# taz.de -- Kunstfestival 48 Stunden Neukölln: „Unterwäsche wird immer gebraucht“
       
       > Madalena Wallenstein de Castro nimmt bei „48 Stunden Neukölln“ teil. Mit
       > „Ein Wohnzimmer ohne Wände“ lädt zum Diskurs über Obdachlosigkeit ein.
       
 (IMG) Bild: Madalena Wallenstein de Castro sitzt hier in ihrer Rauminstallation „Ein Wohnzimmer ohne Wände“, das hier in ihrem Atelier steht
       
       Berlin taz | Mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt sich Madalena
       Wallenstein de Castro im Grunde genommen seit Kindestagen“. Denn die
       gebürtige Portugiesin ist in einem Bezirk von Lissabon aufgewachsen, „der
       ein bisschen wie Neukölln ist“, wie sie der taz erzählt. „Schon als Kind
       bin ich immer wieder Drogenabhängigen, Obdachlosen und Sexarbeitern
       begegnet und habe mich mit einigen von ihnen angefreundet.“ Nun nimmt sie
       mit einer Rauminstallation am Kunstfestival [1][„48 Stunden Neukölln“]
       teil, die das Thema Wohn- und Obdachlosigkeit in den Fokus rückt. Diese
       trägt den Titel „Ein Wohnzimmer ohne Wände“.
       
       Madalena Wallenstein de Castro lebt seit bald acht Jahren in Berlin und
       wohnt in Neukölln in der Sonnenallee. „Ich wollte raus aus Lissabon“, sagt
       sie nach den Beweggründen gefragt, in Berlin zu leben. „Mein Urgroßvater
       war Deutscher,“ erzählt die 27-Jährige „daher mein deutscher Namensteil.“
       
       In Lissabon ist sie auf ein Kunstgymnasium gegangen und hat „schon immer
       Kunst gemacht“, früher Peformances und Skulpturen, und wollte eigentlich
       Kunst studieren. „Doch dann habe ich mich für Bühnenbild entschieden, weil
       das ein transdisziplinärer Studiengang ist.“
       
       Die Rauminstallation entstand im Rahmen ihres dreiteiligen
       Langzeitprojektes „LIMBO“, an dem sie seit Sommer 2023 arbeitet und stellt
       Teil 1 dar. Den Titel verdankt sie den Gesprächen mit einer Frau namens
       Melania, die in Berlin seit langem auf der Straße lebt und schwer
       drogenabhängig ist. „Sie ist eine der vielen Menschen, denen ich im Alltag
       begegne und die mich dazu gebracht haben, dieses Projekt zu beginnen. Wir
       haben uns in einer U-Bahn-Station kennengelernt und durch täglichen Kontakt
       habe ich entdeckt, dass sie die ‚Göttliche Komödie‘ auswendig kennt, weil
       sie oft Teile davon in Gesprächen zitiert.“
       
       ## Was für ein passender Titel
       
       [2][Dante Alighieri] erzählt darin von einer Reise durch drei
       Jenseitsreiche – die Hölle (Inferno), das Fegefeuer (Purgatorio) und das
       Paradies (Paradiso). Und vor der Tür des höllischen Reiches gibt es einen
       Ort namens Limbo. „In die Hölle werden diejenigen geschickt, die nicht
       katholisch getauft wurden – sie werden bestraft für etwas, für das sie
       nicht schuldig sind. Sie werden also marginalisiert.“ Was für ein passender
       Titel.
       
       Ein erster Prototyp ihrer Rauminstallation wurde bereits im Rahmen des
       Rundgangs in der Universität der Künste ausgestellt. Dort studiert
       Wallenstein de Castro seit 2018 Bühnenbild. Die Rauminstallation, die jetzt
       für das Neuköllner Kunstfestival entstanden ist, stellt ihren
       Masterabschluss dar. Dabei kommt „künstlerische Praxis mit sozialer Praxis
       zusammen“.
       
       Ihre Installation hat Madalena Wallenstein de Castro gut eine Woche vor dem
       Kunstfestival fast fertiggestellt. Bei einem Besuch in ihrem Atelier in
       einer ehemaligen Schokoladenfabrik in einem Gewerbegebiet in Tempelhof
       lässt sich diese schon einmal begutachten: In einem riesigen, ansonsten
       leeren Raum ist ein imaginäres Wohnzimmer mit Sofa und mehreren Sesseln und
       Fernsehtisch samt TV-Gerät und allerhand Nippes aufgebaut.
       
       Die Möbel tragen einen maßgeschneiderten Überwurf aus roter Plastikplane.
       Feste Wände gibt es in diesem Wohnzimmer nicht. Die liegen stilisiert rund
       herum auf dem Boden und erinnern an die Einzelteile eines Zeltes, wie es
       sich Obdachlose aus Plastikplanen etc. selbst zusammenbauen. So wird die
       Installation ein Wochenende im Rahmen des Kunstfestivals in Neukölln
       öffentlich unter freiem Himmel zu sehen sein. „Hoffentlich regnet es
       nicht“, sagt die Künstlerin.
       
       ## Eine Einladung zum Diskurs
       
       „Die Installation ist eine Einladung“, sagt Wallenstein de Castro, „die
       Problematik der Wohn- und Obdachlosigkeit aus der Perspektive von FINTA*
       Personen besser kennenzulernen. Ich will die Kommunikation zwischen
       betroffenen und nicht betroffenen Menschen ermöglichen.“
       
       Wallenstein de Castro verwendet bewusst das Buchstabenkürzel FINTA* (statt
       FLINTA*), weil sie einen Unterschied zwischen sexueller Orientierung (LGB*)
       und der Geschlechtsidentität (FINT*) machen will.
       
       Aber warum der Fokus auf FINTA*? „Alle Obdachlosen werden in unserer
       Gesellschaft nicht gesehen, niemand schaut richtig hin“, sagt Wallenstein
       de Castro. „FINTA* aber verstecken sich noch mehr. Das Stigma ist größer,
       ihre Probleme auch. Und ihre Lobby ist kleiner als bei männlich gelesenen
       Obdachlosen.“ Auf all diese Probleme will sie aufmerksam machen. Als ein
       Beispiel nennt sie die hygienischen Bedingungen, wenn jemand auf der Straße
       lebt. „Das ist für menstruierende Personen eine besondere Herausforderung.“
       Sexualisierte Gewalt ist ein weiteres ernstes Problem.
       
       Die Recherchen für die Rauminstallation dauerten ein Jahr. Madalena
       Wallenstein de Castro hat auf der Straße Menschen angesprochen, dabei
       mitunter Ablehnung erfahren, ist aber auch auf Interesse für ihr Anliegen
       einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema gestoßen. Mit Männern
       gab es teils unschöne Erlebnisse. Auch dieser Umstand hat sie dazu bewogen,
       das Thema mit den speziellen Sorgen von FINTA* umzusetzen. „Und ich wollte
       meinen Protagonistinnen auf Augenhöhe begegnen“, sagt Wallenstein de
       Castro.
       
       ## Tagestreffpunkt muss schließen – „ein Unding“
       
       Sie hat immer wieder Hilfseinrichtungen wie [3][Evas Obdach] oder
       Unterschlupf besucht, oft zu Gast in der [4][Habersaathstraße 40–48] und
       bei der Union für Obdachlosenrechte Berlin (UfO) war. Evas Obdach ist eine
       ganzjährige Notübernachtung nur für Frauen in der Fuldastraße in Neukölln.
       [5][Unterschlupf] ist der Name eines Tagestreffpunktes für Frauen* in der
       Obdachlosigkeit in der Kreuzberger Wrangelstraße – „der muss Ende des
       Jahres ausziehen, das ist ein Unding“, regt sich die Künstlerin auf.
       
       In der Habersaath hat sie Janet Amon und Habibi kennengelernt. Die
       Geschichte der beiden floss in die Rauminstallation „Ein Wohnzimmer ohne
       Wände“ ein. „Janet hat eine lange Geschichte der Obdachlosigkeit mit
       Suchterkrankungen hinter sich“, erzählt Wallenstein de Castro, „und beides
       erfolgreich bekämpft. Mit 46 Jahren hat sie sich „neu entdeckt.“
       
       Habibi – „das ist ihr Streetname“ – kam einst nach Berlin und ist auf der
       Straße gelandet und hat das „als eine gute Erfahrung bezeichnet“. Wie das?
       Habibi habe auch Schlimmes erlebt, die Obdachlosigkeit aber wie eine Flucht
       aus einem anderen Leben empfunden und „sich durch die vielen Erfahrungen
       auf der Straße neu kennengelernt“.
       
       Das „Wohnzimmer ohne Wände“ wird vom 28. bis 30. Juni auf dem Weichselplatz
       in Neukölln präsentiert. Nach dem Kunstfestival gibt es am 6. Juli noch
       eine Gelegenheit, die Rauminstallation auf dem Boxhagener Platz in
       Friedrichshain zu sehen. Die Künstlerin wird vor Ort sein.
       
       ## Künstlerin und Protagonistinnen sind vor Ort
       
       Es gibt am Freitag, dem 28. Juni, um 19 Uhr eine Lesung von Janita Juvonen,
       die aus ihrem Buch „DIE ANDEREN: Die harte Realität der Obdachlosigkeit“
       vorträgt. Und um besser mit Interessierten in Kontakt zu kommen, hat sich
       die Künstlerin ein „Memory der Starken Frauen“ ausgedacht, dass mit Fotos,
       Zitaten, Erinnerungen ihrer beiden Protagonistinnen bestückt ist. Und auch
       Janet Amon und Habibi sind am Samstag und Sonntag jeweils um 14 Uhr vor
       Ort.
       
       Was hat Madalena Wallenstein de Castro in ihrer künstlerischen
       Auseinandersetzung mit dem Thema gelernt? „Das es nicht DIE eine Ursache
       für Obdachlosigkeit gibt, sondern verschiedene. Deshalb gibt es auch nicht
       nur DIE eine Lösung dafür.“ Die Zunahme der Obdachlosigkeit hänge eng mit
       der Immobilienkrise und der dramatischen Situation auf dem Wohnungsmarkt
       zusammen. „Es gibt doch eigentlich genug Raum und Geld in Berlin, um das
       Problem zu lösen“, sagt sie. „Man muss es nur wirklich wollen“, gibt sie
       der Politik mit auf den Weg.
       
       Ohnehin werde das Problem verdrängt. Das reicht von wiederholten Räumungen
       von Obdachlosencamps bis hin zu Schikanen im städtischen Raum, die alle das
       Ziel haben, Obdachlose zu vertreiben. Etwa durch Musikberieselung mit einer
       unangenehmen Tonfrequenz in Bahnhöfen – nach dem Motto: schlaf hier bloß
       nicht ein!
       
       Die Künstlerin hat nun immer Flyer der verschiedenen Hilfseinrichtungen in
       der Tasche, wenn sie in der Stadt unterwegs ist. Und auch Unterwäsche, die
       sie bei Bedarf verschenkt.
       
       ## Denn die gibt's in Kleiderkammern nicht
       
       Unterwäsche? „Neu gekaufte“, sagt Madalena Wallenstein de Castro. „Ich habe
       versucht zu verstehen, was FINTA* brauchen, die auf der Straße leben. Jetzt
       weiß ich: zum Beispiel frische Unterwäsche. Denn die gibt es in den
       Kleiderkammern nicht.“ Also kauft sie welche und hat sie stets im
       Rucksack dabei.
       
       Das Projekt „LIMBO“ wird Wallenstein de Castro noch eine Weile begleiten.
       Nach dem ersten Teil, der Rauminstallation „Ein Wohnzimmer ohne Wände“,
       wird es zwei weitere Arbeitsschritte geben, die sich aufeinander beziehen.
       In Teil 2 will sich die Künstlerin auf die Defensive Architektur
       fokussieren und versuchen, „mit verschiedenen Interventionen im
       öffentlichen Raum einen kritischen Diskursraum zu schaffen“.
       
       Als Defensive Architektur benannt wird eine Form der Gestaltung des
       öffentlichen Raums, des ÖPNV, öffentlicher Gebäude und auch von sogenannten
       Stadtmöbeln, um den Aufenthalt von Obdachlosen oder Suchterkrankten, aber
       auch um Skateboardfahren zu verhindern. Ein Beispiel dafür sind Sitzbänke,
       auf denen Bügel installiert sind, damit sich dort niemand zum Schlafen
       niederlassen kann.
       
       Im dritten Teil sollen die Gespräche und Interviews, die seit Beginn des
       Projektes kontinuierlich entstehen, zum Material für einen Podcast werden.
       Madalena Wallenstein de Castro will dafür eine mobile Kabine bauen, mit der
       sich direkt auf der Straße Tonaufnahmen machen lassen. „Ich habe noch nie
       einen Podcast gemacht. Das wird sicher eine Menge Recherche und Arbeit“,
       freut sich die Künstlerin schon jetzt. Denn das ist genau ihr Ding.
       
       27 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Hergeth
       
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