# taz.de -- Neues Album von Matana Roberts: Erinnern statt vergessen
       
       > Black History wird lebendig: das neue ambitionierte Werk der
       > US-amerikanischen Jazzsaxofonistin Matana Roberts „Coin Coin Chapter 5:
       > In The Garden“.
       
 (IMG) Bild: Erzählt Geschichten von der Zeit der Sklaverei bis zur Gegenwart: Matana Roberts
       
       [1][Matana Roberts denkt in großen Zeiträumen]. Ihr monumentales Projekt
       „Coin Coin“ ist angelegt auf insgesamt zwölf Alben. In jedem einzelnen Werk
       erzählt die aus Chicago stammende US-Saxofonist*in eine Episode aus ihrer
       Familiengeschichte, wobei sie Fakten und Fiktion miteinander vermischt. Es
       ist ein ambitioniertes Projekt, gleichermaßen Erinnerungsarbeit und
       politischer Kommentar auf die heutige Zeit.
       
       Mit ihm schafft Roberts so etwas wie die Great American Novel aus der
       Perspektive einer Schwarzen queeren Person – mit den Mitteln von Literatur
       und vor allem Musik. Jetzt hat die 48-Jährige das fünfte Kapitel „Coin Coin
       Chapter 5: In The Garden“ veröffentlicht. Und wieder blickt Roberts damit
       zurück, um durch die Vergangenheit die Gegenwart zu reflektieren.
       
       Roberts begann 2011 mit dem Projekt, als das Debüt „Coin Coin Chapter One:
       Gens de Couleur Libres“ erschien. Ausgangspunkt für Konzept und
       Namensgeberin der Reihe ist die historische Figur der Marie Thérèse
       Coincoin. Sie wurde 1778 aus der Sklaverei befreit und baute eine frühe
       Schwarze Gemeinschaft in Louisiana auf.
       
       Anhand der Biografien von ihren versklavten Vorfahrinnen beleuchtet Roberts
       das Schicksal starker Schwarzer Frauen in den Südstaaten vor dem
       US-Bürgerkrieg (1861-65). Die Musik wurde live mit 15 Beteiligten
       aufgenommen und ist geprägt von einem intensiven Spannungsbogen [2][voller
       abrupter Wechsel, von harschen Saxofonausbrüchen bis hin zu schwermütigen
       Chorgesängen].
       
       ## Erzählungen weitergeben
       
       Mit kleinerem Ensemble nahm Roberts 2013 den zweiten Teil „Mississippi
       Moonchile“ auf, der sich um das Leben ihrer Großmutter zwischen Great
       Depression, ab 1929, und dem Aufkommen der Civil-Rights-Bewegung in den
       späten 1950ern dreht. Radikaler und abstrakter ging Roberts in dem
       Soloalbum „River Run Thee“ (2015) vor.
       
       Die zwölf Stücke bestehen aus stetigen elektronischen Klangwellen. Darin
       blitzen Zitatfetzen von Persönlichkeiten wie Malcolm X auf, aber auch von
       Unbekannten, etwa einer Obdachlosen. An eine Seher*in erinnernd,
       kommentiert Roberts mit Gesang und Saxofon den Fluss der Geschichte, der
       vor ihrem inneren Auge vorbeizieht.
       
       Während „River Run Thee“ Historie als großes Ganzes im Verhältnis zum
       Individuum fasst, steht im vierten Kapitel [3][„Memphis“ (2019)] die
       mündliche Überlieferung auf persönlicher Ebene im Zentrum. Aufgenommen mit
       einer neuen Band, geht es inhaltlich um eine in Roberts’ Familie
       weitergegebene Erzählung von einem Mädchen in Memphis, dessen Eltern vom Ku
       Klux Klan ermordet wurden und das daraufhin einige Monate versteckt in
       einem Waldstück lebte.
       
       Bei „In The Garden“ ist die Protagonistin nun eine Ahnin, die in den 1920er
       Jahren an den Folgen einer illegalen Abtreibung starb, eine Situation, die
       nach wie vor aktuell ist. In einem Begleittext wendet sich Roberts gegen
       die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und legt die
       gesundheitlichen Folgen vor allem für Schwarze Frauen dar.
       
       ## Heuchlerische Argumente
       
       Sie attackiert die restriktive Abreibungspolitik konservativ-rechter
       Kräfte, deren Kinderschutz-Argument sie anhand ihres Waffenfetischismus als
       heuchlerisch entlarvt. Wie auch bei den anderen Alben hat Roberts für das
       neue Kapitel wieder eine eigene Band zusammengestellt. Produziert von Kyp
       Malone von der Rockband TV on the Radio, führt Roberts dieses Mal ein
       Nonett an, das mit dem Saxofonisten Darius Jones und dem Pianisten Cory
       Smythe stilistisch zwischen Jazz und Neuer Musik angesiedelt ist.
       
       Ursprünglich war auch geplant, dass [4][die US-Trompeterin Jaimie Branch
       mitspielen sollte, was durch den frühen Tod der Künstlerin im August 2023
       leider verhindert wurde.] Ihr drängender Ton hätte sehr gut zum Album
       gepasst.
       
       Roberts lässt sich Zeit, ihre Geschichte zu entfalten. Los geht es mit
       einem Drone-Ton, der in eine atonale Ouvertüre mündet. Erst im dritten
       Stück spricht Roberts dann in der Stimme ihrer namenlosen Protagonistin.
       Sie beschreibt sich als „elektrisch, lebendig, temperamentvoll, feurig und
       frei“, ein Leitmotiv, ebenso wie ein mehrmals auftauchendes Mantra: „Mein
       Name ist Dein Name, unser Name ist ihr Name, wir wurden benannt, wir
       erinnern uns, sie vergessen.“
       
       ## Die Frauenfigur
       
       Jedes der 16 Lieder spiegelt die Gefühlswelt der Frauenfigur wider: „How
       Prophetic“ mit seinem peitschenden Beat strotzt voller Selbstbewusstsein;
       darauf folgt mit „A Caged Dance“ der Realitätsabgleich mit der
       Blues-Ballade von Roberts’ Solo-Saxofon; die Grübeleien über die schwierige
       Beziehung zu ihrem Mann ist unterlegt mit einer minimalistischen
       Klavierfigur; bevor sie ihren Partner mit ihren beiden Kindern verlässt,
       erklingt [5][ein Wiegenlied aus der Zeit der Sklaverei], so als wolle
       Roberts’ Heldin ihre Jungen und sich selbst auf der Reise beruhigen.
       
       In der neuen Stadt merkt sie, dass sie wieder schwanger ist. Über einem
       Strudel aus Schlagzeug und Violine entscheidet sich die Protagonistin
       schließlich aus Verzweiflung, sich eine Treppe hinabzustürzen, um das Baby
       zu verlieren. Wenige Tage später erliegt sie den Folgen.
       
       Der Monolog, der den Übergang ins Jenseits markiert, ist mit pulsierenden
       Keyboardsounds und rufenden Saxofontönen unterlegt. Zum Finale erklingt
       eine Blaskapelle, die in der Tradition eines Jazz-Begräbnisses nach der
       Beerdigung vom Friedhof heimkehrt.
       
       „Mein Name ist Dein Name, unser Name ist ihr Name, wir wurden benannt, wir
       erinnern uns, sie vergessen“, schreit und flüstert Roberts gegen Ende immer
       wieder. Dieser Slogan könnte auch Motto ihres ganzen „Coin Coin“-Projekts
       sein. Das Erzählen von Geschichten dient zum einen der Selbstbestimmung. Es
       hält zum anderen die Erinnerung an die Vergangenheit wach, um die Zukunft
       schon in der Gegenwart beginnen zu lassen.
       
       29 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.matanaroberts.com/
 (DIR) [2] /Jazzfestival-Kopenhagen/!5427076
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=1SxQpJkF1pM
 (DIR) [4] /Jazztrompeterin-Jaimie-Branch/!5876923
 (DIR) [5] /US-Sklaverei-Roman-in-deutscher-Version/!5435452
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sven Beckstette
       
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