# taz.de -- Krise der linken Bewegung: Bitte weiterdenken!
       
       > Hören wir auf, Plastikwörter zu gebrauchen. Fünf Euro ins Schweinderl,
       > wer »Klimakrise«, »Respekt«, »das geht ja gar nicht« oder
       > »Technologieoffenheit« sagt. Hören wir auf damit, uns dümmer zu machen
       > als unbedingt nötig. Denken wir weiter.
       
 (IMG) Bild: Wir müssen aufhören, in unserem Denken und Handeln genügsam zu sein, findet Harald Welzer
       
       [1][taz FUTURZWEI] | Seit vielen Jahren frage ich mich, was »links« ist.
       Gerade hat mich der Cicero als »ausgesprochen linken Sozialpsychologen«
       bezeichnet, sodass »links« offenbar wenigstens noch als Zuschreibung von
       der rechten Seite her funktioniert.
       
       Aber seit »links« einerseits in theoretisch halbseidenem
       Postkolonial-critical-whiteness-identitätspolitischem-kulturelle-Aneignung-
       und-so-weiter-Jargon besteht und andererseits durch das Hilfswort
       »progressiv« ersetzt ist, kann ich mich damit nicht mehr identifizieren.
       Besser als die Linken selbst wissen ja ohnehin die Rechten, was »links«
       ist, nämlich irgendwie diese mit nicht nachlassendem Sucheifer allerorten
       aufgefundenen »links-grün-urbanen« SpießerInnen, die zur persönlichen
       Kränkung von Ulf Poschardt Lastenräder besitzen.
       
       Ach, Leute: »Links« war mal das, was sowohl praktisch als auch theoretisch
       immer einen materialistischen Ausgangspunkt hatte, weshalb es bei »links«
       um soziale Gerechtigkeit ging, um den Kampf darum und seine Funktion als
       historische Produktivkraft. Man könnte auch sagen: »Links« war immer der
       Kampf um Gleichheit, Wokeness ist dagegen der um Ungleichheit. Übrigens ist
       der Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit nicht erklärungsbedürftig – den
       verstehen alle, inklusive seiner Gegner. Weil es eben um Materielles geht,
       um die Existenzlage und die mit ihr verbundenen Chancen auf ein gutes
       Leben. Während das meiste im heutigen sogenannten linken Spektrum
       Insiderthemen für Menschen sind, die hauptsächlich auf Kämpfe um das
       Symbolische fixiert sind, weil die kostenlos sind und weder Anstrengung
       kosten noch Karrierechancen verbauen, aber dafür Distinktionsgewinne
       erlauben.
       
       ## Todesclowns des Zivilisationsprozesses
       
       Die Ersetzung sozialer Kämpfe durch symbolische findet im Rahmen eines
       historischen Zeitraums statt, der durch Deregulierung der Märkte,
       Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich
       Wissenschaft, Kultur und Biosphäre sowie der Magisierung von Wachstum und
       Individualisierung gekennzeichnet war und ist. Der vorläufige Gipfel dieses
       Prozesses ist die libertäre Menschenfeindlichkeit vom Typ Peter Thiel, Elon
       Musk und anderer Todesclowns des Zivilisationsprozesses, für die es ein
       Gemeinwohl noch nicht einmal rhetorisch mehr gibt. Ob es danach noch
       schlimmer geht, weiß niemand. Vom Spätkapitalismus, den soziologische
       Kollegen schon seit Jahrzehnten fantasieren, habe ich jedenfalls noch nix
       gesehen: Mir scheint der Kapitalismus eher zeitlos geworden und sich in
       seinen Ausbeutungs- und Vernutzungsstrategien desto mehr zu radikalisieren,
       je mehr Zerstörung an der Natur er schon angerichtet hat.
       
       Möglicherweise schafft er sich nur ganz am Ende selbst ab, der
       Kapitalismus, weil sein globaler Siegeszug solche Zerstörungswirkungen auf
       die gegenwärtigen und künftigen Lebensbedingungen hat, dass der
       Marktwirtschaft zunehmend das Problem entsteht, dass die Kosten für die
       Bewältigung der angerichteten Schäden die durch die Zerstörung möglichen
       Gewinne übersteigt. Aber das kann man noch eine Weile weitermachen, die
       Sozialisierung der Kosten bei Privatisierung der Gewinne ist ja gut
       eingeübt. Und die Klimaökonomie schon eifrig dabei, den nächsten Beelzebub
       marktgängig zu machen – die »Entnahmewirtschaft«, die – federführend am
       Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung – supersmarte Techniken der
       CO2-Entfernung aus der Atmosphäre mit noch smarteren Regulierungen
       erfindet. Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass es nichts gibt, was im
       Kapitalismus nicht in Geld verwandelt werden könnte.
       
       ## Die Ersetzung des Politischen durch Haltung
       
       Aber zurück zu dem interessanten Phänomen, dass die Transformation sozialer
       Kämpfe in symbolische genau mit dem Prozess der Neoliberalisierung der Welt
       zusammenfällt. Da passt dann plötzlich wieder alles zusammen und findet
       seine friedliche Koexistenz im Universum der Bullshit-Wörter, die vom
       Quatsch der »hart arbeitenden Bevölkerung« über den »internationalen
       Wettbewerb« bis zur »Augenhöhe« reichen, vom »Menschen mitnehmen« bis zu
       »da bin ich ganz bei dir!« Tatsächlich übernimmt der inflationäre Wortmüll,
       der aus BWL-Sprech, Therapiejargon und Gleichgültigkeit gegenüber aller
       Ungerechtigkeit wie von ChatGPT zusammengequirlt scheint, die Funktion der
       allgemeinen Entpolitisierung oder anders gesagt: die Ersetzung des
       Politischen durch – Haltung.
       
       Man kann ja voll gegen die Eskalation des Klimawandels sein, ohne auch nur
       einen Furz dagegen zu tun – und an dieser Stelle merkt
       Futurzwei-Chefredakteur Peter Unfried an: »Da sind wir beide die besten
       Beispiele!« Guter Punkt: Denn die Substitution von Eingreifen und Handeln
       durch virtuoses Jonglieren mit halbgaren Begriffen und »das geht ja gar
       nicht« bedienen wir natürlich auch gern, ohne uns über die faktische
       Folgenlosigkeit unserer hübschen Anstrengungen Rechenschaft abzulegen.
       Dieter Hildebrandt hat das mal so formuliert: Kein einziges Atomkraftwerk
       in Deutschland sei ohne seinen entschiedenen Widerstand ans Netz gegangen!
       Tja, und keine Verschärfung der Flüchtlingspolitik und kein Waffenexport
       nach Saudi-Arabien wird ohne Zerknirschung des grünen Koalitionspartners
       durchgewunken. Und kein Zynismus der Abschottung Europas gegen die
       neuerdings »Irreguläre« genannten Menschen ohne die Betonung der echten
       Humanität, die man natürlich sichern wolle – gleichlautend bei CDU/CSU, SPD
       und FDP. Solche Anstrengung des Begriffs, müsste der Kanzler als Meister
       der Phrase anmerken, ist »sehr, sehr historisch« – nämlich die
       Kunstfertigkeit, jegliche Schweinerei mitzumachen, dabei aber stets
       moralisch zu bleiben.
       
       Haltung ist genauso wie Moral eine Kategorie der Vergemeinschaftung, sie
       gestattet, unbelastet von früher formulierten Ansprüchen durchzukommen und
       seine Überzeugungen damit zu synchronisieren, was gerade in der Eigengruppe
       Konjunktur hat. Haltung kann man schon haben, bevor man auch nur das
       Geringste verstanden hat, Haltung suspendiert von der Anstrengung, sich mit
       Argumenten zu befassen, die von jemandem kommen, den man schon aus Gründen
       der Haltung ablehnen muss. Und vor allem: Haltung kann man heute in Bezug
       auf dieses und morgen auf sein Gegenteil haben, vorausgesetzt, sie ist in
       der Eigengruppe mehrheitsfähig. Das ist der Zeitgeist von »links« bis
       »rechts« und wieder zurück.
       
       ## Wir haben uns das Weiterdenken abgewöhnt
       
       Dabei kann man immer wieder die Frage stellen, über wen man denn eigentlich
       spricht, wenn man solche Beobachtungen anstellt. Wie die äußerst
       überraschende Welle der Demonstrationen gegen die AfD und andere
       Rechtsextreme seit Januar dieses Jahres zeigt, sind offenbar noch Millionen
       »ganz normaler« Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik in der Lage zu
       unterscheiden, bis wann die private Ruhe genügt und ab wann man auf die
       Straße gehen muss, um ganz praktisch für die Demokratie einzustehen.
       Natürlich finden das dann die politischen Akteure dufte, weil andere die
       Verantwortung zeigen, die sie selbst seit Jahren in Bezug auf die
       faschistischen Bestrebungen im Land vermissen lassen. Vielleicht spricht
       sich jetzt doch auch mal in der politischen Klasse herum, dass eine
       aufgeklärte und engagementbereite Mehrheitsbevölkerung die stärkste
       Ressource ist, auf die eine Demokratie bauen kann. Und vielleicht können
       auch wir, die sogenannten Deutungseliten aus Wissenschaft und
       Qualitätsmedien, mal wieder das Unterscheidungsvermögen trainieren, das man
       braucht, um intellektuell nicht in den eingeübten Schlaumeier-Routinen zu
       verwesen. Und selbst wieder den Mut zur Anstrengung fassen, von
       seinesgleichen doof gefunden zu werden. So verstehe ich Unfried, und
       wahrscheinlich hat er recht.
       
       Wir haben uns das Weiterdenken abgewöhnt. Uns fehlen die Begriffe zur
       Beschreibung jener Verhältnisse, in denen unter Bedingungen der Folgen der
       Erderhitzung und des Artensterbens sich die sozialen Beziehungen so
       verschärfen, dass autoritäre und totalitäre Politikangebote mehrheitsfähig
       werden. Das war übrigens schon die Kernaussage der Grenzen des Wachstums –
       und so wenig sich die Wirtschaftswissenschaften um die Entwicklung einer
       Ökonomie der Endlichkeit bemüht haben, so wenig haben sich die
       Sozialwissenschaften um eine Gesellschaftstheorie der Endlichkeit
       gekümmert. Deshalb haben alle, die weiterdenken wollen, immer nur diese
       Post-Begriffe: postfossil, Postwachstum, postkolonialistisch,
       postkapitalistisch – nichts könnte die Theorielosigkeit der Gegenwart
       besser illustrieren als diese begrifflich gewordenen Hilflosigkeiten des
       Denkens.
       
       Die entstehen dann, wenn man es vorzieht, in seinem Denken und Handeln
       genügsam zu sein – sich also nur so weit in Anspruch zu nehmen, wie es
       reicht, um bequem mit seinesgleichen durchzukommen. Aber hilft ja nix: In
       dieser Genügsamkeit wird die Welt nur verschieden interpretiert, und das
       meistens auch noch ziemlich schlecht. Es kommt aber darauf an, sie zu
       verändern.
       
       Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. 
       
       Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°28 erschienen. Lesen
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       5 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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