# taz.de -- Graphic Novel über erste Filmregisseurin: Alice in Movieland
       
       > Lange galt sie als vergessen: Alice Guy war die erste weibliche
       > Filmpionierin. Ein Comic widmet sich nun der Französin und ihrer
       > visionären Kunst.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt aus dem Comic über Alice Guy
       
       Berlin taz | Die Szene bringt das Publikum zum Lachen: Eine Blumenfee
       begrüßt es und wandert in einem Garten zwischen riesigen Kohlköpfen umher.
       Plötzlich zieht sie lebende Babys daraus hervor. Das also ist das Geheimnis
       der Geburten! Die knapp einminütige Szene wurde erstmals im Jahr 1896 auf
       eine Leinwand projiziert. Das Kino war noch nicht geboren, Filme bestanden
       aus einer kurzen Filmrolle und stellten noch ein seltenes
       Jahrmarktvergnügen dar. Verblüffend und neu war fürs damalige Publikum,
       dass hier eine Fantasie in Filmbilder umgesetzt wurde: „La fée aux choux“
       („Die Kohlfee“, auf YouTube zu finden) basierte auf der französischen
       Legende, nach der Jungs in Kohlköpfen und Mädchen in Rosen geboren werden.
       
       Erst wenige Monate zuvor hatten die Brüder Lumière mit ersten Vorführungen
       Aufsehen erregt, ihre Filme hatten aber überwiegend dokumentarischen
       Charakter. „Die Kohlfee“ dagegen gilt als einer der ersten rein fiktionalen
       Filme. Kaum bekannt ist, dass eine Frau Regie führte: [1][Alice Guy hieß
       die 1873 geborene französische Filmpionierin]. In ihren Einaktern erzählte
       sie unzählige originelle, meist witzige Geschichten, die manchmal auf
       Literaturvorlagen basierten. Von 1896 bis 1920 war sie höchst erfolgreich
       als Studioleiterin, Regisseurin, Autorin und Produzentin tätig.
       
       Jetzt erzählt eine Graphic Novel die Biografie der ersten Filmregisseurin:
       „Alice Guy“ geschrieben vom französischen Autor José-Louis Bocquet,
       gezeichnet von der Illustratorin Catel (Muller). Gemeinsam kreierte das Duo
       bereits mehrere Comic-Biografien ungewöhnlicher Frauen, darunter Josephine
       Baker oder Olympe de Gouges. Der sich auf 400 Seiten erstreckende Band
       zeichnet das gesamte Leben der Pionierin in historisierenden schwarzweißen
       Zeichnungen akribisch nach.
       
       ## Ausloten des Möglichen
       
       Guys Karriere beginnt 1894 als Sekretärin im Pariser Fotoatelier Richard,
       wo sie den späteren Filmproduzenten und Konzernchef Léon Gaumont
       kennenlernt, und Kontakte zu den diversen Erfindern von Filmapparaten
       knüpft. Oft wirft Guy frühfeministische Diskurse in ihren Werken auf,
       thematisiert auf humorvolle Weise die gelebten Geschlechterverhältnisse. So
       lässt sie in einer Szene etwa die Frau den aktiven Part in Liebesdingen
       einnehmen, für damalige Verhältnisse eine höchst ungewöhnliche Sicht.
       
       Guys Filme loten die erzählerischen und technischen Möglichkeiten aus und
       tragen zum Erfolg der expandierenden Gaumontstudios bei, sodass Guy auch
       den ersten Historienfilm (1899, mit der sensationellen Länge von 35
       Minuten!) drehen kann. „La vie du Christ“ begeistert mit aufwendigen
       Kulissen und hunderten Statisten. Früh experimentiert sie an Phono-Szenen,
       die Filmbilder mit Schallplattenton synchronisieren und dreht 1905 das
       erste Making-of eines dieser Filme.
       
       „Be Natural“ war ihr fortschrittliches Credo beim Inszenieren – die Akteure
       sollten natürlich spielen und weniger theatralisch, wie es damals sonst
       üblich war. In den USA gründet sie lange vor Entstehung der
       Hollywood-Studios die Produktionsfirma Solax, mittels der sie sich unter
       anderem mit sozialkritischen Themen befasst, Western produziert und
       aufwändige Stuntszenen durchführen lässt.
       
       ## Heldinnen, was sonst
       
       Ihr Trademark sind Frauen, die sie in starken Heldinnenrollen inszeniert.
       Als ein Affront im damaligen Amerika der Rassentrennung galt ihr 1912
       erschienener Film „A Fool and His Money“, den sie – was damals Mut
       erforderte – erstmals mit einem ausschließlich afroamerikanischen Cast
       besetzte, anstatt, wie damals üblich, weiße Darsteller mit geschwärzten
       Gesichtern (Blackfacing) zu nehmen.
       
       Alice Guy, die 1968 in den USA verstarb, war, von seltenen Einträgen in
       Filmlexika abgesehen, lange vergessen, ihre Filme verschollen. Ihr Talent
       und ihre Leistungen, so arbeitet der Comic heraus, wurden oft bewusst von
       männlichen Kollegen, dem eigenen Ehemann Herbert Blaché und beruflichen
       Partnern wie Léon Gaumont unterschlagen: Sie gönnten einer Frau nicht den
       Ruhm. Erst nach ihrem Tod wurde sie allmählich wiederentdeckt, ihre
       Autobiografie posthum veröffentlicht und [2][ihre Karriere in
       Dokumentarfilmen] nachgezeichnet.
       
       Auch wenn sich die Graphic Novel manchmal in Details verliert und die
       Zeichnerin einige Mühen hat, ihren leicht naiv wirkenden Figuren Tiefe zu
       verleihen, werden doch die wichtigsten Aspekte der Karriere von Alice Guy
       gut veranschaulicht.
       
       Catel lässt die Zeit der ausgehenden Belle Époque in ihren mit kräftigem
       Tuschepinsel gezeichneten Panels wiederauferstehen und zeigt, mit wie viel
       Improvisation in den Filmateliers die ersten Filme entstanden. Der Band
       macht deutlich: Alice Guys Name sollte endlich den ihr gebührenden Platz
       neben den bekannten Größen der frühen Filmgeschichte bekommen.
       
       7 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Doku-ueber-erste-Filmregisseurin-der-Welt/!5822478
 (DIR) [2] https://www.arte.tv/de/videos/095829-000-A/alice-guy-die-vergessene-filmpionierin/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Französischer Comic
 (DIR) Graphic Novel
 (DIR) Regisseurin
 (DIR) Künstlerin
 (DIR) Filmgeschichte
 (DIR) Buch
 (DIR) Comic
 (DIR) Ausstellung
 (DIR) Buch
 (DIR) Barock
 (DIR) Comic
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neuer Comic von Joann Sfar: Die Bedrohung
       
       Joann Sfars „Die Synagoge“ ist autobiografisch und aktuell: Der
       französische Comicautor erzählt von erfahrenem Judenhass in seiner Jugend
       in Nizza.
       
 (DIR) Der neue Asterix: Selbst die Wildschweine werden soft
       
       Die Achtsamkeit erobert Gallien: Im neuen Asterix-Comic „Die weiße Iris“
       unterwandert ein janusköpfiger Guru das widerständige Dorf.
       
 (DIR) Ausstellung von Nadja Abt in Dortmund: Das Drehbuch subversiv umschreiben
       
       Nadja Abt nutzt in ihrer Ausstellung „Obession“ in Dortmund Autofiktion als
       Strategie. Damit hinterfragt sie Klischees von Kunst und Karriere.
       
 (DIR) Illustratorin über Argentinien: „Wie man mit Farbe erzählt“
       
       Sole Otero zeichnet Graphic Novels über ihr Herkunftsland. Ein Gespräch
       über Häuser italienischer Einwanderer und eine neue Generation von
       Illustratorinnen.
       
 (DIR) Grafic Novel „Sibylla“: Die Überbegabte
       
       Unerschrocken visionär erzählt Max Baitinger von den Gedichten des
       Greifswalder Mädchens Sibylla Schwarz. Die ist 1638 gestorben – mit 17
       Jahren.
       
 (DIR) Graphic Novel über Tänzerin Isadora Duncan: Frühstück im Museum
       
       In ihrer Graphic Novel „Isadora“ erzählen Julie Birmant und Clément
       Oubrerie vom Weg einer jungen Tänzerin, die sexuelle Erfahrungen sammelt.