# taz.de -- Russische Kriegsverbrechen in Ukraine: „Leichen auf den Straßen“
       
       > Geflohene Augenzeugen berichten über den Horror, den die Bevölkerung der
       > ukrainischen Kleinstadt Wowtschansk nahe Charkiw derzeit erlebt.
       
 (IMG) Bild: Beweise für Kriegsverbrechen sichern: Ermittler der ukrainischen Staatsanwaltschaft am Einschlagsort einer russischen Gleitbombe
       
       Berlin taz | Die Leichen zweier Frauen, die rote und braune Jacken tragen,
       liegen mit dem Gesicht nach unten auf der Straße neben dem zerstörten Haus.
       Neben ihnen liegen Taschen, die ihnen aus der Hand gefallen sind.
       Vermutlich versuchten die Frauen, die kriegszerstörte Stadt
       [1][Wowtschansk] im Norden des Gebiets Charkiw zu verlassen, nur wenige
       Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Die Grenze, die russische
       Truppen Mitte Mai erneut überschritten haben, um eine neue Offensive gegen
       die Ukraine zu starten. Sie sind bis nach Wowtschansk gekommen.
       
       Nur wenige Meter von den Frauenleichen entfernt ist ein Granatenkrater zu
       sehen, der dem einer Kamikaze-Drohne ähnelt. Der ukrainische Fotograf
       Kostyantin Liberov, dem es gelang, die Szene von einer Drohne aus
       aufzunehmen, ist sich sicher, dass die Frauen nicht durch eine zufällig
       dort gelegte Mine getötet wurden, sondern durch einen gezielten
       Drohnenbeschuss.
       
       Sein Video zeigt auch andere Zivilist*innen, die bei dem
       [2][Evakuierungsversuch] getötet wurden. Zum Beispiel neben einem Fahrrad
       die Leiche eines Mannes, der mitten auf der Straße tot umgefallen ist. „Die
       Stadt ist voller Tod. Leichen von Zivilist*innen auf den Straßen und
       unter den Trümmern“, beschreibt Liberov, was er in Wowtschansk gesehen hat.
       
       ## Der Fluss ist zur Frontlinie geworden
       
       Der Fluss Wowtscha, der mitten durch Wowtschansk fließt, ist de facto zur
       Frontlinie geworden. Der südliche Teil der Stadt ist vollständig unter
       Kontrolle der ukrainischen Truppen, während der nördliche Teil zu einer
       großen „Grauzone“ geworden ist, wie man das aktive Kampfgebiet nennt, in
       die die russischen Besatzer vorgestoßen sind.
       
       Der Nordteil wurde in den ersten Tagen der neuen russischen Offensive zu
       einem extrem gefährlichen Ort, aus dem Freiwillige und lokale Behörden die
       Bevölkerung unter Beschuss evakuieren mussten. Es gibt keine genauen
       Angaben darüber, wie viele Zivilist*innen sich heute noch in diesem
       Teil der Stadt aufhalten. Die lokalen Behörden sprechen von etwa 100
       Personen, von denen die meisten älter und behindert sind.
       
       Die Ermittlungsbehörde der Polizei des Gebiets Charkiw berichtete
       offiziell, dass das russische Militär Dutzende von Zivilist*innen aus
       Wowtschansk und benachbarten Siedlungen gewaltsam in Kellern festhielt und
       sie als „menschliche Schutzschilde“ benutzte. Der ukrainische Ombudsmann
       Dmytro Lubinets sagte, er habe von denjenigen, denen die Evakuierung
       gelungen sei, erfahren, dass die Russen den Zivilist*innen mit
       außergerichtlichen Hinrichtungen gedroht und sie damit zur Kooperation
       gezwungen hätten.
       
       In einem Fall wurden Menschen drei Tage lang in einem Keller festgehalten,
       in einem anderen wurden eine ganze Familie und Freiwillige von den
       Besatzern als Geiseln genommen. Eine Frau berichtete, sie sei gezwungen
       worden, verwundete russische Soldaten medizinisch zu behandeln.
       
       Diese Informationen werden sowohl von Freiwilligen als auch von
       Einheimischen bestätigt, mit denen die Menschenrechtsgruppe Charkiw in
       Kontakt treten konnte. „Wir wissen, dass die Menschen schwimmend über den
       Fluss geflohen sind. Es waren ältere Menschen, für die das extrem schwierig
       war“, sagte Wjatscheslaw Pidhornyj, Direktor der Stiftung World and
       Ukraine.
       
       Da es in den umkämpften Gebieten so gut wie keinen Mobilfunk gibt, haben
       die Menschen kaum eine Chance, sich bei der Polizei zu melden, um evakuiert
       zu werden, sondern müssen auf eigene Faust fliehen. Freiwillige Helfer
       berichten, dass sie immer wieder auf Menschen getroffen sind, die viele
       Kilometer entlang der Frontlinie gelaufen sind, um die Stadt zu verlassen.
       Einer von ihnen ist Oleksandr mit seiner Frau und einem Nachbarn.
       
       ## Strafverfahren wegen neuer Kriegsverbrechen eröffnet
       
       Der 70-jährige Oleksandr überredete seine gehbehinderte Frau, die Stadt zu
       verlassen, als das russische Militär mit den Straßenkämpfen in Wowtschansk
       begann. Er lieh sich von einem Nachbarn einen Rollstuhl, setzte seine Frau
       hinein und die drei machten sich zu Fuß auf den Weg, um unter Beschuss aus
       der Stadt zu fliehen. Nach einiger Zeit blieb das Rad des Rollstuhls im
       Boden stecken. Oleksandr bückte sich, um es herauszuziehen, als er eine
       Maschinengewehrsalve hörte. Als er sich umdrehte, sah er seinen Nachbarn
       mit offenen Augen tot auf dem Boden liegen und seine Frau lag mit dem Kopf
       auf seiner Brust.
       
       „Ich schaue meine Frau an und sie hat ein Loch im Hinterkopf und man kann
       ihr Gehirn sehen … Ich wusste nicht, dass die Russen in einem Haus in der
       Nähe einen Hinterhalt gelegt hatten. Ich fing an, sie anzuschreien: 'Was
       macht ihr da? Wir sind Zivilist*innen!“, berichtete der Rentner der
       ukrainischen Staatsanwaltschaft. Er versuchte noch, die Leiche seiner Frau
       ein paar hundert Meter weiter in das nächste Gebäude zu ziehen, schaffte es
       aber nicht mehr und musste sie auf der Straße lassen.
       
       Später veröffentlichten ukrainische Luftaufklärer ein Video, das die Leiche
       einer Frau in einem Rollstuhl zeigte.
       
       Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat bereits mehrere Strafverfahren wegen
       neuer Kriegsverbrechen durch die Russen eröffnet. Es geht um die
       Erschießung eines Einheimischen aus der Nähe, das Verschwinden eines
       Einheimischen und die Schießerei auf einen Einheimischen, in dessen Haus
       sie eingebrochen sind und ihm schließlich den Finger abgeschossen haben.
       Darüber hinaus hat das russische Militär die Evakuierungsfahrzeuge von
       Freiwilligen und Polizist*innen beschossen. Alle diese Handlungen
       gelten als Kriegsverbrechen.
       
       Die Einwohner*innen von Wowtschansk haben [3][bereits im Jahr 2022
       russische Besatzung erlebt]. Damals errichtete das russische Militär in der
       Stadt Folterlager. Die Erinnerung daran ist noch frisch. Eine geflohene
       Einwohnerin berichtete ukrainischen Journalist*innen unter Tränen von
       ihren Erlebnissen: „Die russische Besatzung bedeutet Tod. Das möchte ich
       nie wieder erleben.“
       
       28 May 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anastasia Magasowa
       
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