# taz.de -- Nach Zug-Tragödie mit 57 Toten: Griechenland droht politisches Patt
       
       > Das Zugunglück setzt die Regierung von Mitsotakis vor der Parlamentswahl
       > unter Druck. Oppositionschef und Ex-Premier Tsipras profitiert nicht
       > davon.
       
 (IMG) Bild: Tausende demonstrierten in den letzten Wochen vor dem griechischen Parlament nach dem schweren Zugunglück im Tempital in der Nacht zum 1. März
       
       Athen taz | In seiner zur Neige gehenden Amtszeit hat sich Griechenlands
       konservativer Premierminister Kyriakos Mitsotakis, 55, nicht gerade mit
       Ruhm bekleckert. Im Gegenteil: ein hierzulande desaströses
       Coronapandemie-Management, explodierende Preise, Hellas' Absturz auf Platz
       108 in der Weltrangliste der Pressefreiheit, ein [1][gewaltiger Athener
       Abhörskandal] und nun [2][ein Frontalzusammenstoß zweier Züge] im
       zentralgriechischen Tempital mit 57 Toten: Eigentlich müsste der Athener
       Oppositionschef und Ex-Premier [3][Alexis Tsipras] (48) vom „Bündnis der
       Radikalen Linken“ (Syriza) allerbeste Chancen auf einen neuerlichen
       Wahltriumph zu Füßen der Akropolis haben.
       
       Mitnichten. Insgesamt fünf jüngsten Umfragen von führenden Athener
       Meinungsforschungsinstituten zufolge, die allesamt nach der Zugtragödie im
       Tempi-Tal durchgeführt worden sind, vereint Syriza in der Sonntagsfrage
       lediglich 20,5 bis 26 Prozent der Stimmen auf sich. Damit liegt Syriza 2,5
       bis 5,8 Prozentpunkte hinter der weiter führenden Nea Dimokratia (ND) unter
       Premier Mitsotakis.
       
       Tsipras und Co. liegen damit unter ihren Ergebnissen der letzten drei
       Parlamentswahlen in Griechenland. Bei dem ersten Wahlsieg im Januar 2015
       kam Syriza auf 36,34 Prozent. Bei den Urnengängen im September 2015
       (Wiederwahl) holte Syriza 35,46 Prozent, im Juli 2019 (Abwahl) immerhin
       noch 31,53 Prozent der Stimmen.
       
       Seit Anfang 2016 führt Mitsotakis die ND. Seither liegt die ND unter seiner
       Ägide in mittlerweile kumuliert Hunderten Umfragen zahlreicher
       Meinungsforschungsinstitute unangefochten vor dem Verfolger Syriza. Weshalb
       ist das so? Wieso kann Tsipras und seine Syriza nicht wieder die Mehrheit
       der Griechinnen und Griechen für sich gewinnen?
       
       Die drei „M“ 
       
       Die Gründe dafür sind die drei „M“. Alle stammen aus der Amtszeit der
       Regierungen Tsipras von Anfang 2015 bis Mitte 2019. Das erste „M“ steht für
       die Orte Mandra und Mati. Mandra, eine Industriestadt im Westen vom
       Großraum Athen, wurde von einer verheerenden Flutkatastrophe mit zwei
       Dutzend Toten heimgesucht. Mati, ein beliebter Ferienort im Osten Attikas,
       legte eine Feuerwalze in Schutt und Asche. 103 Menschen starben auf
       qualvolle Weise. Auch dies ein unglaubliches Staatsversagen – ein tiefer
       Schock für die eigentlich chronisch leidgeprüften Griechen. Er sitzt noch
       immer tief.
       
       Das zweite „M“ steht für Mittelschicht. Um wie von Griechenlands
       öffentlichen Kreditgebern EU, EZB und IWF gefordert ein Haushaltsplus zu
       erreichen, [4][schröpfte Tsipras ausgerechnet die Mittelschicht] oder das,
       was nach einem rigorosen Sparkurs der Vorgängerregierungen im Zuge der
       Schuldenkrise in Athen noch davon verblieben war, in einem nie dagewesenem
       Ausmaß, anstatt die Reichen und Superreichen in Griechenland endlich zur
       Kasse zu bitten. Da die Reichen und Superreichen auch zu Füßen der
       Akropolis nur wenige sind, die Wähler aus der verarmten Mittelschicht dafür
       umso mehr, hat dies für Tsipras bis heute fatale politische Folgen.
       
       Das dritte „M“ steht schließlich für die Makedonien-Frage. Die Regierung
       Tsipras löste zwar den jahrzehntelangen Namensstreit mit dem nördlichen
       Nachbarland, das heute Nordmazedonien heißt. Das von der Regierung Tsipras
       mit der Regierung in Skopje geschlossene „Prespa-Abkommen“, benannt nach
       dem See, der zwischen beiden Ländern liegt, stieß und stößt in Griechenland
       auf eine breite Ablehnung in der Bevölkerung. Trotz Massenprotesten auf der
       Straße und klarer Umfrageergebnisse gegen das Abkommen peitschte der linke
       Tsipras das heikle Abkommen vor allem auf Geheiß der USA ausgerechnet unter
       dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump durch das Athener Parlament.
       
       Fest steht: Alle drei „M“ haben sich mit Blick auf Tsipras und sein
       politisches Handeln als Regierungschef tief in das kollektive Gedächtnis
       der Griechen eingegraben. Tsipras ist für viele Griechen bis heute schlicht
       unwählbar geworden – der nationalen Tragödie in Tempi zum Trotz. Stichwort:
       toxischer Tsipras.
       
       Tsipras will mit Pasok koalieren 
       
       Dennoch fordert Syriza-Chef Tsipras seit Dezember 2021 unbeirrt vorgezogene
       Neuwahlen in Griechenland. Ohne Erfolg. Premier Mitsotakis lässt sich nun
       hingegen – nicht zuletzt nach dem Massentod in Tempi – viel Zeit mit dem
       Urnengang. Laut griechischem Gesetz hat der Premier das alleinige Recht,
       den genauen Wahltermin zu bestimmen. Die Parlamentswahlen haben turnusgemäß
       spätestens im Juli dieses Jahres stattzufinden.
       
       Trotz der ernüchternden Umfrageergebnisse hofft Tsipras darauf, die
       Regierung Mitsotakis nach den nächsten Wahlen doch ablösen zu können. Er
       setzt darauf, dass beim kommenden Urnengang in Athen erstmals ein
       Verhältniswahlrecht nach deutschem Vorbild gilt. Tsipras' Ziel ist es, eine
       „fortschrittliche Koalitionsregierung“ zu schmieden, um so die Regierung
       Mitsotakis zu stürzen, wie er immer wieder betont. Sein Lieblingspartner:
       die Pasok-Sozialisten.
       
       Der Haken daran: [5][Die ehemals omnipotente Pasok] kommt laut Umfragen auf
       rund 10 Prozent der Stimmen. Für eine Regierungskoalition mit Syriza würde
       das aller Voraussicht nach nicht reichen, sollten Tsipras und Co. in der
       Wählergunst nicht noch mächtig zulegen. Und die aktuell drei übrigen
       Oppositionsparteien? Die nationalkonservative „Griechische Lösung“, die
       linke „Mera25“-Partei unter Ex-Finanzminister Janis Varoufakis sowie die
       Kommunistische Partei (KKE) – fallen aus unterschiedlichen Gründen als
       potenzielle Regierungspartner für Tsipras' Syriza aus. Doch auch
       Mitsotakis' erklärtes Ziel, weiter alleine in Athen zu regieren, ist nach
       der Tragödie in Tempi in weite Ferne gerückt. In Griechenland droht nun ein
       politisches Patt.
       
       20 Mar 2023
       
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 (DIR) Ferry Batzoglou
       
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