# taz.de -- Comic „Berichte aus der Ukraine“: Butscha im Schnee
       
       > Der Comiczeichner Igort erzählt in seinen Zeichnungen vom düsteren Alltag
       > in dem Land. Auch das Schicksal russischer Soldaten kommt darin vor.
       
 (IMG) Bild: Düsteres Poem in Erdtönen: „Berichte aus der Ukraine 2“
       
       Tetianas Geschichte, zu Beginn der Invasion. In Charkiw bricht sie mit
       ihren drei Kindern mitten in der Nacht auf, um im Auto aus dem Land zu
       fliehen. Der Wagen bleibt liegen, es geht schließlich zu Fuß weiter, durch
       die Steppe.
       
       Sie treffen andere Flüchtlinge, suchen einen Unterstand für die Nacht,
       kommen jedoch kaum zum Schlafen, da immer wieder Gefechte und Bombenhagel
       zu hören sind.
       
       Die Perspektive Tetianas ist nur eine von vielen, die der italienische
       Comiczeichner Igort dokumentiert hat und die nun im Band „Berichte aus der
       Ukraine – Tagebuch einer Invasion“ gesammelt vorliegen. Seine
       Illustrationen zu Tetianas Flucht aus Charkiw fallen dunkel und schemenhaft
       aus.
       
       Igort zeichnet Umrisse eines beschossenen Autos mit Scheinwerfern in der
       Ferne, ansonsten schwarze Nacht, nur aufgehellt durch wiederkehrende
       Einschläge und Lautmalereien („Ka-Pow“, „Boummm“). In einem Panel wird die
       in Decken gehüllte Flüchtlingsfamilie dadurch kurz erkennbar. Die Gesichter
       der Kinder sind von Angst gezeichnet, ihre Körper zusammengekauert.
       
       ## Historische Wunden
       
       Es ist nicht die erste künstlerische Begegnung Igorts (bürgerlich: Igor
       Tuveri) mit der Region: In den frühen 2000er Jahren lebte der 1958 geborene
       Comiczeichner (unter anderem [1][„Berichte aus Japan“,] „5 ist die perfekte
       Zahl“) zwei Jahre lang in der Ukraine. 2010 veröffentlichte er eine erste
       Sammlung von „Berichten aus der Ukraine“, [2][in denen er die
       postsowjetische Epoche vielschichtig anhand von Einzelschicksalen
       festhielt.] Auch ging er auf die historischen Wunden in der Region intensiv
       ein, etwa auf den Holodomor, die große Hungersnot Anfang der 1930er Jahre.
       
       Als er den Ausbruch des jetzigen Kriegs am 24. Februar 2022 von seinem
       Wohnort Bologna aus erlebte, griff er umgehend zum Telefon, um über seine
       dort lebenden Freunde, Bekannte und Verwandte seiner ukrainischen Frau
       Galya Semeniuk Informationen direkt aus dem Kriegsgebiet zu erhalten. Die
       Transkriptionen dieser Gespräche bildeten die Grundlage für seine
       handschriftlichen Berichte und die Comicsequenzen. Zwischendurch streut
       Igort immer wieder Berichte ein, die ihm bereits 2014 zugetragen wurden,
       als die Ostukraine angegriffen wurde.
       
       Orte, die mittlerweile Symbolcharakter haben, verarbeitet er subtil: Die
       von russischen Soldaten massakrierten Einwohner Butschas hat jeder
       Fernsehzuschauer in dutzendfacher Wiederholung gesehen. Stattdessen
       zeichnet Igort schemenhafte Umrisse der Leichen unter rieselndem Schnee und
       setzt einen lebenden Hund daneben, der geduldig auf etwas zu warten
       scheint.
       
       ## Bräunlich-erdige Farbtöne
       
       Dem Zeichner gelingt es so auf behutsame Weise, in bräunlich-erdigen
       Farbtönen das düstere Poem eines geschundenen Landes zu zeichnen. Während
       die meisten Bildmedien vorwiegend die urbanen Zerstörungen dokumentieren,
       erfährt man nur wenig von den individuellen Schicksalen der Betroffenen,
       die dem Comiczeichner am Herzen liegen.
       
       Mitunter geht er analytisch vor und bezieht sich tiefer auf die Geschichte.
       Worauf fußt etwa [3][Putins immer wieder bemühtes Propaganda-Narrativ] von
       „nationalistischen Ukrainern“ oder gar Nazis? Der Zeichner porträtiert dazu
       eine umstrittene historische Figur, den ukrainischen Ultranationalisten
       [4][Stepan Bandera], der während des Zweiten Weltkrieges zeitweise die
       Nazi-Besatzer als geringeres Übel empfand als die (die Ukraine
       unterwerfenden) Sowjets.
       
       Auch das Schicksal russischer Soldaten beleuchtet Igort, wie das des aus
       Sibirien stammenden Marinesoldaten Evgenij im Jahr 2014. Er will zeigen,
       dass schon damals nicht alle Soldaten die Aggression gegen die Ukraine
       unterstützten. Als Berufssoldat erlebte Evgenij den beginnenden Krieg in
       der Ostukraine mit und sah all seine Freunde im Kampf gegen die
       „ukrainischen Brüder“ sterben.
       
       ## „Sich wie eine Ratte verstecken“
       
       Er beschloss, den Dienst zu quittieren. Kurz darauf wurde er offiziellen
       Berichten zufolge von einem Militärlaster angefahren und starb. Etwas
       später brachte eine russische Bloggerin ans Licht, das er bereits zuvor
       ermordet worden war.
       
       Die meisten Episoden widmet Igort jedoch einfachen Menschen aus der
       Ukraine, wie der 83-jährigen Anya aus Rivne, die ihre Söhne im Keller
       versteckt, während sie selbst sich weigert, sich dort „wie eine Ratte zu
       verstecken“. Es ist die Authentizität ebenjener Augenzeugenberichte, dieser
       persönlichen Einblicke in ein angegriffenes Land, die den Leser von Igorts
       „Tagebuch einer Invasion“ gefangen nimmt.
       
       Igort ist nicht der einzige Comiczeichner, der sich für die ehemaligen
       Sowjetstaaten interessiert. Der französische Newcomer Pierre-Henry Gomont,
       Jahrgang 1978, findet in den Wirren der 1990er Jahre kurz nach dem Fall der
       Sowjets den geeigneten Humus für „Die neuen Russen“, eine neue Comicreihe
       um eine Handvoll Lebenskünstler in dieser Übergangszeit.
       
       Im Vorwort des im Hamburger Verlag Schreiber & Leser erschienenen Bandes
       stellt der Zeichner klar, seine Geschichte bereits lange vor dem aktuellen
       Krieg konzipiert zu haben. Gomont faszinierte die Ära Jelzin, in der „ein
       Volk von der Weltgeschichte in die Mangel genommen“ wurde.
       
       Die beiden Freunde Slava – ein desillusionierter Kunstmaler – und Lawrin –
       ein „kreativer“ Schmuggler – versuchen, aus kleinen Gaunereien großen
       Profit zu schlagen. Diesmal versuchen sie, das Inventar aus alten
       Sowjetpalästen im Kaukasus auszubauen und anschließend zu verscherbeln.
       
       ## Der Typ des „neuen Oligarchen“
       
       Doch ihr Plan misslingt, und bald machen sie Bekanntschaft mit arbeitslosen
       Bergarbeitern und dem Typus des „neuen Oligarchen“, der gerne aus
       heruntergewirtschafteten Bergwerken Kapital schlagen will. Die ebenfalls
       aus der Region stammende smarte Nina hilft den beiden Fremden öfters aus
       der Patsche.
       
       Der erste Band der sozialkritischen Thrillerreihe „Die neuen Russen“ nennt
       sich „Nach dem Fall“ und führt anschaulich und amüsant in die
       Post-Sowjet-Ära ein, als die sozialistische russische Wirtschaft langsam
       vom Heuschreckenkapitalismus ersetzt wurde. Er lebt von liebevoll
       angelegten, tragikomischen Charakteren und cartoonesken Übertreibungen. Ein
       fast unbeschwerter Lesespaß, wenn da nicht die düstere Wirklichkeit wäre,
       die wiederum zurück zu Igorts eindringlicher Comicreportage führt. Quo
       vadis, Russland?
       
       12 Jun 2023
       
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