# taz.de -- Grenzfluss zwischen Estland und Russland: Der Wind bringt Sowjetschlager
       
       > Der Fluss Narwa trennt Estland und Russland voneinander. Entsprechend
       > unterschiedlich wird an beiden Ufern der „Tag des Sieges“ begangen. Ein
       > Besuch.
       
 (IMG) Bild: Nachricht an die russische Seite: Das Banner hängt an der Festungsmauer in Narwa
       
       Narwa taz | Wenn eine Windböe ungünstig von Ost nach West weht und
       „Katjuscha“ und andere Sowjetschlager vom russischen Ufer rüberschallen,
       versteht man sein eigenes Wort kaum. „Dieses Jahr haben sie wirklich ein
       Budget!“, sagt David, Journalist der größten estnischen Zeitung, Postimees.
       Er berichtet jedes Jahr darüber, wie die russischstämmigen Est:innen den
       9. Mai feiern – besonders seit dem 24. Februar 2022 von vielen Est:innen
       misstrauisch beobachtet.
       
       Dieses Misstrauen gegenüber der russischsprachigen Minderheit richtet sich
       vor allem auf die Grenzstadt Narwa. Hier verdichtet sich das Zeitgeschehen.
       Mit 90 Prozent hat die 56.000-Einwohner-Stadt den größten Anteil an
       russischsprachigen Menschen in der EU. Nur der gleichnamige Fluss Narwa
       trennt sie von ihrer russischen Zwillingsstadt Iwangorod. Zwei gewaltige
       mittelalterliche Festungen erheben sich auf beiden Seiten. Nur die
       Niemandslandbrücke verbindet sie und vervollständigt das Bild der
       ultimativen Grenzstadt.
       
       Auf dem jenseitigen Ufer wurden dieses Jahr [1][zum 9. Mai] zum ersten Mal
       eine große Bühne und eine Leinwand aufgebaut, beide eindeutig nach Estland
       gerichtet. Der Subtext: Das hier geht an unsere unterdrückten Landsleute in
       der Europäischen Union.
       
       Die Stadtverwaltung in Narwa hat im Gegenzug an der Festungsmauer ein
       großes Plakat aufgehängt, das einen blutverschmierten russischen
       Präsidenten zeigt: „Putin, [2][War Criminal]“. Dieser Kontrast lässt den
       Kitsch auf der anderen Seite noch kitschiger wirken. Auf der Leinwand in
       Iwangorod laufen alte Propagandafilme, auf der Bühne führen gelegentlich
       ein paar Leute eine kuriose Tanzchoreografie auf. Den ganzen Tag dröhnen
       Filmdialoge und Musik, überlagern sich zum Teil zum unerträglichen Lärm. Am
       Vormittag, sagt ein anderer Journalisten-Kollege, hätten sich auf Anfrage
       von russischer Seite die Grenzsoldaten beider Länder in der Mitte der
       Brücke getroffen. Die Russen hätten gefordert, dass man das
       Anti-Putin-Plakat sofort abnehmen solle, die Esten hätten sich natürlich
       geweigert und man sei wieder auseinandergegangen. Alles zum immer wieder
       unerträglichen Lärm von Filmdialogen und Musik, die sich immer wieder
       überlagern.
       
       ## „Diese komische Show interessiert hier keinen“
       
       Andrej, 35, sonnengebräuntes Grinsen hinter der schnellen Sonnenbrille,
       findet das alles ganz toll, es fühle sich an wie sein Geburtstag. Später am
       Abend wird er sich zusammen mit seiner Mutter die große Show ansehen –
       Livemusik soll es da geben und eine Übertragung der Parade in Moskau. Er
       ist in Sankt Petersburg geboren und hat inzwischen die estnische
       Staatsbürgerschaft. Gefragt nach dem Plakat an der Festung sagt er: „Das
       Plakat ist eine Lüge, Putin ist ein guter Mann!“ Jeder hier in Narwa denke
       so, erklärt Andrej.
       
       Das sehen Maria, 15, und Martin, 17, russischsprachige Est:innen, anders:
       „Diese komische Show interessiert hier keinen. Uns auf keinen Fall.“ Bis
       maximal 150 Menschen, vor allem ältere, kommen später zusammen, wenn die
       Liveübertragung beginnt. Vladislav, 27, ist sich sicher: „Die wenigen, die
       heute ihrer Sowjetnostalgie frönen oder sogar Putin unterstützen, würden
       niemals zu Russland gehören wollen. Sie wissen es: In der EU zu leben hat
       Vorteile.“ Alle drei sehen sich eindeutig als Est:innen.
       
       Mittlerweile fängt auf der anderen Seite eine durchaus aufwendige Show mit
       Statisten in alten Sowjet-Uniformen und Trachten an, hier und da wird am
       diesseitigen Ufer Wodka ausgepackt. Ein paar klatschen und grölen zur
       russischen Seite hinüber, als sie über Lautsprecher offiziell begrüßt
       werden und ihnen ein fröhlicher Tag des Sieges gewünscht wird. Es ist hier
       jetzt doch ziemlich voll geworden, während am russischen Ufer deutlich
       weniger Zuschauer zu sein scheinen. Auf estnischer Seite patrouilliert
       immer mehr schwer ausgerüsteter Polizei.
       
       Symbole und Äußerungen, die eine Unterstützung Putins und seines
       Angriffskriegs darstellen, sind verboten worden. Ein paar wenige junge
       Menschen, die sich, wie Eva, 23, mit Ukraine-Fahnen an die Uferpromenade
       gewagt haben, werden immer wieder angepöbelt. „Es ist absurd, was hier
       passiert! Gerade eben hat einer der Sänger aufgefordert, den Gefallenen
       russischen Soldaten in der Ukraine zu gedenken, ein anderer hat was von
       „Putin, mein Präsident“ geredet,“ sagt sie. Dann: „Russland ist das beste
       Land der Welt!“ Jedes Mal haben nicht wenige der mittlerweile grob
       geschätzten 2000 gejubelt. „Die Hirne der Leute hier sind seit Jahren von
       der Fernsehpropaganda aus Russland weichgekocht worden.“ Zwar ist seit gut
       einem Jahr russisches Fernsehen in Estland verboten, aber viele umgehen das
       mit Satellitenschüsseln.
       
       Aber unabhängig davon, ob diese Jubler heute am Ufer der Narva gemessen an
       der gesamten russischsprachigen Bevölkerung nur wenige sein mögen – das
       Kalkül der russischen Propaganda ist sicher zum Teil aufgegangen, wenn das
       Ziel war, Uneinigkeit, Vorurteile und Misstrauen in Estland zu vermehren.
       Als das Licht abendlicher wird und die ersten Familien das Ufer verlassen,
       seufzt David, der Journalisten-Kollege: „Was mich heute besonders gewundert
       hat, war, wie ernst und angespannt alle waren.“ Vor dem Ukraine-Krieg sei
       der 9. Mai immer ein Freudenfest gewesen.
       
       10 May 2023
       
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