# taz.de -- Verschickungskinder beim Roten Kreuz: Wer weint, wird eingesperrt
       
       > Schleswig-Holsteins Rotes Kreuz ließ Misshandlung von
       > Verschickungskindern erforschen. In den Heimen gab es vor allem
       > psychische Gewalt.
       
 (IMG) Bild: Hier wird diszipliniert geschlafen: Bettensaal im Kindererholungsheim
       
       Hamburg taz | Wer im Schlafsaal flüstert, muss sich in die Ecke stellen.
       Wer nicht genügend Gewicht zulegt, dem wird gedroht, er dürfe nicht nach
       Hause. Von diesen und ähnlichen Erfahrungen ist in einer Studie die Rede,
       mit der das schleswig-holsteinische Deutsche Rote Kreuz (DRK) seine Rolle
       bei den Kinderverschickungen der Jahre 1945 bis 1990 hat aufarbeiten
       lassen.
       
       Diese Gewalt sei eine Folge der hierarchischen und zweckfixierten
       Organisation der Heime, urteilt die Studienautorin Leoni Umlauft. „Die
       Intention hinter den Kindererholungen und Kinderkuren war eine gute“, sagt
       sie. „In der Umsetzung wurden jedoch die kindlichen Bedürfnisse oftmals
       komplett missachtet.“
       
       Etwa acht Millionen Kinder wurden in der Nachkriegszeit im Zuge dieser
       Programme kreuz und quer durch die Bundesrepublik „verschickt“. Ziel war
       es, den Gesundheitszustand der Kinder zu verbessern. Dass [1][viele Kinder
       bei diesen Kuren misshandelt wurden], ist erst seit wenigen Jahren ein
       öffentliches Thema. Vorangetrieben wird es von der [2][„Initiative
       Verschickungskinder“, die die Publizistin Anja Röh]l als Betroffene
       gemeinsam mit anderen Verschickungskindern gegründet hat.
       
       ## Das Archiv schweigt
       
       [3][Umlaufts Studie] entstand als Masterarbeit an der Uni Kiel im Auftrag
       des DRK-[4][Landesverbandes.] Für ihre Studie sichtete Umlauft die Archive
       des Landes, der Landkreise und des DRK – insgesamt 4.300 Seiten. Außerdem
       führte sie fünf Interviews mit Betroffenen.
       
       Dabei erwies sich die Archivrecherche zwar als wertvoll, um die
       Rahmenbedingungen und Strukturen der Kinderverschickung zu erforschen. Über
       den tatsächlichen Umgang mit den Kindern gaben allerdings erst die
       Interviews Auskunft. „Die Archivbestände konnten keine Ergebnisse zu
       dokumentierten Gewaltakten liefern“, schreibt Umlauft.
       
       Der DRK Landesverband betrieb laut den Archiven über Jahrzehnte hinweg zwei
       Kindererholungsheime, DRK-Kreisverbände verantworteten drei weitere Heime.
       Gedacht waren sie zunächst für die Kinder gefallener oder schwer versehrter
       Soldaten, aber auch für Kinder aus der Frontstadt West-Berlin. Dazu kamen
       Kinder aus benachteiligten Familien oder mit einem schlechten
       Gesundheitszustand: Untergewicht, Asthma, Rachitis.
       
       Umlauft stellt fest, dass die DRK-Heime in ein großes Netz von Akteuren
       eingebunden waren. Geld gab es aus Sozialhilfetöpfen, der
       Kriegshinterbliebenen- und -beschädigtenfürsorge sowie von den
       Sozialversicherungen. Das Sozialministerium sowie die Jugend- und
       Gesundheitsämter führten die Aufsicht. Die Bundesbahn und die
       Kinderfahrtmeldestelle Schleswig-Holstein organisierten und beaufsichtigen
       die Transporte, bei denen Mitte der 1950er-Jahre zwei Kinder ums Leben
       kamen.
       
       In den Heimen arbeiteten mit Ausnahme der Ärzte fast ausschließlich Frauen.
       Umflaufts Interviewpartner berichten von einer starken Hierarchie.
       „Strenge, Gehorsam und ein distanziertes Verhältnis zu den Kindern durchzog
       die Heimstrukturen und -handlungen“, schreibt Umlauft. Das unter der
       Heimleitung arbeitende Personal sei überwiegend jung und meist freundlich,
       aber eben eingebunden gewesen. „Ich glaube, die standen genauso wie wir
       Kinder unter diesem, wie soll ich das sagen, so ein, so ein (sic)
       Befehlsdruck der Heimleitung“, sagte ein Interviewpartner.
       
       ## Gefühl des Ausgeliefertseins
       
       Letztlich seien die Bedürfnisse der Kinder dem Organisationszweck der
       Erholung und des Gesundwerdens untergeordnet worden, stellt Umlauft fest.
       Ein Beispiel dafür ist das wöchentliche Wiegen, bei dem die Kinder
       strammstehen mussten und mit Repressalien bedroht wurden, sollten sie nicht
       zunehmen.
       
       Kinder, die weinten, wurden eingesperrt. Zwölf- bis 14-Jährige, die sich
       nachts noch in die Hose machten, wurden gedemütigt und im Schlafsaal gab es
       regelmäßig Kontrollgänge: Wer nicht mit dem Kopf zur Wand lag, ergo nicht
       sprechen konnte, musste aufstehen und sich in die Ecke stellen. Körperliche
       Züchtigung war verboten.
       
       Durch die Interviews ziehe sich „ein Gefühl des Ausgeliefertseins“,
       schreibt Umlauft. Alles sei angeordnet und befohlen worden, sagte ein
       Interviewpartner. Dabei hätten die Kinder keine Möglichkeit gehabt, sich
       Hilfe zu holen. Briefe nach Hause mussten offen gelassen werden und wurden
       ebenso zensiert wie Postkarten.
       
       „Aus unserer Sicht markiert diese Studie einen wichtigen Schritt in der
       Aufarbeitung der Kindererholung“, sagte die Vorstandssprecherin des
       DRK-Landesverbandes, Anette Langner. Sie trage dazu bei, das Bewusstsein
       für die erlebte Gewalt zu schärfen und [5][weitere Forschungen anzustoßen].
       
       9 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Betroffener-ueber-Kinderkur/!5983001
 (DIR) [2] /Petition-der-Woche/!5874549
 (DIR) [3] https://www.drk-sh.de/das-drk/landesverband/verschickungskinder-studie.html
 (DIR) [4] /Skandal-ums-Kieler-Landesfunkhaus/!5875220
 (DIR) [5] /Misshandlungen-in-der-Kinderverschickung/!5926733
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gernot Knödler
       
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