# taz.de -- Wissenschaftsjournalistin über Flora: „Pflanzen nehmen fein wahr“
       
       > Tiere sind fühlende Wesen, so weit sind wir heute. Aber muss man Mitleid
       > mit Pflanzen haben? Ein Gespräch über Schmerz und Kommunikation der
       > Flora.
       
 (IMG) Bild: Pflanzen reagieren auf Licht, Geräusche, Gerüche, Feuchtigkeit, Berührung und Gravitation und passen sich auf kreative Art und Weise an, Regenwald in Chile
       
       taz: Frau Schlanger, was können Pflanzen fühlen? 
       
       Zoë Schlanger: Pflanzen nehmen ihre Umwelt unglaublich fein wahr. Sie
       haben keine Nerven wie Menschen oder Tiere, aber sie reagieren auf Licht,
       Geräusche, Gerüche, Feuchtigkeit, Berührung und Gravitation und passen sich
       auf kreative Art und Weise an. Ob das nun heißt, dass sie fühlen … nun,
       genau dieser Frage bin ich nachgegangen.
       
       taz: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich entlang dieser Frage ein
       „Krieg“ in der Botanik entfacht hat. Wer kämpft hier gegen wen? 
       
       Schlanger: Der Streit entzündet sich vor allem an zwei Worten:
       [1][Intelligenz und Bewusstsein]. Naturwissenschaftler mögen schwammige
       Worte nicht. Aber Bewusstsein und Intelligenz sind genau die Art von
       Wörtern, bei denen es uns selbst bei Menschen schwerfällt, genau zu
       definieren, was sie bedeuten. Das eine Lager in der Botanik will
       verhindern, dass wir diese Komplexität in die Pflanzenwelt tragen.
       
       taz: Das klingt vernünftig. Warum wollen andere Wissenschaftler:innen
       denn überhaupt von Intelligenz und Bewusstsein sprechen? 
       
       Schlanger: Die andere Seite argumentiert, es sei endlich an der Zeit,
       unsere Definitionen von Bewusstsein und Intelligenz zu erweitern. Pflanzen
       interagieren auf eine sehr aktive, spontane und kluge Weise mit ihrer
       Umwelt. Wenn man das nicht Intelligenz nennen dürfe, dann sei das ein
       Problem unserer westlichen, menschenzentrierten Definition von
       Intelligenz.
       
       taz: Die Debatte ist mittlerweile so rau geworden, dass Sie bei der
       Recherche auf Wissenschaftler gestoßen sind, die Angst hatten, mit Ihnen
       über das Thema zu sprechen. Woher kommt diese Angst? 
       
       Schlanger: Es ist nicht das erste Mal, dass die Pflanzenverhaltensforschung
       mit dieser Art von Kontroverse konfrontiert wird. 1973 erschien das Buch
       „Das geheime Leben der Pflanzen“. Ein weltweiter Bestseller. Für den Film
       schrieb Stevie Wonder den Soundtrack. Das Buch und der Film waren voller
       unwissenschaftlicher Ideen, zum Beispiel, dass Pflanzen lieber klassische
       Musik als Rockmusik hören und dass sie möglicherweise Gedanken lesen
       können. Auch heute noch glauben Leute an diese Dinge. Dieses Buch hat die
       Finanzierung von der [2][Erforschung von Pflanzenverhalten] um Jahre
       zurückgeworfen, einfach weil es so peinlich und falsch war.
       
       taz: In Deutschland hat der Förster Peter Wohlleben ein Buch mit einem
       erstaunlich ähnlichen Titel geschrieben: „Das geheime Leben der Bäume“.
       Wohlleben beschreibt Wälder darin als eine Gemeinschaft kooperierender
       Lebewesen, in der Mutterbäume ihren eigenen Nachwuchs durch unterirdische
       [3][Pilznetzwerke] nähren. Kürzlich haben 30 Wissenschaftler eine Arbeit
       veröffentlicht, in der sie Wohlleben unwissenschaftlichen
       „Anthropomorphismus“, also Vermenschlichung, von Bäumen vorwerfen. Sie
       haben mit beiden Seiten gesprochen: Ist es wirklich gefährlich, Pflanzen
       und Bäumen menschliche Eigenschaften zuzuschreiben? 
       
       Schlanger: In der Wissenschaft gibt es die starke Vorstellung, dass jede
       Vermenschlichung von anderen Lebewesen schlecht ist. Sie entspringt dem
       Glauben, dass die Öffentlichkeit nicht in der Lage ist, komplexe Wahrheiten
       zu verstehen. Natürlich sind andere Lebewesen nicht genauso wie wir. Unsere
       menschlichen Vorurteile können uns dazu verleiten, falsche Annahmen über
       sie zu treffen, wenn wir nicht aufpassen. Wir wissen, dass Pflanzen Sinne
       haben, dass sie wahrnehmen, dass sie defensiv auf Angriffe reagieren. Aber
       bedeutet das, dass sie Schmerzen empfinden? Darauf deutet noch nichts hin.
       
       taz: Das heißt, wir sollten Pflanzen besser nicht vermenschlichen? 
       
       Schlanger: Nicht ganz. Es gibt auch menschliche Metaphern, die ich nützlich
       finde. Zum Beispiel bei der Akustik. Die Schallwellen, die wir als Klang
       hören, nehmen Pflanzen als Schwingungen wahr. Sie haben zwar kein Gehirn,
       um sie als Klang wahrzunehmen, aber sie verarbeiten die in den Vibrationen
       enthaltenen Informationen. Für diesen Prozess das Wort „hören“ zu
       verwenden, geht für mich in Ordnung. Es ist eine Metapher, eine Brücke für
       unsere menschliche Perspektive. Es hilft uns, ein Gefühl dafür zu bekommen,
       was die Pflanze tut.
       
       taz: Unter Menschen herrscht ein starker Glaube an unsere Einzigartigkeit.
       Sind Pflanzen uns ähnlicher, als wir glauben? 
       
       Schlanger: Wenn man sich genauer anschaut, wie Pflanzen kommunizieren, wie
       sie ihre genetischen Geschwister erkennen können oder sich mit Hilfe
       ausgeklüngelter Strategien gegen Schädlinge verteidigen, dann sieht man,
       wie sie sich genau wie alle anderen Organismen, über Jahrtausende
       entwickelt haben, um zu überleben und zu gedeihen. Diese Erkenntnis hat
       mich demütig gemacht. Ich hatte das Gefühl, mich in einer Art
       Lebensgeflecht neu zu positionieren und diese Vorstellung von einer Art
       Hierarchie mit uns selbst an der Spitze hinter mir zu lassen.
       
       taz: Sie haben Labore, Höhlen und Regenwälder rund um den Globus bereist.
       Welche Erfahrung hat Sie am meisten beeindruckt? 
       
       Schlanger: Eine Recherchereise in den Süden von Chile. Dort war ich mit dem
       Botaniker Ernesto Gianoli unterwegs und wir haben die Rebe Boquila
       trifoliolata untersucht, eine sehr einfach aussehende, kleine,
       dreiblättrige Pflanze. Vor einigen Jahren hatte Gianoli entdeckt, dass die
       Rebe ihre gesamte Blattstruktur so verändern kann, dass sie so aussieht wie
       fast jede andere Pflanze, die neben ihr wächst.
       
       taz: Also fast wie ein Chamäleon? 
       
       Schlanger: Ja, genau! Sie passt ihre Blätter so an, dass sie aussehen wie
       die Blätter in ihrer Umgebung. Andere Fälle von Nachahmung bei Pflanzen
       wurden schon früher dokumentiert, aber dabei handelte es sich meist um
       lange Prozesse, bei denen es eine evolutionäre Co-Entwicklung zwischen zwei
       Spezies gab. Die Boquila trifoliolata scheint aber alles nachzuahmen, was
       in ihrer Nähe ist. Eine einzelne Pflanze kann bis zu vier verschiedene
       Blätterarten gleichzeitig imitieren.
       
       taz: Was genau haben Sie denn beobachten können, als Sie im chilenischen
       Regenwald vor der Boquila trifoliolata standen? 
       
       Schlanger: Ich konnte sehen, wie eine Pflanze, deren Blätter normalerweise
       so groß sind wie eine 1-Euro-Münze, in der Lage war, mehrmals so große
       Blätter auszubilden. Manche der Blätter waren nun länglich statt rund. In
       anderen Fällen wuchs eine Spitze, die der Spitze eines Blattes einer
       anderen Pflanze entsprach. Die Boquila trifoliolata ahmte Blatttextur,
       Farbe und Adermuster nach. Die Debatte darüber, wie sie das macht, ist in
       vollem Gange. Manche Botaniker:innen gehen gar der These nach, dass
       die Pflanze „sehen“ könnte.
       
       taz: In einem Labor haben Sie eine Pflanze mit einer Pinzette gekniffen, um
       unterm Mikroskop zu sehen, wie sie das beeinflusst. Hat es sich so
       angefühlt, als würden Sie die Pflanze verletzen? 
       
       Schlanger: Ja und nein. In diesem Labor in Wisconsin werden pflanzliche
       Verletzungsreaktionen untersucht. Dafür werden fluoreszierenden Proteine in
       Pflanzen eingebracht, die als Reaktion auf Berührung aufleuchten. Ich saß
       also in diesem dunklen Mikroskopraum und habe mit einer Pinzette die
       Mittelader des Blattes gekniffen, und nachdem ich schon so viel über die
       sensorischen Fähigkeiten von Pflanzen berichtet hatte, hat mich das
       ziemlich viel Überwindung gekostet. Aber dann habe ich daran gedacht, wie
       ich vor ein paar Minuten einen Salat gegessen habe – und zugekniffen. Zu
       sehen, wie von der Stelle dieses Leuchten ausging, das Venensystem
       hinunter, bis sich das Signal meiner Berührung innerhalb von zwei Minuten
       über die gesamte Pflanze ausgebreitet hatte, hat mir gezeigt, wie
       unglaublich empfindlich Pflanzen auf verletzende Berührungen oder eben auch
       das Knabbern einer Raupe reagieren.
       
       taz: Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt? 
       
       Schlanger: Kurz habe ich mich schlecht gefühlt. Aber Pflanzen haben keine
       Neuronen, keine Schmerzrezeptoren. Was ich gesehen habe, ist eine komplexe
       Kaskade von Signalen, die eine Abwehrreaktion fördert. Weil Pflanzen kein
       Gehirn haben, ist immer noch sehr mysteriös, wie dieses Signal dann eine
       Reaktion im gesamten Körper der Pflanze auslöst.
       
       taz: Hat Ihre Forschung verändert, wie Sie sich ernähren? 
       
       Schlanger: Nein, nicht wirklich. Wir sind Tiere, die Pflanzen essen müssen.
       Pflanzen stellen jedes Zuckermolekül her, das wir jemals zu uns genommen
       haben. Ohne die kostbare Glukose, die Pflanzen aus Sonnenlicht, Wasser und
       Luft für uns synthetisieren, könnten wir nicht überleben. Aber die Arbeit
       an meinem Buch hat meine moralische Einstellung zu Pflanzen verändert.
       
       taz: Was meinen Sie damit? 
       
       Schlanger: Nehmen wir das Beispiel Abholzung. Ein Aspekt davon ist, dass
       Bäume Kohlenstoff binden, was sehr nützlich ist, um unser Klima unter
       Kontrolle zu halten. Aber jetzt sehe ich die [4][Abholzung des Regenwaldes]
       nicht mehr nur als Klimaproblem, sondern auch als ein moralisches Problem.
       Das Leben der Bäume zu beenden, obwohl es Alternativen gäbe, fühlt sich für
       mich an, als würden wir ihren Lebenswillen missachten.
       
       taz: Aus ähnlichen Tierschutzgründen sind in den letzten Jahren viele
       Menschen Vegetarier oder Veganer geworden. Aber ist es bei Pflanzen nicht
       ganz anders? Schließlich können wir, ohne sie zu essen, nicht überleben. 
       
       Schlanger: Es ist eine Balance. Einerseits brauchen wir Pflanzen zum Essen,
       um unsere Kleidung herzustellen, um unsere Häuser zu bauen. Aber für mich
       gibt es einen Unterschied, ob wir auf respektvolle, zurückhaltende und auf
       Gegenseitigkeit beruhende Art und Weise mit der Pflanzenwelt interagieren.
       Oder ob wir Pflanzen hauptsächlich als Ressourcen betrachten, die es
       auszubeuten gilt. Wenn man sich auf die unglaublich kreativen, präzisen und
       spontanen Dinge einlässt, die Pflanzen jeden Tag tun, wird es schwieriger,
       sie nur als Objekte zu sehen. Die Interaktion mit Pflanzen dagegen als eine
       Interaktion mit Subjekten zu verstehen, ist eine sehr alte Idee, die ihren
       Ursprung in vielen indigenen Philosophien hat.
       
       taz: Heute erleben indigene Denkweisen eine Renaissance, dabei haben
       europäische Nationen indigene Völker jahrhundertelang ausgelöscht,
       kolonisiert und verfolgt. Woher kommt dieser Sinneswandel? 
       
       Schlanger: Wir im globalen Norden schauen durch die Brille der westlichen
       Wissenschaft auf die Welt. Wir entscheiden mit ihrer Hilfe was wahr ist und
       was unwahr. Jetzt befinden wir uns an dem interessanten Punkt, an dem
       unsere Version der Wissenschaft einige der grundlegenden Annahmen der
       indigenen Wissenschaft und der indigenen Kosmologie bestätigt.
       Einschließlich der [5][Idee, dass Pflanzen potenziell intelligente Subjekte
       sind]. Mich erinnert das daran, dass sich unsere Werte und Perspektiven
       immer weiterentwickeln, so wie sie es auch in der Vergangenheit schon getan
       haben.
       
       taz: Haben Sie ein bestimmtes Beispiel im Kopf? 
       
       Schlanger: Nehmen Sie Hunde. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren
       Vivisektionen, also Operationen ohne Betäubung am lebenden Hund an den
       medizinischen Fakultäten gängige Praxis. Wissenschaftler:innen dachten
       einfach, dass Hunde keine Schmerzen empfinden können.
       
       taz: Wow. 
       
       Schlanger: Es gab ein starkes Gefühl, dass Hunde nur komplexe Maschinen
       seien und dass jede Art von Reaktion, sagen wir ein Bellen, nur ein Reflex
       sei und kein echter Ausdruck von Schmerz. Nur Menschen hätten die Fähigkeit
       für diese höheren Empfindungen.
       
       taz: Wie kamen wir dann zu der Erkenntnis, dass Hunde auch Schmerz
       empfinden? 
       
       Schlanger: Die Wissenschaft verabschiedete sich von Vivisektionen und
       erließ strengere Vorschriften für Tierversuche. Aber nicht wegen neuer
       wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern weil Tierschützer unsere
       gesellschaftliche Sicht auf das Thema verändert haben. Vivisektionen wurden
       geächtet. Die westliche Wissenschaft hat klare Stärken, aber sie ist kein
       allmächtiges Erkenntnisinstrument. Im Umgang mit der Subjektivität lebender
       Organismen ist es oft nicht die Wissenschaft, sondern die Kultur, die uns
       den Anstoß gibt, sie neu zu denken.
       
       taz: Wenn wir die Idee der pflanzlichen Subjektivität ernst nehmen würden,
       wie würde das unsere Gesellschaften verändern? 
       
       Schlanger: Es könnte vieles verändern, beispielsweise im Recht. Bereits
       jetzt forschen und [6][klagen viele Jurist:innen] zu der Frage, ob
       Pflanzen und andere Akteure des Ökosystems nicht auch als juristische
       Personen angesehen werden sollten. Schiffe und Unternehmen haben dieses
       Recht vor Gericht schon lange. [7][Warum also nicht ein Wald oder ein
       Fluss?]
       
       taz: Was wären denn die konkreten Auswirkungen einer solchen Veränderung? 
       
       Schlanger: Einen [8][Mangrovenwald] zu vernichten, um ein Küstenhotel zu
       errichten, könnte schwieriger werden. Gleichzeitig warne ich davor, zu viel
       von einem solchen Recht zu erwarten. Die Tierrechtsbewegung ist seit
       Jahrhunderten aktiv und Wissenschaftler:innen haben in Hunderten
       Studien die Intelligenz und exquisiten Fähigkeiten von Tieren, ihre Welt
       wahrzunehmen, dokumentiert. Aber die Ausbeutung der Tiere geht weiter. Es
       ist ein langer Weg. Aber Respekt ist keine endliche Ressource.
       
       taz: Nachdem Sie jahrelang zu Pflanzen geforscht und ein Buch dazu
       veröffentlicht haben, berichten Sie nun wieder über den Klimawandel. Hat
       das Schreiben Ihres Buches Ihren Klimajournalismus verändert? 
       
       Schlanger: Auf jeden Fall. Ich fühle die materielle Realität, die wir zu
       verlieren haben, viel direkter. Jede Pflanze ist die letzte in ihrer Linie,
       das Ergebnis von Millionen von Jahren Evolution und biologischer
       Kreativität. Es ist eine großen Schande, auch nur eine einzige von ihnen zu
       verlieren.
       
       29 Sep 2024
       
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