungläubig, ob dies nun wirklich toleriert wird. Einige tragen
       Gesichtsmasken. „Ich will nur schauen“, sagt etwa eine 40-jährige Frau
       namens Nissreen. „Ich will sehen, was das Ziel dieser Gruppe ist und wie
       diese Jungs reagieren werde. Es gab so viele Gerüchte, dass es Angriffe
       geben werde. Aber persönlich fühle ich mich sicher, weil sie hier sind.“
       
       Die Jungs, die sie meint: Um die Menschenmenge herum stehen bewaffnete
       Männer mit Kalaschnikows, manche schlendern durch die Demonstrierenden. Sie
       tragen Ärmelabzeichen mit Symbolen von [2][Hay'at Tahrir asch-Scham (HTS),
       der islamistischen Gruppe, die Anfang Dezember in einer Blitzaktion die
       Macht in Syrien übernahm]. Manche tragen auch einen Aufnäher mit der
       Schrift der Shahada, des islamischen Bekenntnisses.
       
       Doch sie zeigen sich äußerst freundlich, sichtlich um Entspannung bemüht,
       machen Selfies mit Kindern, die neugierig herumrennen, lassen ihnen die
       Waffen anfassen, beantworten die Fragen der Journalist*innen. „Sie sind
       frei zu tun, was auch immer sie wollen“, sagt etwa ein junger Kämpfer und
       bezieht sich auf die Versammelten. „Wir sind stolz, Muslime zu sein und als
       solche zu leben. Aber sie sind frei zu tun, was sie wollen.“ Er trägt einen
       Tarnanzug, Sturmhaube und Mütze, das Gewehr hinter dem Rücken, nur die
       braunen Augen sichtbar. So wie viele andere seiner Kollegen sieht er sehr
       jung aus. Einer ist gerade 18 Jahre alt. Alle, die man fragt, kommen aus
       Idlib. Der nördlichen Provinz, in der Tahrir al-Scham jahrelang regiert
       hat. „Wir sind offen für alles. Das Land ist für alle“, sagt einer von
       ihnen.
       
       Die Angst nach der Repression durch das Regime Assads, die auf den
       arabischen Frühling 2011 folgte, ist jedoch bei manchen noch da. Die
       Menschen fürchten sich vor den Waffen. Weil sie oft beschossen wurde,
       erläutert Nissreen. Sie habe Freunde an Folter verloren. Doch jetzt müssen
       alle ideologischen, ethnischen, religiösen Gruppen friedlich zusammenleben,
       um weitere Gewalt zu verhindern. Keine leichte Aufgabe, doch eine
       notwendige. „Es ist hart“, bestätigt sie. „Ich werde friedlich
       koexistieren, aber nicht vergessen.“
       
       ## Zum ersten Mal seit 54 Jahren ein freier Protest
       
       Einer der Protestorganisatoren erklärt auf Nachfrage, dies sei kein
       Protest, sondern eher ein Zusammentreffen von Syrer*innen, die in einem
       zivilen Staat leben wollen – einem Syrien für alle. Hindernisse oder
       Probleme hätte es nicht gegeben. „Es war erstaunlich leicht. Es ist das
       erste Mal in 54 Jahren, dass wir frei auf die Straße gehen dürfen und
       unserer Meinung kundtun können.“
       
       Syrien-Experte André Bank vom GIGA-Institut in Hamburg wertet dies erstmal
       als positives Zeichen. Es sei wichtig, dass die Syrer*innen ihre Wünsche
       offen artikulieren können und die neuen Machthaber dies akzeptieren. In
       Idlib, wo HTS seit 2017 regiert, seien Proteste möglich – wenn auch die
       Gruppe gegen Kritiker*innen aus den eigenen Reihen „massiv repressiv“
       vorgegangen sei. „Ob sich die HTS nachhaltig gemäßigt verhält, hängt davon
       ab, inwiefern ihr aktuell dominanter Status in der Übergangsregierung
       herausgefordert wird“, sagt Bank. Und vom Erfolg des jetzigen
       Reformprozesses. Bedenklich fand Bank hingegen die Aussagen von
       Regierungssprecher Arnaout: „Sie zeigen, wie patriarchal und konservativ
       die HTS noch ist“.
       
       Die jungen und weniger jungen Demonstrant*innen machen an diesem
       Donnerstag indes klar, dass sie kein [3][Patriarchat] und keine
       religiös-konservative Gesellschaft oder Staatsform akzeptieren wollen.
       Gerade haben sie angefangen, ihren Wunsch nach einer freien,
       pluralistischen Gesellschaft zu äußern. Und damit wollen sie nun nicht
       wieder aufhören.
       
       20 Dec 2024
       
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