# taz.de -- Frauen in Rente: Alte Frau, was nun?
       
       > Unsere Autorin bekommt seit Kurzem Rente und ist damit offiziell alt. Wie
       > lässt sich auch dieser Lebensabschnitt schön gestalten?
       
 (IMG) Bild: Unsere Autorin im Angesicht des eintretenden Rentenalters
       
       Das Telefon klingelt. Ein Blick auf das Display. Endlich der Anruf, auf den
       ich seit Tagen gewartet habe. Hastig setze ich das Headset auf, ich höre
       eine Frauenstimme. „Guten Tag, Hoger mein Name.“ Irgendwo in
       Norddeutschland sitzt Frau Hoger im Homeoffice und sieht auf ihrem
       Bildschirm einen dürren Lebenslauf von mir, meine Erwerbsbiografie. „Sie
       beantragen eine Rente? Eine volle Altersrente?“ Volle Altersrente – diesen
       Begriff habe ich noch nicht gehört, aber ja, das ist es, was jetzt ansteht
       und was ich will.
       
       Zeile um Zeile sieht Frau Hoger als Beraterin der Deutschen
       Rentenversicherung auf den beiden Seiten meines Versicherungsverlaufs, wann
       ich gejobbt und studiert habe, ins Berufsleben eingestiegen bin und
       gearbeitet und wie viel oder wenig ich verdient habe. Davon hängt die Höhe
       meiner Rente im Wesentlichen ab. Aber Rente bekommt man nicht automatisch,
       ich muss sie im Voraus beantragen.
       
       Es ist Mitte März und seit Tagen mühe ich mich damit ab, den Antrag im Netz
       zu stellen, mit Beitrags-, Beschäftigungs- und Anrechnungszeiten und einer
       komplizierten Zwei-Faktor-Authentisierung, die nicht funktioniert;
       vermutlich, weil mein Handy dafür zu alt ist. „Ich mach das für Sie“, sagt
       Frau Hoger, „Ihren Rentenantrag schicke ich jetzt gleich ab.“ Ich atme auf.
       „Ende Juni kommt dann die erste Rentenzahlung.“ Zum Abschied wünscht sie:
       „Schönes Wochenende, machen Sie’s gut!“
       
       Ein schöner Wunsch – aber wie mache ich das, wie mache ich’s gut? Ende Mai
       bin ich 66 Jahre alt geworden. Und damit, weil 1958 geboren, ins
       Rentenalter eingetreten.
       
       Ren-ten-al-ter – ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. Dabei
       kommen in mir innere Bilder und Assoziationen hoch von Frauen, die morgens
       schon auf Parkbänken sitzen und laut, weil schwerhörig, über Krankheiten
       sprechen. Oder im Café sitzen, ihren Becher Kaffee in beiden Händen halten,
       sich zulächeln und sich über die ach so lebhaften Enkel und die Vorzüge des
       Reisens mit dem Wohnmobil unterhalten.
       
       ## Werde ich auch so eine alte Frau?
       
       Werde ich mit dem Empfang der vol-len Al-ters-ren-te auch so eine alte
       Frau? Oder tauchen diese Bilder in mir auf, weil sie mir kurzfristig
       psychische Entlastung gewähren? Denn von solchen Vorstellungen kann ich
       mich schnell distanzieren. Nein, so nicht, ich doch nicht, spricht es dann
       in mir. Aber die Beruhigung verfliegt schnell. Was weiß ich denn schon?
       Vielleicht sind die alten Frauen auf den Parkbänken und in den Cafés viel
       besser drauf als ich. Ich bin unsicher, was mit dem
       Ren-ten-ein-tritts-al-ter auf mich zukommt. Wenn die Altersrente da ist,
       kann ich mir nicht mehr selbst in die Tasche lügen. Jetzt ist klar: Ich
       gehöre zu den Alten.
       
       Wie kann ich gut alt sein und wie gut noch älter werden? Nach dem Familien-
       und Berufsleben geht es jetzt darum, einen neuen Lebensabschnitt zu
       erkunden und ihn erfüllt zu gestalten. Und das angesichts der
       Unwägbarkeiten, die das Alter in sich birgt, angesichts der Verluste, die
       kommen werden. Da ist es gut für mich zu wissen: Ich bin nicht alleine alt,
       da sind Freundinnen und noch viele Frauen mehr. In Deutschland leben mehr
       als 13 Millionen Frauen, die 60 Jahre und älter sind. Fast ein Drittel
       aller Frauen hierzulande gehört zu dieser Altersgruppe.
       
       Als alte Frauen sind wir also richtig viele. Mit mir sind zum ersten Mal
       auch viele Frauen in Rente, die von der Neuen Frauenbewegung geprägt und
       beeinflusst wurden und die Erfahrung damit haben, feste Rollenstereotype
       aufzuknacken. Wie können wir neue Bilder von alten Frauen erschaffen und
       vielfältige, interessante Lebensentwürfe für sie Wirklichkeit werden
       lassen? Wie können wir als Frauen gut alt sein – was können wir dafür tun
       und was können wir dafür lassen?
       
       Dabei ist klar, dass es dieses „Wir“ als eine homogene Gruppe, die gleiche
       Lebenssituationen, Chancen und Ziele hat, nicht gibt. Denn „wir“ mehr als
       13 Millionen Frauen leben unterschiedlich: mit viel oder wenig Geld, in der
       Stadt oder auf dem Dorf, noch recht gesund oder krank, sozial eingebunden
       oder einsam, in West- oder Ostdeutschland, als Deutsche mit oder ohne
       Migrationsgeschichte. Gemeinsam ist alten Frauen, dass sie ein schlechtes
       Image haben, besonders mit Blick auf ihren Körper. Dabei werden sie in den
       westlichen Gesellschaften ständig mit jungen Frauen verglichen und
       vergleichen sich auch selbst oft mit ihnen.
       
       Während die Körper junger Frauen Anziehungskraft, Lebenslust und Freiheit
       verheißen, scheinen alte Frauen in unserer Gesellschaft die Vergänglichkeit
       und den Verlust all dieser Freuden zu verkörpern. Alte Frauen bekommen die
       Schablonen unattraktiv, uninteressant, grau, blass und langweilig verpasst.
       Natürlich wird darüber nicht offen gesprochen, deshalb hält es sich zäh.
       Der gesellschaftliche Code lautet: Frauen haben an ihrem Körper und ihrem
       Erscheinungsbild zu arbeiten, die Spuren des Alters zu kontrollieren und
       möglichst zu kaschieren.
       
       ## Ich will diesen Code knacken
       
       Gerne würde ich diesen Code knacken. Aber das ist schwer, es gibt
       mancherlei Hindernisse auf dem Weg dorthin. So wie neulich auf meinem Weg
       nach Hause. Gut gelaunt sitze ich auf meinem Fahrrad, ich komme vom
       Sportverein, freue mich schon aufs Abendbrot. Kräftig trete ich in die
       Pedale, biege um eine Kurve. Da kommt, direkt auf Augenhöhe, mir übergroß
       ein Bauch entgegen. Wohlgeformt, wohltrainiert, makellos – so klebt er auf
       einer Litfaßsäule. Ich fahre direkt darauf zu, ich muss da hinschauen. Und
       erkenne: Ach ja … das ist der Bauch von Heidi Klum. Sie modelt für
       Unterwäsche, trägt cremefarbenen BH und Slip mit Spitzen. Dabei schaut sie
       nach unten, zu ihrem Bauch. Sie bespiegelt und kontrolliert sich selbst.
       
       Obwohl mir das Business von und mit Heidi Klum zuwider ist, weil es junge
       Frauen manipuliert und alte Frauen unter Stress setzt, geht jetzt das
       Vergleichen in mir los. Wie sieht ihr Bauch aus – wie sieht mein Bauch aus?
       Wie ihre Haut – wie meine Haut? Wie alt wirkt sie – wie alt wirke ich?
       Dieses Vergleichen sitzt tief in mir. Schon früh habe ich es von meiner
       Mutter gelernt und die Werbebranche setzt ständig neue Trigger. Schnell
       will ich jetzt an etwas anderes denken. Ich radle weiter. Aber meine gute
       Laune ist futsch.
       
       Warum vergleiche ich mich überhaupt mit Heidi Klum? Sie ist 51, fünfzehn
       Jahre jünger als ich. Bei Vergleichen mit Jüngeren, vor allem mit Models,
       schneide ich als alte Frau doch immer schlecht ab, da bin ich abgehängt.
       Diese Einsicht ist ernüchternd, aber erfreulicherweise macht sie es
       einfacher für mich, inneren Abstand zu gewinnen.
       
       Ich bin im Wesentlichen auch zufrieden mit meinem Aussehen. Auch nach der
       Menopause fällt es mir leicht, schlank zu bleiben. Mein Stoffwechsel
       funktioniert so, dass ich kaum Fett ansetze. Das ist ein Erbstück von
       meiner Mutter, die auch immer schlank blieb. Aber andere Erbstücke sind
       nicht so leicht. Ich schaue auf meine Beine. Ein dunkelblaues und
       lilafarbenes Adergeflecht durchzieht sie wie ein Netz, vor allem an den
       Oberschenkeln, um die Kniekehlen und an den Fußknöcheln.
       
       Ich habe Besenreiser. Das sind Aussackungen der Wände von winzigen
       Hautvenen, Zeichen einer vererbten Bindegewebsschwäche. Früher waren meine
       Beine glatt, lang, wohlgeformt – und jetzt das. Auch an heißen Sommertagen
       trage ich seit ein paar Jahren nur noch Hosen, die mindestens die Knie
       bedecken. Besenreiser sind nicht gefährlich. Sie sind nur ein kosmetisches
       Problem und ich habe mich entschieden, keine OP oder Laserbehandlung
       dagegen machen zu lassen.
       
       ## Schmerzen im linken Bein
       
       Andere Alterserscheinungen sind nicht zu sehen, aber wiegen viel schwerer.
       Seit über einem Jahr bekomme ich erhebliche Schmerzen im linken Bein und
       Fuß, wenn ich längere Zeit stehe oder gehe. In der Natur unterwegs sein,
       ihre Vielfalt und Schönheit zu entdecken und zu bestaunen, macht mich
       glücklich. Aber längere Ausflüge oder gar Wanderurlaube sind jetzt
       gestrichen, sonst habe ich Tag und Nacht Schmerzen. Ein großer Verlust, der
       mich traurig macht.
       
       Aber dann kommen meine beiden Schwestern mich besuchen. Mit Floskeln und
       umständlichem Gerede halten sie sich nicht auf, nicht bei mir, denn ich bin
       die Jüngste. „Waaas, du bist jetzt 66 und du willst dich beklagen, dass du
       alt bist, Falten und Besenreiser bekommst, die Beine wehtun und was sonst
       noch alles nicht mehr so gut läuft? Äh, wie seltsam ist das denn?“
       
       Iris ist sechs Jahre älter als ich, hat einen Hang zur Strenge und macht
       keinen Hehl daraus, dass ich, egal wie alt ich bin, die kleine Schwester
       bleibe. „Wenn du mich anschaust …“, sie zieht ihre Stirn in steile Falten,
       „… ich wäre froh, wenn ich’s mal so erlebt hätte.“ Dann presst sie die
       Lippen zusammen und schweigt. Da ist auch Rona, zweieinhalb Jahre älter als
       ich. Sie hat dunkle Augen, dunkles, volles Haar, spricht melodiös und doch
       ruhig. „Als ich Manuel kennenlernte und ich mich zum ersten Mal wirklich
       geliebt fühlte … da wollte ich Kinder – und noch viel mehr. Da dachte ich,
       jetzt könnte das Leben anfangen, aber dann, du weißt ja …“ Ihre Stimme
       bricht ab.
       
       Mir kommen die Tränen. Unweigerlich, wenn ich sie so höre. Denn die Dialoge
       mit meinen Schwestern finden nur noch in meinem Innern statt. Beide starben
       an Brustkrebs, Rona mit 38, Iris mit 61 Jahren. Als Jüngste bin ich jetzt
       die Älteste, ich alleine bin jetzt 66 Jahre alt und erreiche das
       Rentenalter. Ronas Tod liegt mittlerweile dreißig, Iris’ Tod zehn Jahre
       zurück, aber sie fehlen mir immer noch. Der frühe Tod meiner Schwestern ist
       eine große Mahnung an mich: Klage nicht über dein Alter! Sei dankbar, dass
       du es erreicht hast! Rona und Iris haben um ihr Leben lange gekämpft und
       sind gestorben, ich dagegen darf leben.
       
       Auch wenn es sich erst mal nicht so anfühlt – Altwerden, es ist ein
       Privileg. Auch wenn ich auf die Lage von Frauen in anderen Ländern blicke.
       Als Frau im wohlhabenden Deutschland habe ich eine höhere Lebensqualität
       und kann damit rechnen, dreißig Jahre länger zu leben als eine Frau in
       Nigeria, wo die durchschnittliche Lebenserwartung 2022 nur 54 Jahre
       betragen hat. Das ist sehr ungerecht und vermutlich ist die Ungerechtigkeit
       in Wirklichkeit noch krasser.
       
       ## Sterbefälle oft nicht systematisch erfasst
       
       In schlecht entwickelten Staaten oder failed states werden Sterbefälle oft
       nicht systematisch erfasst und arme Frauen, ob sie leben oder sterben,
       zählen da kaum. Für Indien gibt die UN-Sterbestatistik an, dass Frauen ein
       Alter von 69,4 Jahren erreichen. Diese Zahl halte ich für zu schön, um wahr
       zu sein. Denn in diesem patriarchal organisierten Land mit seinem
       frauenverachtenden Mitgiftsystem werden Mädchen in armen Familien schlecht
       ernährt, erhalten kaum Bildung, müssen früh heiraten, hart schuften und
       bekommen nur unzureichende medizinische Versorgung.
       
       Es ist eine politische Frage, wie alt Frauen werden: Reicht das Einkommen,
       um sich gut zu ernähren? Ist das Trinkwasser sauber oder schmutzig und
       verseucht? Bekommt eine Frau Bildung und hat sie Arbeit, von der sie leben
       kann? Oder muss sie ungewollt viele Kinder gebären, sich abrackern und früh
       verschleißen? Hat sie Zugang zu einem gut funktionierenden
       Gesundheitssystem? Die Lage wird sich durch die Erderhitzung vor allem für
       arme Menschen noch weiter verschlechtern. Aber es gibt auch Lichtblicke:
       Weltweit sank die Sterblichkeitsrate von Müttern kurz vor, während oder
       nach der Geburt eines Kindes zwischen 1990 und 2015 um 44 Prozent.
       Besonders Frauen im globalen Süden erlangten damit mehr Lebenschancen.
       
       Auch wenn mir das alles bewusst ist, kann ich mein Altwerden dennoch nicht
       einfach unbeschwert genießen. Alte Frauen sind hierzulande belastet durch
       patriarchale, beschränkte Vorstellungen. Ihre Ausdrucksfähigkeit und
       Kompetenz werden ignoriert, sie sollen zurückhaltend sein und sich bloß
       nicht in den Vordergrund spielen, so lautet der Verhaltenscodex.
       
       „Das können doch nicht die einzigen Rollen für eine Frau sein – erst
       Mutter, dann Oma oder dement“, empört sich die Schauspielerin Michaela May
       im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Zusammen mit ihren
       Schauspiel-Kolleginnen Jutta Speidel und Gisela Schneeberger protestiert
       sie dagegen, dass sie als bekannte, aber alte Schauspielerinnen – wenn
       überhaupt – nur noch triviale Rollen angeboten bekommen. Was da produziert
       werde, sei „banaler Scheiß“, sagt Gisela Schneeberger.
       
       Frauen im Foto- und Filmgeschäft, im Theater und auf den Bühnen der
       öffentlichen Aufmerksamkeit werden hart daran gemessen, für wie attraktiv
       man sie – noch – hält. Diese Herabsetzung trifft aber nicht nur die Frauen,
       die da arbeiten, sondern auch die Zuschauerinnen, denen diese beschränkten,
       langweiligen Rollenmodelle wieder und wieder dargeboten werden. Die
       traditionellen Rollen für Frauen werden zementiert, Konkurrenz zwischen
       alten und jungen Frauen gefördert.
       
       Auch auf Geburtstagspartys ist Diskriminierung von alten Frauen jetzt ein
       Thema. „Willkommen im Club!“ Wir heben die Gläser und prosten der Jüngsten
       von uns zu. Sie feiert ihren 60. Geburtstag. Wir sind fünf Freundinnen und
       kommen bei Kaffee und grünem Tee, Mandeltorte und Obstsalat auch aufs Alter
       zu sprechen. Die 60-Jährige lächelt etwas bange und sagt: „Na ja, das ist
       jetzt schon ein Ding, mit der Sechs da vorne.“ Ich nicke. Ich fand das auch
       ziemlich gewöhnungsbedürftig.
       
       „Ich bleibe einfach 56. Wenn mich jemand fragt, sage ich, ich bin 56“,
       kontert die Älteste von uns.
       
       „Hä?“, ich schaue sie irritiert an. Diese Freundin trägt wie jede von uns
       Falten im Gesicht, hat graue Haare und wird demnächst 68.
       
       „Ich sage auch nie, dass ich schon Rente bekomme“, lässt sie uns wissen.
       
       „Wieso denn nicht?“
       
       ## Jüngere Kolleg*innen bekommen die Aufträge
       
       Diese Freundin ist beruflich selbstständig, sie produziert Inhalte für
       Websites von Firmen und Organisationen. Lange und hart hat sie dafür
       gearbeitet, bekannt zu werden, interessante Aufträge zu erhalten und davon
       gut leben zu können. Einige Male sei es schon vorgekommen, so berichtet sie
       jetzt, dass der Kontakt zu langjährigen Kunden seltsam distanziert geworden
       sei. Später habe sie gesehen, dass jüngere Kolleg:innen diese Aufträge
       bekommen haben. Offensichtlich ist in ihrer Branche, der Kultur- und
       Kreativwirtschaft, nicht nur wichtig, dass die Internetpräsenz neu und
       frisch rüberkommt. Auch die Macher:innen sollen möglichst jung-dynamisch
       wirken.
       
       „Du hast es gut“, sagt sie zu mir. „Du wirst ja nicht gesehen, wenn du
       einen Auftrag bekommen willst!“ Während sie den Kontakt zu ihren Kunden
       überwiegend analog oder per Zoom macht, schreibe ich beruflich viele Mails
       und telefoniere.
       
       Echt jetzt, sehe ich schon so alt aus? Ich lache kurz auf. Aber sie hat
       recht: Je nachdem, wo frau arbeitet, hat sie es als „ältere Frau“, wie es
       schönfärberisch genannt wird, schwer oder eher leicht.
       
       Die Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Alters ist ungerecht,
       beleidigend und verletzend. Trotzdem gibt es auch politische Fortschritte,
       die Hoffnung machen: Über alle Branchen hinweg ist die Erwerbstätigenquote
       von Frauen zwischen 55 und 64 Jahren stark gestiegen. Im Jahr 1991, bei der
       ersten gesamtdeutschen Erhebung, gingen nur 21,9 Prozent der älteren Frauen
       einer geregelten Arbeit nach, 2022 waren es 47,7 Prozent. Frauen der
       Altersklasse 55+ sind heute also im Beruf präsenter denn je. Diese
       Statistik sagt jedoch nichts darüber aus, mit welcher Qualifikation, in
       welcher Position und mit welcher Bezahlung die Frauen arbeiten.
       
       Noch immer ist das Einkommen vieler alter Frauen zu niedrig. Von der
       Sorgearbeit, die Frauen für ihre Kinder und in der Pflege von Angehörigen
       leisten, profitiert die gesamte Gesellschaft, aber Unterbrechungen der
       Arbeit oder Teilzeitarbeit schmälern die Rente erheblich. Nach Angaben der
       Deutschen Rentenversicherung verfügen Frauen im Alter heutzutage über
       durchschnittlich rund 1.300 Euro, während Männer eine durchschnittliche
       Rente von etwa 1.700 Euro beziehen. Das ergibt eine Gender-Rentenlücke von
       30 Prozent. Ihre Armut, weniger ihr Aussehen, ist für viele alte Frauen das
       größte Problem.
       
       Ich habe Glück, ich bin nicht von Armut betroffen und musste nicht mit
       Rentenbeginn einen Job suchen, damit ich über die Runden komme. Ich möchte
       beruflich aktiv bleiben, jetzt mit mehr Freiheit und wählerisch, welche
       Arbeit eine kreative, interessante Aufgabe sein könnte. Nicht nur, aber
       auch deshalb ist mir wichtig, dass ich mit meinen Augen gut sehen, mit dem
       Kopf klar denken und mich gut bewegen kann. All das ist jetzt, als alte
       Frau, aber nicht mehr selbstverständlich. Ich muss aufpassen. Es drohen
       Einbrüche.
       
       Das Sprechzimmer meiner Ärztin dominieren glänzende weiße und graue Möbel,
       dazwischen an den glatten Wänden kräftig hellgrüne Streifen und Regale.
       Vielleicht soll dieses Grasgrün gute Stimmung verbreiten, aber die Ärztin
       schaut auf den Bildschirm und zieht ihre Augenbrauen zusammen. Dann dreht
       sie sich um, schaut mich an und sagt: „Es hat sich nicht verbessert. Es gab
       keine Fortschritte. Es stagniert nur.“
       
       Seit drei Jahren nehme ich Tabletten, die diese Spezialistin für
       Knochenkrankheiten mir verordnet hat. Ich esse regelmäßig Käse, Joghurt und
       Quark, schleppe mit meinem Mann schwere Kisten mit kalziumreichem
       Mineralwasser ins Haus und trinke davon jeden Tag eine Flasche. Ich
       trainiere im Sportclub mit Hanteln und Gewichten, um meine Knochen zu
       fordern und zum Wachstum zu stimulieren.
       
       Denn ich habe Osteoporose. Eine Krankheit, die vor allem Frauen nach der
       Menopause betrifft. Wenn im Alter deutlich weniger Östrogen im Blut fließt,
       verlieren ihre Knochen an Substanz und werden porös. Meine Mutter und meine
       Großmutter erlitten Knochenbrüche im Alter, die kaum mehr heilten, weil
       ihre Knochen zu stark geschädigt waren. Mama und Oma konnten nach ihren
       Stürzen nur noch schlecht, später gar nicht mehr gehen und wurden zu
       Pflegefällen.
       
       „Wie arbeiten Sie? Im Sitzen?“
       
       Ich nicke. Klar, sitzen gilt heutzutage als das neue Rauchen.
       
       „Was machen Sie beruflich?“
       
       „Ich bin Journalistin und Autorin.“
       
       „Journalistin? Schreiben Sie über Osteoporose!“
       
       „Äh … ich schreibe vor allem zu Themen aus Gesellschaft und Politik.
       Weniger, also eigentlich nie zu … Gesundheitsthemen.“
       
       ## Ärztin empfiehlt eine neue Therapie
       
       „Osteoporose ist ein gesellschaftliches Thema!“ Blitzschnell ist die
       Ärztin, und sie ist aufgebracht. „Wenn bei alten Frauen die Knochen brechen
       und sie dann ins Pflegeheim müssen, da kräht kein Hahn danach! Dabei kostet
       das die Gesellschaft Tag für Tag riesige Summen, aber da spricht keiner
       drüber, da wird kaum etwas gemacht! Es geht ja nur um alte Frauen!“ Sie
       lacht sarkastisch auf.
       
       „Ah, verstehe“, denke ich laut. „Wenn vor allem Männer diese Krankheit
       hätten, gäbe es Aufklärungskampagnen und Vorsorgeuntersuchungen und …“ Die
       Ärztin unterbricht meine Überlegungen zum Gender Health Gap, also den
       Lücken in der medizinischen Versorgung aufgrund des Geschlechts: „Mit Ihrer
       Lendenwirbelsäule liegen sie tief im dunkelroten Bereich.“
       
       Sie deutet auf ein Kreuz in einer farbigen Grafik, die die Ergebnisse der
       Messung meiner Knochendichte zeigt, die vor einer Stunde gemacht wurde.
       Alle gemessenen Werte, auch die von Hüfte und Unterarm, liegen im roten
       Bereich. „Wir müssen hier mal richtig Gas geben“, sagt die Ärztin und
       empfiehlt eine neue Therapie.
       
       Seit einem halben Jahr gebe ich mir nun täglich vor dem Schlafengehen eine
       Spritze in den Bauch. Das Medikament greift tief in den Knochenstoffwechsel
       ein. Seine Wirkstoffe sind so empfindlich, dass das Medikament durchgehend
       gekühlt werden muss. Auch wenn ich auf Reisen bin. Jetzt kann ich nur noch
       dorthin fahren, wo ich einen Kühlschrank vorfinde.
       
       Das ist eine Einschränkung. Wirklich hinderlich ist jedoch, dass für meine
       Weiter- oder Rückreise die Elemente einer Kühlbox stets frisch gefrostet
       sein müssen. Vor jeder Fahrt mit Übernachtung, ob beruflich oder privat,
       muss ich nun also fragen, ob ich Zugang zu einem Tiefkühlfach bekommen
       könnte. Meine Krankheit einer fremden Person am Telefon erklären zu müssen
       und Umstände zu machen, löst in mir das Gefühl aus, schlagartig um Jahre
       gealtert zu sein.
       
       Aber ich bin auch froh, dass es diesen medizinischen Fortschritt gibt und
       dass ich das teure Medikament nicht selbst bezahlen muss, sondern die
       Krankenkasse die Kosten trägt. Schätzungsweise haben acht Millionen
       Menschen in Deutschland Osteoporose. Der Dachverband der Selbsthilfegruppen
       geht davon aus, dass circa 30 Prozent der über 65-jährigen Frauen an einem
       fortgeschrittenen Stadium der Krankheit leiden. Da sind die Knochen schon
       so geschädigt, dass sie bei einem eigentlich harmlosen Stolpern oder ganz
       ohne äußerlichen Anlass zusammenbrechen. Davor möchte ich mich bewahren.
       Die aufwändige Osteoporose-Therapie betrachte ich als eine Investition in
       meine Zukunft als alte Frau.
       
       Mit der Rente nehme ich mir jetzt mehr Zeit und Raum für das, was mir
       wohltut. Morgens gönne ich mir einen Gang durch den Garten, hole
       Pfefferminz, Zitronenmelisse und Salbei für einen frischen Tee, bereite ein
       leckeres Frühstück. Mit Kräutertee, Kaffee und einem gut gefüllten
       Frühstücksteller setze ich mich auf die Holzterrasse am Gartenteich und
       genieße den Blick aufs Wasser. Das Schilfrohr wiegt im Wind, die
       Wasserschwertlilien blühen strahlend gelb und manchmal quakt der Frosch.
       Wandertouren kann ich leider nicht mehr machen, aber den Garten und seine
       Schönheit kann ich genießen.
       
       Als mein Mann und ich vor drei Jahren in einer harten Ehekrise
       feststeckten, suchten wir schließlich Hilfe bei einem Paartherapeuten. Er
       unterstützte uns, aufmerksamer füreinander zu werden und unsere
       Kommunikation zu verbessern. Aber der Alltag hat seine Tücken, er spült das
       Gewohnte wieder hoch. Freilich nur bei meinem Partner. Der sieht das
       genauso, nur eben andersherum. Da bin ich’s, die es schon wieder verpatzt.
       
       Als alte Frau und alter Mann aber sind wir genervt und auch gelangweilt von
       den Dramen, die wir da aufführen und schon sattsam kennen. Denn im Alter
       taucht die Frage auf: Wie will ich die begrenzte Lebenszeit mit meinem
       Partner verbringen? Deshalb gönnen wir uns jetzt den Beziehungscoach. Circa
       alle sechs Wochen sind wir bei dem Psychologen, der sich auskennt mit
       unseren Beziehungsmustern. Die regelmäßigen Check-ups machen uns immer
       wieder frisch und offen füreinander. Sie tun unserer Liebe gut. Günstig,
       dass jetzt „E-de-Ka“ ist.
       
       Wir zwinkern uns zu, wenn wir dieses Wort sagen und nicht den
       nächstgelegenen Supermarkt meinen. Erfunden hatte „E-de-Ka“ mein Mann, als
       er vor vier Jahren in Rente ging, es bedeutet: Ende der Karriere.
       Langfristige berufliche Pläne muss auch ich jetzt nicht mehr verfolgen.
       Manchmal rufen unsere Tochter oder unser Sohn an und erzählen, was sie
       machen, was sie bewegt und wie arbeitsintensiv und stressig das oft ist –
       der Einstieg in den Beruf bei ihr, das anspruchsvolle Masterstudium bei
       ihm. Als Mutter bekomme ich dann sorgenvolle Gefühle. Als alte Frau aber
       bin ich erleichtert. Wie gut, dass ich mir diesen Stress nicht mehr machen
       muss.
       
       Weil ich jetzt frisch Rente beziehe, taucht auch der Gedanke auf, dass sie
       den letzten Lebensabschnitt einläutet. Auf meiner Suche nach Vorbildern
       begegnet mir Maria. Sie sitzt am Montagabend rechts neben dem Leiter der
       Gruppe, die sich seit vielen Jahren zum Meditieren trifft. Maria ist
       schwerhörig und möchte keines der inspirierenden Worte verpassen, die er
       vor dem gemeinsamen Schweigen spricht. Sie kommt mit dem Bus und trägt am
       Jackenärmel die gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten.
       
       Manchmal, nach der Meditation, erzählt Maria, was sie als über 90-Jährige
       erlebt. Sie berichtet von langen Spaziergängen im Norden der Stadt.
       Mitunter findet sie dann nicht mehr den Weg zurück. Ich würde mich hilflos
       und angstvoll fühlen, aber Maria wartet ruhig, bis jemand kommt, der sie
       unterstützt. „Diese Menschen haben darauf bestanden, mich bis vor meine
       Haustür zu bringen. Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meint sie danach.
       
       Maria war Krankenschwester, auch in leitenden Funktionen, immer in
       katholischen Häusern. Als sehr alte Frau lebt sie möglichst selbstständig,
       aber wenn sie Hilfe braucht, zeigt sie das offen. Sie hat Mut, ist
       zuversichtlich und vertraut auf die guten Eigenschaften beim Nächsten. Ihre
       Haltung zum Leben als alte Frau finde ich stark.
       
       Auf einem Spaziergang setze ich mich auf einer Parkbank neben sie, lege
       meinen Arm um ihre Schultern. Sie stockt: „Ich hätte ja nicht gedacht, dass
       du dich so dicht neben mich setzt … neben mich alte Frau.“
       
       „Ist doch schön so!“
       
       „Ich wollte ja schon etwas wegrücken, aber … wenn du meinst.“ Sie neigt
       ihren Kopf zu meiner Schulter, schmiegt sich an. Ich spüre ihre Wärme und
       Weichheit und auch die Festigkeit, die in ihr wohnt. Sie ist großartig
       darin, die schönen Stunden zu genießen und die schweren hinzunehmen, ohne
       in Klagen zu verfallen. Ihre zunehmende Erblindung akzeptiert sie als Teil
       ihres Lebens. Diese Hingabe an das Leben, auch wenn es langsam zu Ende
       geht, beeindruckt mich. Ich habe Zweifel, ob ich das so schaffe. Aber
       versuchen will ich es.
       
       Zuletzt muss Maria ins Pflegeheim ziehen. Sie ist vollständig erblindet und
       könnte in ihrer Wohnung jederzeit stürzen. Ich besuche sie. Wir sitzen in
       der Cafeteria des Heimes, ich habe Kuchen mitgebracht. „Oh, Pflaumenkuchen,
       der schmeckt aber gut!“, sagt sie und isst mit Genuss ein ganzes Stück. Wir
       wissen beide, dass dieses Heim die letzte Station auf ihrem Lebensweg ist.
       Ich druckse herum, frage schließlich: „Hast du dich hier mittlerweile
       eingelebt?“ Maria senkt ihren Kopf, spricht etwas nach unten, aber
       deutlich: „Ich lebe mich hier ein und ich lebe mich hier aus.“ Wenig später
       stehen wir auf, gehen in die Hauskapelle und meditieren zusammen. Alles
       Wesentliche ist gesagt, wir können ruhig schweigen.
       
       Jetzt ist Maria eine meiner Freund:innen im Himmel. Ich glaube nicht an
       ein Weiterleben nach dem Tod. Aber ich mag das Bild, dass die, die mir
       vorausgegangen sind, liebevoll auf meinen Weg schauen.
       
       In der kommenden Woche habe ich einen Termin beim Orthopäden. Dann erfahre
       ich endlich die Ergebnisse des MRT, das vor sieben Wochen von meinem linken
       Fuß gemacht wurde. Vielleicht gibt es Aufschluss darüber, woher die
       Schmerzen dort kommen. Eine Entzündung? Oder wieder kein Befund, der sie
       erklären kann? Ich bin angespannt und unsicher, was auf mich zukommt. Aber
       dann erinnere ich mich an mein Vorbild, hebe den Kopf, schaue zum Himmel:
       Maria hilf!
       
       8 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gunhild Seyfert
       
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