# taz.de -- Eine russische Weihnachtsgeschichte: Selenskis Tränen
       
       > Fjodor plagen Kopfschmerzen, wenn er an die Spezialoperation denkt. Und
       > Onkel Wanja hat ein Z an seinem Gehstock.
       
 (IMG) Bild: Unaufhaltsam rollt der Sowjetexpress: Der Zug von Väterchen Frost kommt in Omsk an
       
       Bald ist Neujahr und Weihnachten. Millionen Menschen in Russland werden
       Bäume mit Lichterketten und rotem Stern in ihren Wohnzimmern aufstellen.
       Sie werden Freunde und Familie einladen und gemeinsam nostalgische
       Festtagsgerichte der sowjetischen Küche genießen, sich mit Krim-Nasch-Sekt
       zuprosten und einander liebevoll verpackte Geschenke überreichen. Heute
       begleitet unser Kamerateam eine kinderreiche Familie aus Mariupol auf ihrem
       Sonntagsbummel durch das festlich geschmückte Sankt Petersburg.“
       
       Fjodor blickt beim Wort Mariupol von seinem Teller auf. Die Kamera zeigt
       den zugeschneiten Palastplatz und eine Schar Kinder in quietschbunten
       Daunenjacken, die einander mit Schneebällen bewerfen. Er verzieht das
       Gesicht. Seit heute früh plagen ihn seltsame Kopfschmerzen. Seltsam, weil
       sie ihm bis in die Zahnkronen, bis in die Zungenspitze ausstrahlen. Immer
       wieder glaubt er etwas zu denken, was sich falsch und fremd anfühlt, lauter
       Unsinn, über den er sich gleichzeitig ärgert.
       
       Es ist, als sabotiere etwas seine innere Stimme. Hallend und kalt wie die
       Ansagen in einer Bahnhofshalle kommen die Gedanken. Eben hat er sich über
       den Z-Aufkleber an Onkel Wanjas Gehstock aufgeregt, und sofort begann ihm
       der Kopf zu pochen. Er spürte dieses Wimmeln von Sätzen, sie kitzelten
       seine Nase, seine Zungenspitze. Er musste sich sehr beherrschen, um den
       fast achtzigjährigen Onkel beim Kuss auf die graue Stoppelwange nicht
       „Heuchlerarsch“ zu nennen. Waren das vielleicht die Gewürze in meiner
       Pekingente, irgendwelche faulen Shitake-Pilze?, denkt Fjodor.
       
       Polina, seine Haushälterin, die immer noch dampfende Schüsseln aus der
       Küche bringt, wirft ihm einen besorgten Blick zu. Sie weiß, dass es ihm
       nicht gutgeht. Seit einigen Monaten nimmt er Antidepressiva. Könnten die
       Tabletten für seine Kopfschmerzen verantwortlich sein? Vielleicht ist die
       Kombination mit dem Blutdrucksenker das Problem. Fjodors Autowerkstatt ist
       sein Sorgenkind. [1][Wegen Sanktionen] kommt er immer schlechter an
       Ersatzteile für ausländische Wagenmodelle. Immer wieder bekommt er
       Fälschungen geliefert. Irgendeinen chinesischen Schrott.
       
       ## „Dein Problem ist nicht die Spezialoperation“
       
       Lew rät ihm zu einer Psychotherapie, er würde ihm auch eine gute Fachfrau
       empfehlen. Eine Kollegin. „Dich kann ich leider nicht übernehmen. Friends
       und Family sind in unseren Kreisen tabu. Ich kann aber jetzt schon eines
       sagen: Dein Problem ist nicht [2][die Spezialoperation] und dass du kein
       Vertrauen in unsere Außenpolitik hast, sondern deine tieferen Schichten,
       das Unbewusste. Da nimmt dein Bächlein seinen Lauf.“
       
       Der uralte und unverwüstliche Onkel Wanja, der die längste Anreise hatte,
       brachte ein Gastgeschenk mit. Er stellt einen Wodka auf den Tisch –
       „[3][Selenskis Tränen]“. „Was? Wo hast du den her?“ „Aus dem
       Bahnhofskiosk. Wieso?“ Onkel Wanja blickt erschrocken über die
       Brillengläser hinweg. Sein Teint wirkt eine Nuance grauer. „Entschuldige,
       ich wollte etwas ganz anderes sagen. Ich meine, es war wirklich nicht
       nötig.“ „Eigentlich schwebte mir eine Stange Belomor vor, im Andenken an
       deinen Vati, aber dann bin ich über diesen Namen gestolpert. ‚Selenskis
       Tränen‘. So lustig. Darauf wäre ich nie im Leben gekommen.“
       
       ## Selenskis Tränen verbrennen die Kehle
       
       Fjodor kämpft schweigend mit sich selbst. Dann holt er drei Schnapsgläser
       in Stiefelform aus dem Schrank: „Zum Wohle!“ „Selenskis Tränen“ verbrennen
       ihm die Kehle. Gut, dass er schon vorher etwas gegessen hat. Lew, Fjodors
       Kindergartenfreund, auch Witwer, fragt, ob jemand etwas dagegen habe, wenn
       er rauche, und ohne die Antwort abzuwarten, schiebt sich eine Zigarre in
       den krausen Bart. Dann wendet er sich an Wanja. „Was macht der Garten, die
       Kirschbäume?“ „Weißt du, Lew Nikolajewitsch, ein Mann in meinem Alter …“,
       und statt die Frage zu beantworten, beginnt Wanja mit leiser Stimme seine
       chronischen Krankheiten aufzuzählen.
       
       Bei den Gallensteinen schlägt er einen Bogen zur Politik. „Wenn meine
       Gesundheit es mir erlauben würde, wäre ich mit meiner Spitzhacke und
       Gitarre längst im Schützengraben. Mit meinem Instrument könnte ich die
       Moral der Burschen etwas ankurbeln, denn so wie die Spezialoperation
       verläuft, ich meine, was denken sie sich im Kreml? Wenn es so weitergeht,
       tanzen uns bald die Ukrainer den Hopak auf dem Roten Platz. Von der Warte
       meiner Jahre kann ich ruhigen Gewissens behaupten …“
       
       ## Jetzt Partnerstädte
       
       Fjodor steht vom Tisch auf und steckt sich eine Salzstange in den Mund. Der
       Drang, um sich zu spucken, trübt ihm fast die Sicht. An der Salzstange
       knabbernd, beginnt er entlang der Wände seiner Bibliothek zu wandern. Er
       tut so, als wäre er Gast in seinem eigenen Haus und betrachtet mit
       gespielter Neugierde die Buchrücken. So beruhigt er sich ein wenig. Als
       seine Frau noch am Leben war, holte sie die Bücher alle paar Jahre aus den
       Regalen und staubte jedes einzelne Buch gründlich ab. Vor allem die
       russischen Klassiker: Puschkin, Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Achmatowa.
       Er machte immer Witze über diese Arbeit, doch heimlich bewunderte er sie
       für ihre Ordnungsliebe, ihre Selbstbeherrschung, dass sie morgens in aller
       Früh aufstand und draußen auf der Terrasse ihren Sport machte.
       
       Er setzt sich wieder an den Tisch und widmet sich dem Oliviersalat. Seine
       Frau hätte ihn selbst gemacht und nicht gekauft. Die Familie aus Mariupol,
       die Kinder im Hüpfschritt, nähern sich inzwischen einer Installation. Dass
       sie jemals auf dem Palastplatz vor der Eremitage gestanden hat, kann sich
       Fjodor nicht erinnern. Eine Personalunion aus zwei in einander verhakten
       Metallherzen. Schön kitschig, findet er, wie der Schmuck einer
       Hochzeitstorte aus den 90ern. „[4][Mariupol und Sankt Petersburg sind
       Partnerstädte geworden]“, erzählt die Stimme im Hintergrund.
       
       „Muss das sein? Als hätten wir nicht genug andere Sorgen, werden sich
       manche unserer liberalen Mitbürger gerade denken. Doch es gibt vieles, was
       die beiden Städte verbindet.“ „Was zur Hölle!“, ruft Fjodor mit vollem
       Mund. „Partnerstädte?“ „Sankt Petersburg ist eine Stadt mit tragischem
       Schicksal“, fährt die Moderatorin fort. „Erbaut in einem sumpfigen Gelände
       innerhalb einer kurzen Frist …“ „Partnerstädte! Habt ihr das gewusst?“ Er
       wendet sich an seinen Onkel und Lew, doch die beiden schauen sich lächelnd
       irgendwelche spannenden Fotos in Wanjas Smartphone an.
       
       ## „Leningrads Heldentat“
       
       „… Und dann ein zweites Mal bei der Belagerung der Stadt. Leningrads
       Heldentat zu vergessen ist unmöglich. Genauso wie das Leiden der Einwohner
       von Mariupol, einer Stadt, welche die letzten Jahre unter dem Joch von
       Neonazis gestanden hat. Auf ihrem Rückzug haben die Ukrofaschisten Mariupol
       buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht.“
       
       „Schmeckt es? Sind sie noch warm?“, fragt Polina mit zärtlicher Stimme und
       meint ihre Blinis mit Quark. „Das geht dich nichts an!“, bellt Fjodor und
       ruft ihr hinterher: „Du Antiheldin!“ Onkel Wanja kichert, allerdings nicht
       über Fjodor. „Hühnergold heißt der Mineralstein. Da sind alle wichtigen
       Spurenelemente drin, Körner, Rosinen, die Hühner sind verrückt nach ihm,
       schau da, wie die Kleine pickt. Und das ist meine Lieblinghenne …“ Polina
       scheint gerade die Eingangstür hinter sich geschlossen zu haben. Leise, wie
       es ihre Art ist, in Fjodors Wohnung zu putzen. Mit der größten Anstrengung
       seines Willens hebt Fjodor seinen rechten Arm.
       
       Die Flasche mit „Selenskis Tränen“ fühlt sich an, als wöge sie zehn Kilo.
       Er schenkt sich nach, stopft sich einen ganzen Blini in den Mund. „Ist es
       unsere Pflicht, dieser Stadt zu helfen? Die Antwort liegt auf der Hand,
       denn die in den Kellern zerstörter Häuser ausharrenden Menschen begrüßten
       unsere Soldaten mit Tränen der Freude.“ Kauend schaut Fjodor der Familie
       aus Mariupol beim Fotografieren zu. Die Mutter, eine hübsche, zierliche
       Frau mit Pudelmütze, trägt Lidschatten, die wie Diamantenstaub glitzern.
       Sie lächelt in die Kamera, eingehakt bei ihrem dicklichen, ebenso
       lächelnden Mann, der die Installation mit seinem Handrücken streichelt.
       Ihre vier Kinder bilden einen Halbkreis um sie.
       
       Und plötzlich weiß er es. Er weiß, dass er träumt. Fjodor hatte schon
       ähnliche Albträume früher als Kind. Das Aufwachen gelang ihm nur dann, wenn
       er im Traum von seinem gewöhnlichen Benehmen abwich und etwas Verrücktes,
       etwas Herausragendes machte. Die Kopfschmerzen, das bin ja ich selbst, mein
       wahres Ich, und das hier ist nur mein Doppelgänger, mein Gespenst.
       
       „Gibt es draußen noch etwas Sülze?“
       
       „Natürlich. Ich hole sie. Ich hole sie gleich.“
       
       Fjodor Michailowitsch steht auf, geht grinsend in die Küche und öffnet
       seine Besteckschublade.
       
       „Ringel, Ringel, Ringelein, welche Waffe darf es sein?
       
       25 Dec 2022
       
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