# taz.de -- Leben in der Ukraine: Der Sound des Krieges
       
       > Glocken, die bei einer Beerdigung läuten. Militärmaschinen, die durch die
       > Straßen dröhnen. Über Kriegsgeräusche, die den Alltag in der Ukraine
       > prägen.
       
 (IMG) Bild: Viele Ukrainer:innen haben ihre Fenster zugeklebt, um sich vor Druckwellen zu schützen
       
       Luzk taz | Wenn es im Sommer warm ist, so wie in diesem Jahr, arbeite und
       schlafe ich immer bei geöffneten Fenstern. Zu Hause machen wir, meine Frau
       und ich, Witze, dass wir auf diese Art der Natur näher kommen. Unser Haus
       befindet sich gleichzeitig in der Stadt und etwas außerhalb. Von dort
       können wir gut beobachten, was [1][in der Stadt Luzk], im Westen der
       Ukraine, vor sich geht. Wenn sich dein Land im Krieg befindet, ist das
       wichtig, um Leben retten zu können.
       
       Erst im vergangenen Frühjahr haben wir das Klebeband von den Fenstern
       entfernt, das wir im Februar 2022 dort angebracht hatten. So haben das alle
       Ukrainer*innen gemacht. Sie haben Angst vor den Druckwellen nach dem
       Einschlag russischer Raketen und einer Offensive der Russen von Belarus aus
       in westliche Regionen der Ukraine. Sie hatten ja immer mit der Eröffnung
       einer zweiten Front gedroht, doch das passierte nicht. Offensichtlich haben
       wir zu hochwertiges Klebeband gekauft, da es nicht möglich war, es
       vollständig herunterzureißen. „Lass gut sein“, beruhigte ich meine Frau.
       Das ist das Mindeste, was daran erinnert, dass es Krieg gibt in unserem
       Land.
       
       Schon seit anderthalb Jahren höre ich die Geräusche dieses Krieges an
       meinen Fenstern. Zuerst war es das Dröhnen unserer Militärmaschinen, die in
       der Nacht zum 24. Februar 2022 von einem Flugplatz starteten. Er ist nur
       drei Kilometer von uns entfernt. Danach schlugen Raketen auf dem Flugplatz
       ein. Die Russen bombardierten ihn mehrmals, aber er hielt stand.
       
       Als ich im Sommer vergangenen Jahres wieder unsere Flugzeuge über Luzk sah,
       freute ich mich wie ein Kind. Jetzt recken wir immer hastig unsere Köpfe
       gen Himmel, wenn wir das Dröhnen von Düsenfliegern hören.
       
       Täglich drei Tote 
       
       Das Klebeband an meinen Fenstern hätte nicht geholfen, wenn wir in der Nähe
       der Fabrik gewohnt hätten, die Ersatzteile für Fahrzeuge produziert. Die
       Russen haben sie vor Kurzem angegriffen, in einer warmen Augustnacht. Am
       Abend davor tranken wir Wein auf dem Balkon, zündeten Kerzen an und
       lauschten den Grillen. Am frühen Morgen saßen wir nach zwei Explosionen
       kerzengerade im Bett. Nach einer Weile färbten Rauchstreifen den Himmel vor
       den Fenstern schwarz. Die Stille des Sommermorgens wurde durch die Sirenen
       von Krankenwagen zerrissen. In den Werkshallen starben in dieser Nacht drei
       Menschen.
       
       Wenn in Luzk Opfer des Krieges begraben werden, weiß ich das sofort, ich
       vernehme das Glockengeläut der Kathedrale in der Innenstadt. Das Läuten
       klingt wie ein vereinzelter Schuss. Zuvor wird der Verstorbene aus der
       Leichenhalle geholt. Der Wagen hupt. Ich höre das Murmeln einer traurigen
       Prozession. Im Geiste bete ich in diesem Moment und seufze: „Noch einer.“
       
       Seit die ukrainische Armee ihre Offensive im Süden gestartet hat, gibt es
       in unserer Region täglich drei Tote, manchmal sind es auch bis zu fünf.
       Jeden Tag gegen zehn Uhr abends schreiben lokale Medien über sie. Wenn ich
       zu dieser Zeit online bin (und die Ukrainer*innen sind mittlerweile
       normalerweise rund um die Uhr online), stoße ich immer auf diese
       Nachrichten.
       
       Wie viele sind es heute? Ich lese und zucke zusammen – als ob eine
       russische Mine in meiner Nähe hochgegangen, eine Granate explodiert oder
       eine Rakete eingeschlagen sei. Auf dem Smartphone meldet eine spezielle
       App Luftalarm. Das bedeutet, dass in wenigen Sekunden schrille Sirenen von
       der Straße in das Zimmer dringen. Vor unserem Haus befindet sich eine große
       Wiese. Das Heulen der Sirenen aus allen Regionen Luzks scheint sich dort
       in eine lange und schreckliche Melodie zu verwandeln.
       
       ## Die Situation am Himmel beobachten
       
       Einmal hat mein Sohn die App nicht geschlossen, als er bei einer
       Jugendbegegnung in Berlin war. Seine deutschen Kollegen sahen ihn danach
       anders an. Auch wir hatten zunächst Angst vor diesen Vorboten des
       Armageddon. Jetzt schalten wir in aller Ruhe das Internet ein, um
       herauszufinden, was, von wo und wohin von dem verrückten Nachbarn in die
       Ukraine fliegt. Wenn dies „nur“ der Start eines [2][MiG-31-Kampfflugzeugs]
       ist, wünsche ich mir im Stillen, er möge möglichst schnell abstürzen. Ich
       arbeite weiter und schaue mir die einschlägigen Webseiten von Experten an,
       die die Situation am Himmel überwachen.
       
       Die MiGs können russische Hyperschall-Kinschal-Raketen tragen. Bisher kann
       unsere Raketenabwehr sie nur über Kyjiw abschießen. Daher ist es bei
       solchen Starts sinnvoll, sich in den Keller oder zumindest ins Badezimmer
       oder die Toilette zu begeben.
       
       Die „Zwei-Wände-Regel“ hat den Ukrainer*innen oft das Leben gerettet.
       Zuerst ist es die Hauswand, die die Schockwelle abfängt. Die zweite Wand
       ist eine Trennwand zum Bad oder der Toilette, um den Bewohner*innen
       Sicherheit zu bieten. Man sollte diese Regel auch jetzt nicht ignorieren –
       die Russen sind in den 18 Monaten des Krieges nicht klüger geworden.
       
       Bei massiven Angriffen von Kalibr-Raketen oder iranischen Shahed-Drohnen,
       selbst im Hinterland von Luzk, liegt Spannung in der Luft. Dann flüstern
       Alarmsirenen den Menschen ins Ohr: „Beeilen Sie sich, um zum
       Luftschutzbunker zu kommen.“ Abends ist durch meine Fenster oft das
       gedämpfte Brummen von Güterzügen zu hören. Wenn dieses Geräusch besonders
       lange erklingt, lächle ich. Von Luzk ist es nicht weit zur polnischen
       Grenze. Daher nehme ich an, dass von dort etwas von den Freunden der
       Ukraine, aus Europa oder den USA, zu uns gebracht wird.
       
       Tagsüber spielen Kinder unter unseren Fenstern. Jetzt ist es besonders
       berührend, ihnen zuzuhören, denn im Sommer 2022 war der Hof leer. Die
       Hälfte der Bewohner*innen unseres Hauses war ins Ausland oder in die
       Karpaten gegangen. Mittlerweile sind viele Familien mit ihren Kindern
       [3][zurückgekehrt].
       
       „Kinder spielen nicht mehr Krieg“ 
       
       Es ist erstaunlich, aber die Kinder spielen nicht mehr Krieg. Zunächst
       hatten die jungen Ukrainer Spielzeug-Straßensperren errichtet. Dort
       sammelten sie Geld bei den Autofahrern auf Parkplätzen ein, das sie dann an
       freiwillige Helfer*innen weitergaben.
       
       Wenn es dunkel wird, werden die Kinder ins Bett geschickt und draußen sind
       die Gespräche ihrer Eltern zu hören. Wer genau hinhört, bekommt mit, dass
       der durchschnittliche Ukrainer mittlerweile mit allen Arten russischer
       Raketen, der ukrainischen Luftverteidigung und den politischen
       Konfrontationen in den USA, Deutschland und Großbritannien bestens vertraut
       ist.
       
       Den Menschen in der Ukraine ist auch klar, was der frühere russische
       Präsident [4][Dmitri Medwedjew] am Morgen wohl getrunken hat. Er versetzt
       in seinen unsäglichen Tweets – zum Beispiel, wenn er mit einem Atomkrieg
       droht – die Welt oft genug in Angst und Schrecken. Je näher der Herbst
       rückt, desto verstörender werden die Gespräche der Erwachsenen – über eine
       Mobilisierung und mögliche neue Angriffe auf den ukrainischen
       Energiesektor.
       
       Im Sommer kämpft die Natur mit den Geräuschen des Krieges. Es ist gar nicht
       so lange her, dass sich ein Storchenpaar für längere Zeit ganz in unserer
       Nähe nieder ließ. Im ersten Kriegsjahr fiel uns nicht sofort auf, dass die
       beiden im Frühjahr nach Hause zurückgekehrt waren. Dann, mit großer Sorge,
       verabschiedeten wir sie in wärmere Gefilde. Würden sie in ein vom Krieg
       zerrüttetes Land zurückkehren?
       
       Wie groß war die Freude, als wir die zwei weißen Köpfe mit den roten
       Schnäbeln in ihrem Nest wieder sahen. In diesem Sommer ist es wieder
       passiert: Unsere „Freunde“ haben ihren beiden Küken das Fliegen
       beigebracht. Die Störche kreisten um das Haus und gaben fröhliche Laute von
       sich. Auch wir haben etwas gelernt! Diese Geräusche, wie auch das Grollen
       ukrainischer Flugzeuge am Himmel, haben etwas Beruhigendes. Die Störche,
       aber auch unsere Piloten lassen uns auf den Sieg hoffen, sie bringen ihn
       uns näher.
       
       Aus dem Russischen: Barbara Oertel
       
       23 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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